Kapitel 29

Bei unserer Rückkehr von Skye wartet Dr. McKee in der Eingangshalle auf uns. Wird sie uns über unseren Trip ausfragen? Oder Flora wegen Infos über Lord Henry anhauen? Laut Saks ist die Schule ständig auf der Suche nach wohlhabenden Geldgebern. Aber Dr. McKee begrüßt uns lediglich mit: »Willkommen zu Hause, Ladys. Ich hoffe, Sie hatten eine schöne Zeit auf Skye. Einer meiner Lieblingsorte in Schottland.«

»Es war fantastisch«, sage ich und meine es auch so. Dr. McKees Lächeln darauf wirkt echt.

»Wir haben in Ihrer Abwesenheit beschlossen, einige Veränderungen vorzunehmen. Miss Quint, Sie werden für den Rest des Schuljahres das Zimmer mit Miss Worthington teilen. Miss Baird, Miss Graham, die Mitbewohnerin von Miss Worthington, wird Miss Quints Platz in Ihrem Zimmer übernehmen.«

Wir stehen in der Halle, und einen Moment lang sagt niemand etwas, aber mich durchfährt der furchtbare Gedanke, dass Dr. McKee von unserem Tanz auf Skye gehört haben könnte. Und irgendwie weiß, dass sich zwischen Flora und mir etwas verändert hat.

Ich würde vor Verlegenheit am liebsten im Erdboden versinken. Als Flora Dr. McKee antwortet, schaue ich sie nicht an. »Warum, um Himmels willen? Quint und ich waren gerade dabei, uns anzufreunden. Ist nicht genau das der Sinn des Zusammenwohnens?«

Dr. McKees Lächeln wird etwas angespannter. »Der Sinn des Zusammenwohnens besteht darin zu lernen, auf angenehme und respektvolle Art Raum mit anderen Menschen zu teilen. Freundschaften sind ein schönes Extra, aber nicht der Sinn, nein.«

Für mich fühlt sich das immer noch komisch an. Ich erwarte, dass Flora weiterdiskutieren wird, doch nach einem weiteren langen Schweigen zuckt sie bloß die Achseln. »Nun denn«, sagt sie, dann dreht sie sich zu mir.

»Tja.«

»Tja.«, wiederhole ich, im vollen Bewusstsein, dass Dr. McKee uns beobachtet.

»Dann sehe ich dich wohl im Unterricht, Quint.«

»Ja, sieht so aus«, erwidere ich. Sollen wir uns jetzt die Hand schütteln oder so was?

Doch Flora dreht sich bloß um und geht mit ihrer Tasche die Treppe hinauf. Als sie verschwunden ist, legt mir Dr. McKee zu meiner Überraschung die Hand auf die Schulter.

»Es ist zu Ihrem Besten, Miss Quint, das versichere ich Ihnen. Und diese Entscheidung hat in keiner Weise mit Ihrem Verhalten zu tun, es ist eher … sagen wir es so, eine Vorsichtsmaßnahme.«

»Inwiefern?«, frage ich, meine Finger um den Griff meiner Segeltuchtasche fühlen sich taub an.

»Ich habe Ihnen ja bereits erklärt«, erwidert Dr. McKee, »dass Sie hier in Gregorstoun vorsichtig sein müssen, mit wem Sie Freundschaft schließen. Miss Baird ist eine reizende Person und ihr Leben in der Tat äußerst glamourös, aber ich hatte bislang nicht den Eindruck, dass Sie sich davon den Kopf verdrehen lassen. Es war einer der Gründe, weshalb Sie als ihre Mitbewohnerin ausgewählt wurden. Aber nun …«

Mit heißen Wangen hieve ich meine Tasche etwas höher. »Aber nun wirkt mein Kopf verdreht?«

»Floras Mutter war der Meinung, es wäre eventuell besser für ihre Tochter, wenn sie mit jemandem zusammenwohnen würde, der ihr weniger zugetan ist«, sagt Dr. McKee. Alles klar. Das ist also die wahre Antwort – es ist nicht bloß eine Schulentscheidung, sondern sozusagen ein königlicher Erlass.

Ich erinnere mich an Floras Kommentar, ihre Mutter würde ihre Gefühle für Mädchen für eine Phase halten. Ist das hier der Punkt?

Und wenn dem so ist, was bedeutet es?

Das Zimmer zu wechseln dauert nicht einmal annähernd so lange, wie ich angenommen habe. Wir haben ausgemacht, dass ich zu Sakshi gehen werde, während Elisabeth bei Flora einzieht; als ich die letzten Bücher aufeinanderstaple, beobachtet mich Flora vom Bett.

»Sie ist echt noch ein Kind. Wie heißt sie doch gleich? Lady McPferdiePferd.«

»Titel sind hier untersagt«, erwidere ich, »also Miss McPferdiePferd.«

Flora antwortet mit einem Schnauben, und ich schiebe ein Buchzeichen in den letzten Finnigan Sparks-Roman, bevor ich ihn auf den Stapel lege. »Das Positive ist: Du musst dir vermutlich nicht mehr so viele Steine anschauen. Nur noch Plastikpferde.«

»Ich mag Steine«, antwortet Flora. Ich sehe sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Gar nicht wahr«, erwidere ich. Sie wirft die Haare über eine Schulter.

»Ich wachse und gedeihe unter deinem Einfluss, Quint.«

Sie macht Witze, aber irgendwas an ihrem Gesichtsausdruck macht mich trauriger, als es ein Zimmerwechsel eigentlich tun sollte. Ich werde immerhin mit Saks zusammenziehen, die ich sehr mag. Vor einem Monat wäre ich bei diesem Tausch aus dem Häuschen gewesen.

Warum bin ich dann so bedröppelt?

Bei einem Blick auf mein Telefon stelle ich fest, dass ich einige Mitteilungen habe. Als ich es in die Hand nehme, sehe ich das Foto, das Flora erst gestern von uns beiden gepostet hat, und ein paar Kommentare. Da ist Lee mit MILLIE, WIE JETZT?? UND: HÜBSCH!!!, direkt unter ihm hat Saks zugestimmt: MEGA HÜBSCH. Es ist lustig, sie dort beide in den Kommentaren zu sehen, zwei Freunde aus zwei sehr verschiedenen Teilen meines Lebens. Wie es wohl wäre, wenn sie sich irgendwann mal kennenlernen würden?

Ich bin noch dabei, es mir vorzustellen – Lee und Saks, wie sie zusammen abhängen –, als mir der letzte Kommentar auffällt.

HeyJude02: Du siehst so glücklich aus.

Auf dem Bild habe ich rosige Wangen, mein Mund ist geöffnet, weil ich lache, Floras Gesicht ist an meines gedrückt. Ich sehe wirklich glücklich aus. Richtig glücklich. Weil ich wirklich glücklich bin.

Oder war – bis zum Zimmerwechsel.

Ohne nachzudenken, antworte ich auf Judes Kommentar.

Okay, als Antwort ist ein Emoji nicht gerade viel, aber immerhin etwas.

Ich räuspere mich und nehme meine letzten Sachen. »Es war amüsant, aber wirklich nur ein bisschen amüsant und vor allem nervend«, sage ich. Flora legt den Kopf schief und späht unter den Wimpern zu mir hoch.

»Lügnerin«, sagt sie und ich verdrehe theatralisch die Augen.

»Na ja, vielleicht hat amüsant nervend überwogen, aber dann nur in mikroskopisch kleinen Dosen.«

»Rede dir das ruhig ein, Quint«, erwidert sie und schüttelt mit einem leisen Lachen den Kopf. »Das ist alles so albern. Wir wohnen zwar nicht mehr in einem Zimmer, aber ich werde dich jeden Tag sehen, also keine Gefühlsduselei hier.« Sie winkt ab. »Geh. Bring deine Sachen zu Saks und richte Miss Pferdie aus, dass ich das Vergnügen ihrer Gesellschaft erwarte.«

»Wird gemacht.« Ich zwinge mich, ohne einen Blick zurückzuwerfen aus dem Zimmer zu gehen.