Kapitel 15

»Das ist nicht gut.«

Am Montagmorgen drängen Saks, Perry und ich uns am See – beziehungsweise am loch – hinter der Schule dicht aneinander, weil es so kalt ist. Normalerweise drehen wir um diese Zeit unsere Runden, doch heute Morgen kam die Order, uns am Ufer zu versammeln.

Am Strand liegen mehrere leuchtend bunte Holzboote, die Ruder sind waagrecht darüber gelegt, ich kann mir ungefähr vorstellen, worin die körperliche Ertüchtigung heute bestehen wird.

Und da kommt auch schon Dr. McKee und stellt sich vor uns. Sie trägt einen langweiligen grünen Trainingsanzug mit dem Gregorstoun-Wappen auf dem Herzen. Ihre Haare sind zu einem hoch angesetzten Pferdeschwanz zusammengebunden, ihre Wangen sind rosig von der Kälte und vermutlich auch vor Aufregung. Um ihren Hals hängt eine silberne Pfeife, sie wippt auf den Fußballen hin und her.

»Guten Morgen!«, ruft sie. »Heute haben wir eine Belohnung für Sie!«

»Das ist keine Belohnung«, sagt Saks leise und etwas aufsässig. »Diese Boote sind das Gegenteil von Belohnung. So ungefähr wie bei Halloween. Diese Boote sind –«

»Saures?«, biete ich an. Saks mustert mich und verschränkt die Arme.

»Ich wollte gerade ›saure Gurken‹ sagen, aber ja, Saures trifft die Sache eher.«

»Was sollen denn saure Gurken damit zu tun haben?«, hake ich nach, aber Saks sieht gerade zu Dr. McKee, die auf die Boote zeigt.

»Wie Sie wissen«, sagt sie, »sind es bis zur Challenge nur noch ein paar Wochen. Betrachten Sie das hier als Probelauf. Sie werden mit Ihrer Mitbewohnerin ein Team bilden, und wer es als Erster über den See und zurück schafft, hat gewonnen.«

Puh. Mit Flora ein Boot rudern?

Als ich mich nach ihr umdrehe, steht sie wenig überraschend zwischen Caroline und Ilse, alle drei schaffen es, ihre Gregorstoun-Trainingsanzüge besser aussehen zu lassen, als sie sollten.

In diesem Moment tritt Mr McGregor vor. Er trägt seine übliche Uniform aus dickem Pulli und Hosen in einer undefinierbaren Farbe, die weißen Haare stehen ihm buschig um den Kopf, sein Bart sieht an diesem Morgen besonders dicht aus.

»Und die Gewinner dieses Wettkampfes«, er wuchtet eine reichverzierte Holzschatulle hoch, »werden die hier bekommen.«

Er öffnet einen Riegel und zum Vorschein kommen –

»Antike Duellpistolen, die in der Familie McGregor seit –«

»Ohhhh nein«, sagt Dr. McKee und geht mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. »Nein, nein, nein, die wird keiner gewinnen, Mr McGregor, auch wenn sie … bestimmt wertvoll sind.«

Mr McGregors Augenbrauen entwickeln ein Eigenleben, als er sie finster ansieht, aber er klappt die Schatulle mit einem leisen Brummen zu.

»Nein, die Gewinner«, sagt Dr. McKee nun mit lauterer Stimme, »erhalten ein Gratisessen im Bay-View-Restaurant im Dorf.«

»Die Pistolen sind vermutlich weniger tödlich«, murmelt Perry neben mir.

Ich will weder ein Abendessen im Restaurant noch zwei antike Pistolen gewinnen, aber ich gewinne gern aus Prinzip; als Mr McGregor die ebenfalls antiken Schwimmwesten verteilt und uns zu den Booten am Ufer führt, reibe ich mir schon voller Vorfreude die Hände.

Flora lässt sich in unser Boot fallen, ohne mich weiter zu beachten, dann blickt sie, das Kinn auf die Hände gestützt, um sich.

»Möchtest du mir helfen?«, frage ich sie.

»Muss nicht sein«, erwidert sie. Ich schlucke jede Menge Kommentare herunter und konzentriere mich lieber darauf, uns vom Ufer abzustoßen.

Man hatte uns angewiesen, heute unsere Überschuhe zu tragen, was ich auch befolgt habe, doch als ich in den See trete, spüre ich trotzdem die Kälte durch das Gummi.

Ich springe ins Boot, nehme meinen Platz auf der Bank ein und ergreife meine Ruder, Floras baumeln noch immer in den Klampen.

Offenbar werde ich uns allein rudern.

Soll mir recht sein. Boote sind nicht gerade meine Spezialität, aber ich bin kräftig genug, und das Wasser ist glatt und ruhig, als wir darüber gleiten. Meine Stimmung bessert sich, als ich tief Luft hole und den mineralischen Duft des Sees rieche und die Frische des Windes, und –

»Du ziehst wieder dieses Sing-Gesicht.«

Ich werfe Flora einen finsteren Blick zu, der Moment ist zerstört. Als ich aus dem Augenwinkel ein Boot überholen sehe, rudere ich kräftiger.

»Kann ich dich was fragen und eine ernsthafte Antwort darauf bekommen?«, sage ich zu Flora, während ich mit vollem Einsatz die Ruder bewege.

Sie stützt vorne im Boot wieder das Kinn in die Hand. »Vermutlich nicht.«

Das ist zumindest ehrlich.

Ich ziehe an den Rudern, das Holz knarrt, aber unser Boot bewegt sich kaum vom Fleck. Ein Wind ist aufgekommen und peitscht kleine Wellen auf, die uns schaukeln lassen. Mit einem Mal sieht das Wasser unter uns sehr dunkel und bedrohlich aus. Womöglich wimmelt es auch noch vor Ungeheuern?

Ich richte den Blick also lieber auf Flora. »Was habe ich dir eigentlich getan, dass du mich so dermaßen verabscheust? Abgesehen von dem Veruca-Salt-Kommentar an dem einen Morgen, der in Anbetracht deines Benehmens übrigens voll gerechtfertigt war.«

»Ich verabscheue dich nicht«, sagt Flora lakonisch, ihre riesige Sonnenbrille verdeckt ihr halbes Gesicht. Sie hat den Kragen ihrer Bluse hochgeschlagen, die sie unter ihrem Gregorstoun-Pullunder trägt. Ihre langweilige orangefarbene Schwimmweste ist einen Tick zu groß, ihre langen Haare flattern im Wind, während ich mich abmühe, uns zu rudern.

»Hättest du mich glatt täuschen können«, erwidere ich. Flora lehnt sich zurück und streckt die Beine aus.

»Ich sage einfach, was mir in den Sinn kommt«, erklärt sie. »Manchmal ist es nett, manchmal ist es nicht so nett. Mal so, mal so. Du solltest es nicht persönlich nehmen.«

Ich starre sie mit offenem Mund an, die Ruder sind noch im Wasser. »Es war also nicht persönlich gemeint, als du mich gestern gefragt hast, ob ich zu heulen oder zu singen anfange?«

»Ich dachte wirklich, du fängst zu heulen oder zu singen an.« Ein träges Achselzucken, ihre Schultern heben sich kaum.

»Als du meintest, Saks hätte mich als ihren ›Sozialfall‹ adoptiert?«

»Sie findet immer irgendjemanden, der nicht in ihrer Liga spielt, mit dem sie sich anfreundet. Sie ist sozusagen berühmt dafür. Und du bist zwar nicht total hoffnungslos, aber du bist keine Aristokratin, insofern …«

Ich hole wieder mit den Rudern aus.

»Okay, was ist mit deiner Weigerung, mich mit meinem Namen anzusprechen?«

»Du heißt doch Quint oder etwa nicht?«

»Ja, aber –«, stottere ich, aber dann verdrehe ich die Augen und hieve wieder die Ruder hoch. »Okay, alles klar. Du vertrittst also die Meinung, nichts davon sei gemein. Und dass deine Freundinnen mich auf dem Flur gemobbt haben, ist vermutlich auch nur eine Art –«

»Welche Freundinnen?«, fragt Flora und setzt sich auf.

Ich deute mit einem Kopfnicken auf Caroline und Ilse, die mit langsamen Bewegungen ihr Boot rudern und ganz offensichtlich kein Interesse an einem Abendessen im Bay-View-Restaurant haben.

Flora folgt meinem Blick und sieht mit zusammengekniffenen Augen übers Wasser. »Caro und Il?«, fragt sie verächtlich. »Wohl kaum Freundinnen, Schätzchen.«

»Aber du bist ständig mit ihnen zusammen«, erinnere ich sie. Sie wirft bloß wortlos die Haare über die Schultern und mustert mich.

»Bist du mit jedem befreundet, mit dem du Zeit verbringst?«, fragt sie süffisant und zieht eine Augenbraue hoch.

Ich starre sie an. »Ja?«

Sie schnappt sich mit einem verächtlichen »Pfft« die Ruder und taucht sie ins Wasser.

Sie schlägt kräftig, und zu meinem Entsetzen schießt das Boot schlingernd auf Saks und Elisabeth zu, die sich neben uns im Kreis zu drehen beginnen.

Als ich meinen Blick über den See wandern lasse, stelle ich fest, dass … eigentlich alle zu kämpfen haben. Saks und Elisabeth sind nicht die Einzigen, die sich ziellos um sich selbst drehen; auch Perry schlägt mit seinem Ruder aufs Wasser ein, während Dougal im Boot lümmelt und eindeutig auf seinem Handy herumdaddelt.

Die drei Boote auf der anderen Seite bewegen sich überhaupt nicht, und als ich über die Schulter zum Ufer blicke, sehe ich Mr McGregor, der einen Trichter mit den Händen formt und uns irgendetwas Unverständliches zubrüllt. Vielleicht feuert er uns an, vielleicht sind es Beleidigungen, wer weiß? Der Wind ist zu laut, um ihn zu verstehen.

Flora rudert weiter, lehnt sich einmal auf die eine, dann auf die andere Seite, ihre Bewegungen sind erstaunlich anmutig und fließend. Und vor allem kräftig. Jetzt schießen wir wirklich durchs Wasser.

Sie schneidet eine Grimasse, als sie mich über den Rand ihrer Sonnenbrille ansieht. »Möchtest du mir vielleicht helfen, Quint?«

»Ach ja«, erwidere ich und ergreife meine Ruder wieder. Obwohl entgegen der Fahrtrichtung zu sitzen ein etwas flaues Gefühl in meinem Magen verursacht, rudere ich und befolge Floras Anweisungen. Bald haben wir das Boot von Caroline und Ilse erreicht.

Ich höre, wie Flora die Ruder sinken lässt, als die Boote gegeneinander rammen und im unruhigen Wasser hin und her schaukeln, und drehe mich zu ihr und den anderen Mädchen um.

Caroline und Ilse strahlen Flora an. »Hiiiii, Flo«, flöten sie fast einstimmig. Flora lächelt ebenso aufgekratzt zurück.

»Hi, Ladys!«, zwitschert sie und steht zu meinem Entsetzen auf.

»Flora!« Ich kreische fast, als das Boot noch heftiger zu wanken anfängt. Doch sie steht, die Hände in die Hüften gestemmt, ruhig da und starrt Caroline und Ilse herausfordernd an.

»Kurze Frage, meine Lieben«, sagt sie, nach wie vor lächelnd. Es ist das Lächeln aus dem Pub, und ich weiß, dass es nichts Gutes zu bedeuten hat. »Habt ihr zwei versucht, Quint einzuschüchtern?«

Das Lächeln auf ihren Gesichtern verschwindet, Caroline sieht zu mir herüber. Ich ducke mich ein wenig tiefer und mache einen Versuch, an Floras Pullibund zu zupfen. »Setz! Dich! Hin!«, zische ich sie an, aber sie schlägt bloß nach meiner Hand und bleibt ungerührt stehen.

»Das kann man wohl kaum als einschüchtern bezeichnen, Schätzchen«, sagt Ilse. »Wir haben sie bloß daran erinnert, dass sie jemandem den Platz weggenommen hat, der es … mehr verdient gehabt hätte, sagen wir es mal so.«

Floras Augen sind hinter den Sonnenbrillengläsern nicht zu erkennen, aber ich kann mir vorstellen, wie sie gerade schmaler werden. »Wer – Rose?«, fragt sie lachend. »Ich bitte euch. Rose Haddon-Waverley sollte ihrem Glücksstern danken, dass sie nicht hierhergeschickt wurde. Abgesehen davon ist es nicht Quints Schuld, dass sie klüger ist als Rose. Ich meine, selbst der Dackel meiner Mutter ist klüger, aber das nur so am Rande.«

Nun runzeln sowohl Ilse als auch Caro die Stirn und blicken zwischen Flora und mir hin und her, ich verkrieche mich immer tiefer in meine Schwimmweste, bis die Kanten an meinen Ohren reiben und ich den schwachen Schimmelgeruch des Plastiks in der Nase habe.

»Du magst Millie doch auch nicht«, platzt Caroline heraus. »Du hast gesagt, sie sei langweilig und habe nur Lernen im Kopf.«

Das tut ein bisschen weh, aber immerhin übergeht Flora die Bemerkung. »Das sind schlicht Tatsachen«, erwidert sie. »Es bedeutet allerdings nicht, dass ich sie nicht mag.«

»Du kannst sagen, was du willst, es ergibt trotzdem keinen Sinn«, erkläre ich Flora, aber sie kümmert sich nicht um mich, sondern starrt weiter Caroline und Ilse an.

»Entschuldigt euch bei ihr«, verlangt sie. Ich weiß nicht, wer geschockter aussieht – die Mädchen oder ich.

Ilse lacht gekünstelt. »Süße, das kann nicht –«

»Ist es aber«, unterbricht Flora sie. »Und nenn mich nicht Süße. Entschuldigt euch bei Quint für eure Gemeinheiten und versprecht, es nicht wieder zu tun.«

»Meine Güte.« Caroline rutscht auf ihrer kleinen Holzbank herum. »Du machst dich lächerlich, Flora. Und damit du es weißt, du kannst uns zu überhaupt nichts zwingen. Prinzessin hin oder her.«

Ilse zupft an den Bändern ihrer Schwimmweste und blickt sich auf dem See um. »Caro –«, setzt sie an, aber Flora und Caroline sind noch mit ihrer Machtprobe beschäftigt.

»Du weigerst dich also, dich zu entschuldigen?«, fragt Flora. An Carolines Kiefer zuckt ein Muskel.

»Du kannst mich mal, Flora«, spuckt sie ihr mehr oder weniger entgegen, woraufhin Flora, ohne zu zögern und weiterhin lächelnd, einen Fuß hebt und ihn kräftig auf den Rand von Carolines und Ilses Boot drückt.

Alles passiert gleichzeitig. Das Boot schwankt, die Mädchen kreischen, unser Boot schwankt, irgendwann zerre ich Flora am Pullibund ins Boot zurück, das heftig hin und her schaukelt.

Wie durch Zauberhand kentert unser Boot nicht.

Caroline und Ilse haben weniger Glück.

Floras Tritt war vermutlich gar nicht fest, aber die anschließende Panik der Mädchen hat dem Boot den Rest gegeben, die beiden zappeln kreischend neben ihrem umgekippten Boot im Wasser.

Grinsend und mit geröteten Wangen schiebt Flora ihre Sonnenbrille hoch. »Den Trick hat mir Seb beigebracht!«, erklärt sie mir. »Unglaublich, dass er echt funk-«

Ein lauter Knall zerreißt die Luft, Flora und ich ziehen instinktiv den Kopf ein, dann schauen wir zum Ufer, wo Mr McGregor steht. Aus der antiken Pistole, die er über den Kopf hält, steigt eine dünne Rauchspirale auf.

Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen ist das Wettrudern beendet.