Kapitel 6

»Wirst du die ganze Zeit Karo tragen müssen?«

Lee sitzt an meinem Bettende, er hat die Hände zwischen die Knie geschoben und sieht mir dabei zu, wie ich Sachen aus meinem Schrank hole. Es ist Mitte August und schwer vorstellbar, dass ich dicke Jacken brauchen werde, doch meine Wetter-App erklärt mir, dass ich in Schottland gerade in Wolle eingemummelt sein möchte. Da ich außerdem erst im Dezember wieder zu Hause sein, werfe ich lieber noch meine schwerste Winterjacke zu den anderen Sachen aufs Bett.

»Die Uniformen sind kariert«, erkläre ich Lee. »Aber aus einem dunklen Karostoff, insoweit ist es nicht so schlimm.«

Lee versucht ein Lächeln, aber sein Blick wandert immer wieder zu meinem Koffer.

Ich gehe zu ihm und lege ihm eine Hand auf die Schulter. »Es gibt Internet«, erinnere ich ihn. »E-Mail, FaceTime, Facebook und vielleicht werden sie noch irgendwelche andere gesichtsbezogene Technologie erfinden, während ich dort bin …«

Das entlockt ihm zumindest ein aufrichtiges Lächeln. Er fährt sich mit der Hand durch die Haare. »FacePlate, Gesichtsteller«, schlägt er vor. »Da tauchen dann Gesichter in deinem Teller auf und man kann zusammen essen.«

Ich werfe kichernd ein weiteres Paar Socken in meinen Koffer. »Ekelhaft. Ich will nicht von deinem Gesicht essen.«

Lee feixt. »Dann willst du vermutlich schon gar nichts über Toilet Time hören, da wird die Technik nämlich erst richtig abgehen.«

»Warum bin ich mit einem Jungen befreundet?«, sinniere ich vor meinem Poster von Finnigan Sparks und tippe ihm auf den Astronautenhelm.

»Weil du mich liebst«, antwortet Lee und ich stoße einen Seufzer aus.

»Leider ja.«

Die Sache mit mir und Schottland geht Lee ganz schön an die Nieren, aber er gibt sich Mühe, deshalb auch die moralische Unterstützung beim Packen. Die Schule beginnt in Gregorstoun später als an der Pecos Highschool, Lee hat seinen ersten Schultag schon hinter sich, während mein letztes Schuljahr erst in einer Woche anfängt.

Es ist ein seltsamer Gedanke, meinen Abschluss woanders zu machen. Versteht mich nicht falsch, ich finde es aufregend, meine Highschoolzeit in einem anderen Land zu beenden, aber es fühlte sich trotzdem schräg an, als ich letzte Woche in den sozialen Medien bei den anderen Bilder vom ersten Schultag gesehen habe.

»Hast du mit Darcy gesprochen?«, fragt er, woraufhin ich mich achselzuckend umdrehe.

»Kurz.«

Das stimmt nicht ganz. Sie hat irgendwann auf meine Nachricht mit einem HEY GIRL! Sorry, hatte mega viel um die Ohren! geantwortet, aber das war’s auch schon. Sie und ich waren zwar nie so eng befreundet wie Lee und ich (oder Jude und ich oder Darcy und Jude), aber es hat mir trotzdem einen Stich versetzt. Außerdem werde ich das Gefühl nicht los, dass sie sich womöglich ein bisschen gefreut hat, recht behalten zu haben. In den letzten Wochen habe ich mehr Fotos von Jude und ihr auf Instagram und Snapchat gesehen als im ganzen letzten Jahr.

Seit Jude und ich keine Freundinnen mehr sind – oder Mehr-als-Freundinnen – scheint Darcy wieder ihren angestammten Platz eingenommen zu haben.

»Und hast du mit Jude geredet?«, fragt Lee und reißt mich damit aus meinen Gedanken. Ich zeige mit dem Finger auf ihn.

»Du weißt, dass das Jude-Thema nach wie vor tabu ist.«

Normalerweise genügt mein erhobener Zeigefinger, um Lee von etwas abzuhalten, doch nun ergreift er ihn und schiebt ihn aus seinem Gesicht. »Wir hatten eine zweiwöchige Jude-freie Schonzeit«, erklärt er. »Ich denke, die Frist ist jetzt vorüber. Hast du mit ihr geredet?«

Ich befreie seufzend meinen Finger aus seiner Umklammerung und lasse mich auf meinen Schreibtischstuhl fallen. »Nein. Warum sollte ich? Dir ist wohl entgangen, dass Schluss ist mit dem Verlangen?«

»A, das reimt sich«, erwidert Lee. »Und B, nein, ist es nicht. Ich stehe in dieser Angelegenheit ganz auf deiner Seite, glaub mir, ich finde bloß … du solltest nicht fahren, ohne das geklärt zu haben. Du hast deinen großen Country-Song-Moment verdient, in dem du ihr erst erklärst, was für ein Miststück sie ist. Anschließend darfst du ihr Zuhause in Schutt und Asche legen.«

Sein Spruch bringt mich zum Lachen, aber ich schüttle den Kopf. »Klar, Konfrontation und ich sind ja auch die allerbesten Freunde.«

»Stimmt, könnte dir nicht schaden, wenn du ein bisschen mehr auf Konfrontation aus wärst«, sagt Lee und spreizt Daumen und Zeigefinger. »Wie kannst du die Beste sein wollen und trotzdem jede Auseinandersetzung hassen –«

»Ich will nicht immer die Beste sein«, unterbreche ich ihn, was Lee mit einem ordinären Geräusch beantwortet.

»Das kannst du sonst jemandem erzählen. Du erinnerst dich aber schon noch, dass ich wegen dieses Spiels Der Kaiser schickt seine Soldaten aus meinen Kopf nicht mehr richtig nach links drehen kann, oder?«

»Das ist fast sieben Jahre her, Lee, fang nicht wieder damit an«, erwidere ich und werfe ein Paar Socken nach ihm. »Und warum machst du dir überhaupt Sorgen wegen Jude und mir? Hast du kein eigenes Liebesleben, über das du dir den Kopf zerbrechen kannst?«

Lee zielt mit den Socken nach mir. »Mein Beziehungsleben ist gerade eine ärgerfreie Zone. Ich habe Freitag ein Date mit Noah, dankederNachfrage

»Der Typ aus der Hähnchen-Sticks-Bude?«

Lee sieht mich missbilligend an. »Du sollst ihn nicht so nennen.«

Ich wende mich lachend wieder meiner Packerei zu. »Sorry, du hast ihn als Erster so genannt, und jetzt wird er es nicht mehr los. Ich freu mich schon, wenn du eines Tages Mr Hähnchen-Sticks-Bude wirst.«

Auf meinem Bett dreht sich Lee stöhnend auf den Bauch und schleudert ein paar Kissen auf den Boden. »Miiiiilllliiiie«, wimmert er. »Warum musst du mich verlassen? Was hat Schottland, das Texas nicht hat? Außer vermutlich wahrnehmbare Jahreszeiten.«

»Alles Mögliche«, erkläre ich. »Kilts.«

»Ich kann einen Kilt tragen.«

»Dudelsäcke.«

»Werde ich lernen.«

»Coole Geologie.«

»Texas hat so verdammt viele Steine, Millie.«

Ich lege grinsend noch einen Pullover in den Koffer. »Es ist anders«, sage ich. »Und ich will eine Weile woanders sein.«

»Versprich mir bloß, dass du es nur tust, weil du wirklich Spaß haben und aufregende neue Erfahrungen machen möchtest«, sagt Lee, während er an meiner Steppdecke herumzupft. »Nicht, weil du davonläufst.«

»Ich renne nur ein ganz kleines bisschen weg«, ich spreize wie er zuvor Daumen und Zeigefinger. »Ein klitzekleines bisschen Davonlaufen. Das darf jedes Mädchen.«

Ich sehe, dass Lee es gern mit mir ausdiskutieren würde, doch am Ende seufzt er bloß und sagt: »Gut. Dann nutze deine Zeit wenigstens sinnvoll und jage das Ungeheuer von Loch Ness.«

»Das«, sage ich und halte die Finger wie eine Pistole auf ihn, »kann ich auf jeden Fall tun.«

Es wird an die Tür geklopft, meine Stiefmutter steckt den Kopf herein. »Alles gut hier?«, fragt sie. Ihr rotes Haar ist zurückgebunden, sie trägt Gus auf einer Hüfte.

Als er mich sieht, stößt er einen freudigen Schrei aus und streckt die Ärmchen aus. Ich gehe zu den beiden, nehme eines von Gus’ Patschhändchen und drücke einen schmatzenden Kuss auf den Handrücken. »Alles super«, erkläre ich Anna. »Ich habe Platz für Gus in meinem Gepäck freigehalten.«

Sie lächelt und lässt Gus, der weiter vor sich hin brabbelt, leicht auf und ab wippen. »Das würde er bestimmt toll finden«, sagt sie. »Und ich müsste dann ein Kind mit einem schottischen Akzent großziehen, aber das könnte ja ganz lustig sein.«

Ich lache und gehe wieder zum Schrank. »Versprichst du mir, dass du mich verhaust, wenn ich zurückkomme und nur noch ›aye‹ und ›bonny‹ ablasse?«

Anna nickt und nimmt Gus auf die andere Seite. »Das Privileg der Stiefmutter. Wollt ihr Pizza oder chinesisch zum Abendessen?«

»Pizza«, kommt es einstimmig von Lee und mir. Anna hält den Daumen hoch, was Gus nachahmt, dann verschwinden die beiden wieder auf den Flur.

Lee deutet auf mein Laptop. »Zeig mir diese Schule wenigstens noch mal«, sagt er. »Damit ich ein klares Bild vor Augen habe, wofür du mich sitzen lässt.«

»Klar doch.«

Die Gregorstoun-Website ist unter meinen Lesezeichen, und als ich sie jetzt aufrufe, spüre ich beim Anblick der imposanten Backsteinmauern und der atemberaubenden Umgebung wieder dieses Flattern im Magen.

Als Lee sich durch die Bilder klickt, hält er bei einem Foto von Jungen in weißgrauen Tanktops inne, ihre langen Shorts sehen aus, als seien sie aus Drillich gemacht. Alle grinsen leicht in die Kamera, ihre blasse Haut ist von der Kälte gerötet.

»Was sind denn das für Witzfiguren?«, fragt er und ich werfe einen Blick auf die Bildunterschrift.

»Die Klasse von 2009, die Teilnehmer der jährlichen Challenge.«

Lee sieht mich an. »Was zum Teufel ist die ›jährliche Challenge‹?«

Ich grinse und winde mich mehr oder weniger auf dem Bett. »OhmeinGott, das ist das Allercoolste. Man wird in Teams eingeteilt und in den Highlands ausgesetzt, wo man dann zelten und zur Schule zurückfinden muss.«

Die Challenge war tatsächlich einer der Gründe, weshalb ich Gregorstoun anderen Schulen in Schottland vorgezogen habe. Die Vorstellung, in den Highlands auf mich gestellt zu sein – na ja, bis zu einem gewissen Punkt –, mir den Wind durch die Haare peitschen zu lassen und unter den schottischen Sternen zu schlafen? Ja, bitte.

Lee schnaubt. »Eine Camping Challenge klingt allerdings sehr nach dir. Die Jungs legen hoffentlich keinen Wert auf funktionstüchtige Gliedmaßen.«

Ich tue, als würde ich meine Nägel an meinem Shirt polieren, und recke das Kinn. »Da werde ich zeigen, was ich draufhabe.«

Lee wendet sich wieder dem Laptop zu und tippt auf den Bildschirm. »Okay, aber was, wenn sie nur die halbe Wahrheit erzählen? Was, wenn die Challenge beinhaltet, dass man einem Sarlacc zum Fraß vorgeworfen wird, hmm? Hast du schon mal darüber nachgedacht?«

»Wird man garantiert nicht, denn dieser Typ hier«, ich deute auf einen der größeren Jungs im Hintergrund, »ist Prinz Alexander von Schottland, und meines Wissens ist er ausgesprochen unaufgefressen. Und gerade dabei, eine Amerikanerin zu heiraten.«

»Oh, jaa«, sagt Lee bedächtig. »Meine Mutter redet von nichts anderem mehr. Sie wird früh aufstehen, um sich die Hochzeit anzusehen.«

Ich habe Prinz Alexander und seine Verlobte hier und da auf Zeitschriftencovern gesehen, und am Anfang des Sommers gab es irgendeinen Skandal mit der Schwester der Verlobten, aber es hat mich nicht weiter interessiert. Irgendwelcher Klatsch über Königshäuser war noch nie mein Ding, außerdem werde ich damit überhaupt nichts zu tun haben. Prinz Alexander hat Gregorstoun längst verlassen, und sein Bruder, Sebastian, wird nicht dorthin zurückkehren.

»Millie Quint wird die Schule besuchen, auf die schon Prinzen gegangen sind«, sinniert Lee und betrachtet weiter die Bilder. Ich schüttle den Kopf.

»Millie Quint wird eine großartige Schule besuchen«, verbessere ich ihn.

»Abgesehen davon«, ich schließe die Website, »sind meine Chancen, jemanden aus dem Königshaus zu treffen, gleich null.«