Kapitel 19
»Reh«, presse ich durch taube Lippen. »Das meintest du. Reh.«
Denn genau das steht hinter mir. Das riesige Reh mit dem großen, sehr spitzen Geweih sieht mir in die Augen.
Also, wildlebende Tiere sind mir nicht fremd. Ich komme schließlich aus Texas. Mir ist schon die ein oder andere Klapperschlange über den Weg gelaufen, mein Großvater hat mir mal einen Koyoten am Rand seines Grundstücks gezeigt, und ich habe mehr Gürteltiere gesehen, als einem Mädchen guttun.
Aber es ist die Größe des Viehs, die mein Herz pochen und meinen Mund vor Angst trocken werden lässt.
»Das ist kein Reh«, verbessert mich Flora, »sondern ein Hirschbock.«
»Die korrekte Terminologie ist mir gerade ziemlich egal«, ich bewege kaum die Lippen. »Ich will vor allem nicht aufgespießt werden.«
Als der Hirsch prustet, spanne ich mich an.
Plötzlich taucht Flora mit ausgestreckter Hand am Rand meines Sichtfeldes auf.
»Was tust du da?«, frage ich, was mit den tauben Lippen und in Todesangst gar nicht so einfach ist.
»Der Hirschbock ist das Nationaltier Schottlands«, erklärt sie mir, während sie sich sehr langsam vorwärtsbewegt, ohne das Tier dabei auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. »Und da ich eine Prinzessin bin …«
Wäre ich gerade nicht so beschäftigt damit, ein wildes Tier durch Willenskraft davon abzuhalten, mich umzubringen, würde ich jetzt eine Grimasse schneiden. »Wie?«, frage ich. »Meinst du dieses Ding schert sich um Status? Hast du endgültig –?«
»Pssst!«, brummt sie und geht weiter auf den Hirsch zu, der sich zugegebenermaßen nicht rührt, sondern sie bloß zu beobachten scheint.
»Es gibt einen Grund, warum so etwas in Märchen geschieht«, fährt Flora fort, ein Lächeln zieht sich über ihr Gesicht. »Das Tier weiß eindeutig, dass er und ich durch die Liebe zu unserem Land verbunden sind.«
»Das ist der größte Schwachsinn, den ich je gehört habe. Das bloße Zuhören macht einen schon dümmer.«
Flora winkt mit der freien Hand ab. Sie hat die Sonnenbrille in die Haare geschoben, die whiskyfarbenen Augen sind zusammengekniffen, als sie auf den Hirsch zugeht. »Aber es funktioniert, oder?«
Sieht so aus. Der Hirsch steht reglos da, er schnaubt nicht mehr. Flora richtet sich ein wenig auf. »Siehst du«, sagt sie selbstgefällig. »Nun müssen wir bloß noch –«
Ohne Vorwarnung senkt der Hirsch das Geweih, Flora und ich kreischen auf und taumeln rückwärts. Sie dreht sich um die eigene Achse und landet in meinen Armen, ich halte sie fest, die nächsten Sekunden sind ein verschwommener Sturz, der Geruch des riesigen Tiers und dann die plötzliche Kälte des Wassers, als wir in den Fluss klatschen.
Die Kälte ist so extrem, dass mir die Luft wegbleibt, in meinem Hirn herrscht wüste chaotische Panik zwischen riesiger Hirsch! und Geweih! und OhmeinGottsokaltsokaltundnasswarumwarumwarum und ICH ERTRINKE!.
Aber … ich ertrinke nicht.
Als ich auftrete, stelle ich fest, dass mir das Wasser nur bis knapp über die Knie reicht. Allerdings bin ich von oben bis unten klatschnass, einschließlich der Haare. Flora sitzt im flachen Wasser am Ufer, die Knie angezogen, die Haare hängen ihr nass und wirr ins Gesicht, an einem Ohr baumelt schief die Sonnenbrille.
Der Hirschbock ist nirgendwo zu sehen. Flora streicht sich die nassen Haare aus dem Gesicht, ihre Brust hebt und senkt sich, als sie die Landschaft absucht.
»Weißt du, was?«, sagt sie dann. »Unser Nationaltier ist übrigens das Einhorn, nicht der Hirsch. Ist mir gerade eingefallen.«
Mit klappernden Zähnen funkle ich sie wütend an. »Na ja, vielleicht kommt ja noch eines vorbei.«
Wir klettern aus dem Fluss und laufen los.
Und laufen.
Ich habe ehrlich gesagt keine Vorstellung, wohin, auf der Herfahrt habe ich nicht weiter auf die Umgebung geachtet. Nicht, dass das gerade irgendwie helfen würde, denn ich kann mich auch nicht erinnern, ob die Schule von hier aus östlich oder westlich liegt. Dämlich vermutlich, aber ich bin davon ausgegangen, dass ich einen Kompass und eine Karte zur Verfügung haben würde, ein Zelt und alle anderen überlebensnotwendigen Dinge bei einem Campingtrip.
Als wir den nächsten Gipfel erreichen, bleibt Flora neben mir stehen und betrachtet ihre schlammverschmierten Hosen.
»Zumindest sehen wir jetzt aus, als wären wir wirklich in einer Notlage gewesen«, sagt sie.
Ich wirble zu ihr herum. »Wir sind in einer Notlage.«
Die Sonne geht allmählich hinter den Wolken unter, durch die Feuchtigkeit scheint die Kälte noch tiefer in meine Haut dringen. Wir sind irgendwo in den Bergen und das hier wird mein sicheres Ende sein, und alles bloß, weil sich eine verwöhnte Prinzessin an ihrer Mutter rächen wollte.
»Ich dachte, du hättest abgeschlossen mit dem Versuch, rausgeworfen zu werden«, sage ich mit klappernden Zähnen.
»Habe ich auch. Mummy hat ja klar und deutlich verkündet, dass ich nicht hinausgeworfen werden darf. Aber!« Sie hebt einen Finger. »Nicht ich mache hier Ärger. Sondern die Schule, weil sie kein sicherer Ort für mich ist.«
Sie lässt die Hand sinken. »Das ist ein großer Unterschied.«
Ich schwöre, wenn Flora ihr Hirn mal für etwas anderes einsetzen würde, als irgendwelche Ränke zu schmieden, könnte sie vermutlich die Welt beherrschen. Aber ich bin zu wütend, um beeindruckt zu sein.
»Kapierst du eigentlich, dass es hier nicht nur um dich geht?«. frage ich sie, die Arme um mich geschlungen. Flora steht vor mir und schlingt ebenfalls die Arme um sich.
»Jetzt sei nicht so theatralisch«, erwidert sie zitternd, ich muss mich wirklich beherrschen, sie nicht auf der Stelle mit bloßen Händen zu erwürgen.
»Sei nicht theatralisch?«, wiederhole ich. »Das sagst ausgerechnet du mir? Du, das Mädchen, das willens ist, eine hundert Jahre alte Institution zu Fall zu bringen, weil es nicht so weit von zu Hause weg sein möchte?«
Flora verdreht die Augen und legt die Hände auf die Hüften. »Erstens, was geht dich das an? Schließlich bin ich diejenige, deren Vorfahren hier zur Schule gingen. Ich bin diejenige, deren Familie diesen Ort quasi aufgebaut hat.«
»Warum versuchst du dann, ihn zu zerstören?«, kontere ich. »Dr. McKee ist total nett und sie liebt Gregorstoun. Oder ist sie bei deinem ständigen Theater eher ein Kollateralschaden?«
»Jetzt klingst du wie mein Bruder«, murmelt sie.
Ich schnaube. »Seb? Der hat vermutlich seine eigene Auszeichnung verdient wegen übertrieben theatralischen krummen Dingern.«
Floras Stupsnase kräuselt sich. »Nein, nicht Seb. Alex, mein älterer Bruder. Er fängt immer wieder damit an, dass ich mir das Leben selbst schwer machen würde und meine schlimmste Feindin sei. Das ist natürlich totaler Unsinn.«
»Für mich klingt das ausgesprochen sinnig«, erwidere ich.
Da liegt wieder dieser Ausdruck auf Floras Gesicht, irgendwas zwischen Seitenblick und Feixen. »Immerhin fängst du an, dich ein wenig gepflegter auszudrücken«, doch ich schüttle bloß genervt den Kopf.
»Ich fange mir eher gerade Frostbeulen ein oder Tuberkulose oder sonst irgendeine schreckliche Krankheit.«
Flora legt den Kopf in den Nacken, spreizt die Arme und seufzt den Himmel an. »Das kann wirklich nicht das Schlimmste sein, was dir bisher passiert ist.« Sie dreht sich zu mir. »Allein dein Pony ist wesentlich schlimmer als dieser kleine Zwischenfall.«
Ich sehe sie böse an und zupfe an meinen Haaren herum.
»Und noch mal: Beleidigungen sind wohl gerade nicht der richtige Ansatz, nachdem du dafür verantwortlich bist, dass wir hier in der Pampa gestrandet und fast umgebracht worden sind.«
Flora breitet mit einem tiefen Seufzen ihre Jacke auf dem Boden aus und setzt sich darauf. »Wir werden nicht hier sterben«, beharrt sie und schlägt die Beine übereinander. »Wir jagen ihnen höchstens einen Schreck ein, Mummy wird einsehen, dass Gregorstoun nicht der richtige Platz für mich ist, und du wirst mich los sein.« Sie wirft mir einen Seitenblick zu. »Ist das nicht dein sehnlichster Wunsch?«
Oh Mann, sie hat mich durchschaut. Keine Flora mehr? Ein Zimmer für mich, oder, was soll’s, selbst ein Zimmer mit einer ganz normalen Mitbewohnerin, die nicht alle fünf Sekunden irgendeinen anmaßenden Schwachsinn ausheckt? Das klingt fantastisch. Keine Flora mehr, und ich könnte Gregorstoun so erleben, wie ich es mir ausgemalt habe. Wie ich es vorhatte, als ich losgefahren bin.
Aber ich befürchte, es ist nicht so einfach, wie Flora es darstellen möchte. Ich vermute eher, dass ihre kleine Nummer hier das Leben an der Schule für alle härter machen wird. Ich ignoriere sie und setze mich so weit wie möglich von ihr weg auf den äußersten Jackenrand.
»Eigentlich gewöhne ich mich allmählich an dich«, erkläre ich ihr. Ich versuche, fröhlich zu klingen, aber das Zittern und die Tatsache, dass meine Nase beschlossen hat, aus Rebellion gegen die Kälte komplett zu verstopfen, machen es schwierig.
»Ach, das ist ja lächerlich«, höre ich Flora sagen und ich will gerade die Gegenfrage »Was davon?« stellen, als sie über die Jacke rutscht, mir den Arm um die Schulter legt und mich an sich zieht.