Kapitel 12
»Es ist Freitag«, platze ich heraus, woraufhin sich Flora und Seb umdrehen und mich anstarren.
Als er die Hände in die Hosentaschen schiebt, grinst Seb leicht und man sieht die Zähne aufblitzen. »Wohl wahr«, sagt er und hebt eine Schulter. »Aber es geht ja nur um einen kleinen Ausflug zum Pub unten im Dorf. Ich würde dich doch nicht dazu verleiten, dir die Nacht um die Ohren zu schlagen, Mitbewohnerin Quint.«
Als Flora leicht die Augen zusammenkneift, beginnen meine Wangen zu glühen. Mit einem Mal kann ich Sakshis Schwärmerei für Seb total verstehen. Aber ich werde trotzdem nicht mit ihm um die Häuser ziehen … oder mit beiden.
Ich bin jemand, der sich an Regeln hält. Ich bin noch nie zu spät nach Hause gekommen, habe noch nie die Schule geschwänzt und war noch nie in einer Bar.
Außerdem wartet immer noch Judes Nachricht auf meinem Bildschirm.
Ich nehme das Buch vom Bett und schwenke es hin und her. »Hausaufgaben«, erkläre ich. »Aber viel Spaß, ihr zwei.«
»Hab ich’s dir nicht gesagt«, flüstert Flora Seb zu, was vermutlich bedeutet, dass sie ihn bereits darüber aufgeklärt hat, was ich für eine Langweilerin bin. Soll mir recht sein.
Sie rückt noch ein wenig näher an ihren Bruder heran. »Sind alle mitgekommen?«
Seb schüttelt den Kopf, sodass ihm genau die richtige Menge Haare in die Stirn fällt. »Nein, nicht alle. Spiffy, Dons und Gilly hatten Zeit, aber Sherbet muss was für die Schule tun und Monters ist natürlich tot.«
Ich sehe ihn fragend an, als er das sagt, aber Flora verdreht bloß die Augen. »Er ist nicht tot, und Caroline meinte, er sei wieder in Schottland.«
»Nein, er ist ausgesprochen tot, und es ist alles sehr tragisch, aber ich komme darüber hinweg. Abgesehen davon wäre Monters hier auch keine Hilfe.«
Flora legt den Kopf schief und lässt es sich durch den Kopf gehen, bevor sie nickt und mit einem »Stimmt« die Haare über die Schultern wirft. »Nun gut. Drei ist vermutlich besser als gar keiner. Wollen wir?«
Als Flora eine graue Lederjacke von der Rückenlehne ihres Schreibtischstuhls nimmt, tue ich, als würde ich lesen. Den Pullover und die Jeans hatte sie vorher schon angezogen. Sie schiebt ihren Arm durch Sebs und weg sind sie. Die Tür fällt hinter ihnen zu.
Ich lege mit einem erleichterten Seufzer das Buch beiseite und wende mich meinem Laptop zu. Vielleicht antworte ich auch bloß mit »Hi«. Oder ich schreibe Lee und frage ihn nach seiner Meinung. Genau das werde ich tun.
Ich öffne eine neue Nachricht, um Lee zu schreiben, aber irgendetwas nagt in meinem Hinterkopf. Einen Moment später wird mir klar, dass hier ein Freundschaftsdienst angesagt ist.
Saks.
Vielleicht weiß sie gar nicht, dass Seb hier ist! Und wenn ich ihr später erzähle, dass er nicht nur hier, sondern sogar in meinem Zimmer war und mich eingeladen hat, in den Pub mitzukommen, verzeiht sie mir das vielleicht nie. Abgesehen davon bin ich ihr etwas schuldig, weil sie mich heute gerettet hat.
Argh.
Nach einem kurzen Zögern klappe ich das Laptop zu.
Die Augen verdrehend und über mich selbst stöhnend, stürze ich auf den Gang. »Hey!«
Flora und Seb wenden sich fast gleichzeitig um. Ob sie das geübt haben, Leute mit ihren schönen Gesichtern sprachlos zu machen?
»Ich, ähm, ich glaube, ich fahre doch mit«, stottere ich. Um besonders cool zu wirken, stemme ich eine Hand in die Hüfte. »Ist es okay, wenn Sakshi mitkommt?«
»Saks Worthington?«, fragt Seb, sein Gesicht verzieht sich zu einem trägen Lächeln. »Klar.«
Flora hebt die Augenbrauen. »Wie jetzt, Sakshi und du, ihr seid befreundet? Ich dachte, sie hätte dich bloß als einen ihrer Sozialfälle adoptiert.«
Bezaubernd. »Ob du es glaubst oder nicht, wir sind tatsächlich Freundinnen«, erwidere ich, ohne anzubeißen. »Kann ich sie nun mitbringen?«
Flora wirft ihrem Bruder einen Blick zu. »Seb –«, setzt sie an, aber er fasst sie an den Schultern und schüttelt sie leicht.
»Je mehr, desto besser, Schwesterherz!«
Flora schürzt leicht die Oberlippe, aber nach einem Seitenblick auf mich brummt sie schließlich: »Von mir aus.«
Das reicht mir als Erlaubnis, ich sprinte an den königlichen Geschwistern vorbei in den ersten Stock hinunter.
Sakshi öffnet auf mein zweites Klopfen hin die Tür, sie hat die Haare zurückgebunden, auf ihrem Gesicht liegt eine Tuchmaske. »Millie!«, ruft sie. »Was –«
»Sebisthierundwillausgehen«, sage ich hastig, aber zum Glück wird Sakshi aus der nervösen Millie bereits nach einer Woche schlau.
Sie deutet mit einem Finger auf mein Gesicht und sagt: »Zwanzig. Sekunden.«
Die Tür knallt zu, ich stehe auf der anderen Seite und starre das Holz an, denn um nichts in der Welt –
Die Tür fliegt wieder auf, und da steht Saks in der perfekten Jeans, einem T-Shirt, das gerade knapp genug ist, um ihre Bauchmuskeln zu zeigen, keine Spur von Tuchmaske mehr. Eigentlich sieht sie aus, als ob –
»Wie hast du dich so schnell geschminkt?«, frage ich erstaunt, aber Sakshi lässt mich nicht zu Wort kommen.
»Übung. Und wo ist er?«
»Wo ist wer?«
Als wir uns umdrehen, sehen wir Perry auf dem Gang stehen, er hält zwei Plunderteilchen in der Hand. Ich weiß ehrlich nicht, wie Perry so dünn sein kann, er futtert absolut alles, was er in die Finger kriegt. Er wischt sich die Krümel vom Pulli und starrt Saks und mich an.
»Seb«, erklärt ihm Sakshi. »Seb besucht Flora und sie gehen im Dorf was trinken.«
Perry sieht sich um und brummt, »Okay, dann komme ich auch mit«, und stopft die Plunderteilchen in eine Topfpflanze.
Sakshi stemmt die Hand in die Hüfte und sieht ihn scharf zu: »Wenn du mir das vermasselst, Peregrine …«
Er hält die Hände hoch. »Wer vermasselt hier irgendwas? Ich will bloß mit der Königsfamilie abhängen, mehr nicht.«
Obwohl ich nicht sicher bin, ob Perrys Gesellschaft ebenso willkommen ist wie Sakshis, nicke ich und deute auf die beiden. »Schön, schön, heute Abend werden die Bettler wie die Könige und die Könige wie die Bettler leben. Können wir jetzt endlich gehen?«
Seb und Flora warten an der Eingangstür, aber ich habe das unbestimmte Gefühl, wären wir zehn Sekunden später gekommen, hätte Flora ihn nach draußen gezogen und uns sitzenlassen. Seb hingegen lächelt Saks und mich an, Perry reicht er sogar die Hand.
»Fowler, richtig?«, fragt er. Perry läuft rot an und nickt enthusiastisch.
»Genau, ja, Fowler. Das bin ich!« Als Seb sich zu Flora wendet, sieht Perry Sakshi und mich mit offenem Mund an. »Er kennt meinen Namen!«
»Du bist echt ein armer Tropf«, erwidert Sakshi und folgt Seb und Flora nach draußen.
In der Auffahrt parken zwei Wagen, ein glänzender Land Rover und ein kleiner, aber sehr teuer aussehender Sportwagen. Aus den Fenstern des Land Rovers lehnen sich Jungs. Die Haare des einen sind fast genauso rot wie Perrys, er winkt, als wir näherkommen. »Flo!«, ruft er. Ich werfe einen Blick zu Flora. Sie kann es doch unmöglich gut finden, dass jemand sie Flo ruft? Flora ist so eine –
»Gilly!« Sie winkt und lächelt breit, dann lässt sie Sebs Arm los und läuft mit wippendem Pferdeschwanz auf den Land Rover zu.
Na ja, vielleicht ist sie ja doch ein bisschen entspannter drauf, als ich dachte.
Als der Junge sich aus dem Fenster beugt und sie umarmt, johlen die dunkelhaarigen Jungs auf der Rückbank. »Flo!«
»Hey, Kumpels.« Seb geht, die Hände in den Hosentaschen, auf sie zu. »Fahrt ihr doch schon mal in den Pub und besetzt meine Lieblingsnische. Ich werde diese Bande hier chauffieren.«
Er deutet mit dem Daumen auf uns. Ich beuge mich zu Saks und frage: »Werden wir Ärger bekommen? Weil wir das Schulgelände verlassen?«
Perry antwortet mir. »Solange wir den Unterricht nicht schwänzen und nicht weiter fahren als bis zum Dorf, ist es für Leute aus der Abschlussklasse okay. Gehört zur Gregorstoun-Erfahrung, dass man lernt, verantwortungsbewusste Entscheidungen zu treffen.«
Ich bezweifle zwar, dass sich in Sebs winzigen Sportwagen zu quetschen als »verantwortungsbewusst« durchgeht, aber genau das tue ich gerade. Ich sitze eingekeilt mit Perry und Saks auf der Rückbank, Flora nimmt auf dem Beifahrersitz Platz.
Ich kann mich dunkel erinnern, dass ich auf dem Hinweg durch ein Dorf gekommen bin, aber ehrlich gesagt war mein Hirn an diesem Tag ein derartiges Bienensurren aus Panik und Nervosität, dass ich es kaum wahrgenommen habe. Als wir nun den Berg hinunterfahren, bleibt mir ein bisschen mehr Zeit, um es zu bewundern.
Die Schule liegt oberhalb von Dungregor auf einem Berg, wohingegen sich das Dorf in ein Tal schmiegt, was die kleinen Läden und Gebäude an der Hauptstraße besonders charmant und anheimelnd wirken lässt. Der Ort ist wie ein kleiner Schmuckkasten, verborgen vor dem Rest der Welt.
Es ist später Nachmittag, das Licht fällt mit einem sanften Goldton über die Berge. Auf den höchsten Gipfeln liegt ein wenig Schnee; nicht mehr lange, und ich werde bei der Challenge in diesen Bergen sein.
Seb seufzt. »Mann, dieses Kaff ist echt trostlos. Das vergesse ich immer wieder.«
Auf dem Beifahrersitz dreht sich Flora zu ihm um. »Vermisst du es schon, Sebby?«, fragt sie liebevoll, was er mit einem Schnauben beantwortet.
»Das Einzige, was ich an Gregorstoun vermisse, ist, dass Mummy hier nicht ständig ein Auge auf mich hatte.«
Flora feixt und blickt wieder auf die Straße.
»Tja, hättest du dich nicht so danebenbenommen, wärst du auch nicht nach Hause zitiert worden.«
Sakshi sitzt eng an mich gepresst zu meiner Linken, mehr oder weniger die Knie an den Ohren. Der Wagen wurde nicht für Glamazonen gebaut. Sie verpasst mir einen Rippenstoß und wirft mir einen bedeutungsvollen Blick zu.
Da ich den Blick nicht deuten kann, ist seine Botschaft an mich jedoch verschwendet und Sakshi mustert mich wieder mit diesem leicht mitleidigen Lächeln, das ich jedes Mal sehe, wenn ich sie darin bestätige, dass ich eine ahnungslose Kolonistin bin.
Sie tätschelt mir das Knie und formt mit den Lippen: Wir reden später.
Ich kann es kaum erwarten.
Ich konzentriere mich wieder auf das Dorf, aber nun meldet sich Perry von Saks anderer Seite. »Ich war eine Zeit lang auf St. Edmund’s«, setzt er an. »Aber meine Mutter fand die Direktion zu nachsichtig, deshalb wurde ich vor ein paar Jahren nach Gregorstoun geschickt.«
Seb beobachtet ihn im Rückspiegel, ein Mundwinkel hebt sich zu einem Lächeln. Flora und er sehen sich wirklich nicht übermäßig ähnlich, aber dieses Lächeln? Das ist eindeutig ihres, ich habe es in den letzten Wochen mehrfach auf Floras Gesicht gesehen.
»Gregorstoun war bestimmt eine völlig neue Welt für dich, Kumpel«, sagt Seb gedehnt, Perrys Wangen werden flammend rot und er gluckst verlegen.
»Jep, jep, und wie«, sagt er. Es ist vermutlich Perrys Versuch von Kumpelhaftigkeit.
Als Flora sich zu ihrem Bruder dreht und ihn etwas fragt, beugt sich Perry über die endlose Fläche von Sakshis Beinen und zischt: »Verdammte Scheiße, ich bin hetero, und jetzt werde ich schon das zweite Mal rot seinetwegen. Für Mädchen muss er eine echte Bedrohung sein.«
Ich presse die Lippen aufeinander, um nicht loszuprusten, allerdings eher wegen Perrys leicht empörtem Gesichtsausdruck als wegen der Vorstellung von Seb als Bedrohung. Sakshi sieht einfach nur verwirrt aus.
»Moment, du bist hetero?«, fragt sie. Perry setzt sich auf und richtet den Blick auf den Vordersitz.
Flora und Seb reden noch in dieser Blase, die Flora häufig um sich schafft und in der sie tut, als würden wir Normalsterblichen nicht existieren.
»Jaa«, sagte Perry leise. »Wie jetzt, was dachtest du denn? Saks, wir kennen uns, seit wir fünf sind. Wie konntest du das nicht wissen?«
Sakshi zuckt elegant die Achseln. »Bei euch ist das schwer zu sagen, um ehrlich zu sein.«
»Euch?«, wiederholt Perry erschüttert, aber Sakshi winkt ab.
»Du weißt schon. Euch blassen schmächtigen Aristokraten.«
»Schmächtig?« Perry wird jeden Moment an seiner Empörung ersticken. Zum Glück hält der Wagen gerade vor dem größten der weißen Gebäude, an denen wir vorbeigekommen sind, auf eine Wand ist in dicken braunen Lettern THE RAMSAY ARMS gepinselt.
Seb öffnet die Tür und steigt aus, dann klappt er den Vordersitz um und streckt mir mit einem »Mylady« die Hand entgegen.
Ich werde rot, als sich unsere Hände berühren, und lasse mir von ihm aus dem Wagen helfen.
»Danke«, murmle ich. Er zwinkert mir zu und lehnt sich mit angewinkeltem Ellbogen an die offene Wagentür.
Er ist wirklich einfach … unglaublich attraktiv. Bei einem Blick auf die andere Seite des Wagens stelle ich fest, dass Sakshi schon auf dem Gehweg wartet und bei seinem Anblick fast dahinschmilzt.
Perry, der mit puterrotem Gesicht neben ihr steht, verschränkt die Arme über der Brust. »Wollen wir reingehen oder stehen wir hier rum, während Google Earth Bilder macht?«, fragt er mit einem Kopfnicken in Sebs Richtung. Sakshi verpasst ihm einen Rippenstoß.
»Peregrine!«, höre ich sie sagen. Es ist also wirklich ernst – seinen richtigen Namen benutzt sie nur in Notfällen.
Perry wirft ihr einen bösen Blick zu und reibt die Stelle, wo ihr Ellbogen ihn getroffen hat, dann sieht er auch Seb finster an.
Doch Seb lächelt mich bloß noch einmal an. »Wollen wir, Mitbewohnerin Quint?«, fragt und bietet mir seinen Arm an. Nach kurzem Überlegen hake ich mich ein.