Kapitel 17
Am Morgen der Challenge ist es ausnahmsweise mal sonnig.
Okay, die Bezeichnung »sonnig« ist vielleicht ein bisschen zu großzügig, aber es regnet zumindest nicht und die Wolken sind nicht übermäßig dicht, insofern ist es für mich sonnig. Schottlandsonnig.
Ich bin ein bisschen aufgeregt. Okay, megaaufgeregt.
Ja, die Challenge mit Flora durchziehen zu müssen ist suboptimal, aber endlich Schottland auszukundschaften? Das echte Schottland? Nicht mal die Vorstellung, zwei Tage mit Flora allein zu sein, kann meine Begeisterung killen.
Obwohl sie sich, als wir vor der Schule stehen und warten, dass es losgeht, alle Mühe gibt.
»Das ist das Dämlichste, was ich in meinem ganzen Leben tun musste«, nuschelt sie gegen den Rand ihres Styroporbechers. Der Tee dampft in der kalten Morgenluft und lässt ihre riesigen Sonnenbrillengläser beschlagen. Halsaufwärts ist sie die typische Flora – die Sonnenbrille ist von Chanel, ihre Haare sind zwar zu einem hoch angesetzten Pferdeschwanz gebunden, doch die Spitzen sind mit dem Lockenstab eingedreht, außerdem ist sie geschminkt.
Halsabwärts sieht sie genauso scheußlich aus wie wir anderen. Wir haben Khakihosen bekommen und langärmlige T-Shirts und eine dicke Weste, darüber unsere üblichen Gregorstoun-Regenjacken. In unseren Taschen sind noch ein paar Schichten mehr, aber im Wesentlichen sehen wir wie leicht heruntergekommene Zoowärter aus.
Auch wenn nicht alles perfekt passt, ist es für unser Vorhaben trotzdem das praktischste Outfit. Das Internat hatte keine Challenge-Uniformen für Mädchen, deshalb müssen wir – außer bei den Stiefeln – mit getragenen Kleiderstücken vorliebnehmen. Ich habe meine besten Wanderstiefel von zu Hause mitgebracht und wackle gerade mit den Zehen darin.
»Das Dämlichste?«, frage ich Flora. »Das kann ich mir kaum vorstellen.«
Ich warte auf einen dummen Kommentar, aber Flora zuckt nur die Achseln und sagt: »Da könntest du recht haben.«
Ich mustere sie kurz, als ich meinen Rucksack auf die Schultern hieve. »Ist dir nicht gut?«, frage ich. »Oder hast du bloß keinen Bock aufs Zelten?«
»Weder noch, Quint«, erwidert sie und kippt den Rest ihres Tees auf den Schotter. Er bespritzt eine Gruppe Mädchen neben uns. Sie quietschen erschrocken auf, doch als sie sehen, wer den Tee ausgeschüttet hat, kommt kein Kommentar.
Prinzessinnenprivileg, eindeutig.
Flora steckt den leeren Becher in eine Seitentasche ihres Rucksacks; wenigstens erweitert sie die Liste ihrer Sünden nicht um Herummüllen.
Als fünf Vans vorfahren, wird es ein wenig unruhig, neben mir tritt Sakshi von einem Bein auf das andere. »Ich halte das immer noch nicht für nötig«, murrt sie. »Ich finde mich eigentlich selbstständig und auch sehr in Kontakt mit der Welt um mich herum.«
»Wenigstens gehst du mit Elisabeth campen«, ich deute mit einem Kopfnicken auf ihre Mitbewohnerin. »Ich habe Flora am Hals und Perry muss mit Dougal klarkommen.«
Perrys Mitbewohner ist wesentlich größer als er, es ist ein Wunder, dass er mit diesem breiten Kreuz überhaupt durch eine Tür passt. Er boxt Perry gerade kumpelhaft gegen die Schulter, was diesen fast umwirft.
Perry verzieht das Gesicht und reibt sich den Arm. Trotzdem versucht er, Dougal anzulächeln. Dann sieht er zu uns herüber.
Bringt mich um, formt er wortlos mit den Lippen, Sakshi dreht sich wieder zu mir.
»Manchmal triffst du den Nagel auf den Kopf, Millie.«
Wir laden unsere Sachen in die Vans. Wir werden mehrere Meilen voneinander entfernt an abgesprochenen Stellen abgesetzt werden. Mit der Schule abgesprochen sollte ich sagen. Wir haben keine Ahnung, wo wir landen werden. Als wir über den unebenen Boden rumpeln, flüstere ich Sakshi zu: »Vielleicht sind wir nicht weit auseinander. Ich meine, früher oder später müssen wir uns doch alle über den Weg laufen, meinst du nicht?«
Saks schaut aus dem Fenster. Wir fahren nun den Berg hinauf, der Himmel über uns ist immer noch einigermaßen blau, die Hügel sind eine Mischung aus grünem, gelbem und grauem Stein.
»Vielleicht«, antwortet sie. Ich lehne mich über sie, um die Täler sehen zu können. Von hier oben verschwindet das Internat plötzlich in der Ferne. Vielleicht können sie uns tatsächlich weit genug voneinander entfernt verteilen, dass wir uns erst am Montag wiedersehen.
Mein Magen krampft sich leicht zusammen. Mir wird zum ersten Mal bewusst, dass ich irgendwo in der Pampa ausgesetzt werde und man von mir erwartet, dass ich unversehrt zur Schule zurückfinde.
Und das im Team mit Flora.
Das ist vermutlich der härteste Brocken, den ich daran zu schlucken habe; die Vorstellung, dass Flora und ich ohne jeden Komfort leben müssen, und zwar nur wir beide. So wie sie gerade neben mir sichtlich gelangweilt ihre Nägel betrachtet, kann ich mir ziemlich sicher sein, dass meine Chancen, von einem Bären gefressen zu werden, während sie ihre Augenbrauen im Taschenspiegel kontrolliert, extrem hoch sind.
»Gibt es Bären in Schottland?«, frage ich. Danach hätte ich mich eigentlich auch schon früher erkundigen können, aber besser spät als nie.
»Seit Hunderten von Jahren schon nicht mehr«, versichert mir Mr McGregor von vorn, doch dann fängt er wieder an, von seinen Pistolen zu nuscheln, vielleicht lügt er auch. Oh Gott, warum wollte ich jemals nach Schottland?
Wir fahren über einen Gipfel, bei der Aussicht durch die Windschutzscheibe bleibt mir die Luft weg. Vor uns ragt ein steiniger Hügel in den Himmel, die Spitze ist noch immer schneebedeckt, rechts geht es in ein Tal hinunter. Der glitzernde Fluss erinnert im Sonnenschein an eine Filmkulisse.
Deswegen, erinnere ich mich. Deswegen bist du hier.
Mr McGregor schaltet den Land Rover auf Parken und deutet mit einem Kopfnicken zum Fenster. »Auf geht’s, Team A-9, das ist Ihr Startpunkt. Aufstehen und raus, Mädels!«
Team A-9, das sind Flora und ich.
»Alles klar«, antworte ich, während Flora bloß seufzend die Tür öffnet und praktisch aus dem Bus rutscht.
»Bringen wir es hinter uns«, brummt sie. Ich verkneife mir den Kommentar, dass uns diese Einstellung sicher nicht weiterhelfen wird.
Da das Ganze ja Nähe schaffen soll, bin ich entschlossen, mich zumindest … okay, »nett« ist vielleicht zu viel, aber »zivil« zu verhalten. Mehr kann ich mir gerade nicht vornehmen.
Als Mr McGregor unsere Rucksäcke aus dem Kofferraum zieht, lässt Sakshi das Fenster herunter und winkt mich heran. »Courage, mon amie«, sagt sie und hält mir ihren angewinkelten kleinen Finger entgegen, ich hake meinen lächelnd ein und schüttle ihn einmal.
»Dir auch, Saks«, sage ich. »Halt die Ohren steif.«
Flora verdreht bloß die Augen und setzt ihre Sonnenbrille auf.
»Meine Güte«, sagt sie affektiert. »Wir ziehen nicht in den Krieg, es ist bloß ein kleiner Campingtrip.«
Wo sie recht hat, hat sie recht, auch wenn ich es nur ungern zugebe. Aber als ich mich dann umschaue, ist es schwierig, die Challenge einfach bloß als »kleinen Campingausflug« zu betrachten. Die Hügel sehen höher aus, als ich dachte, alles wirkt furchtbar schroff, und als der Van davonfährt, werde ich noch einmal daran erinnert, dass ich die nächsten Stunden nur Flora und eine Menge schottischer Wildnis um mich haben werde.
Das fühlt sich nicht gerade klein an.
Ich räuspere mich und blicke mich um. Ich habe schon mit meinem Vater gezeltet, aber immer auf Campingplätzen, wo geregelt war, wo wir unser Zelt aufschlagen mussten. Abgesehen davon hatten die meisten dieser Plätze, na ja, Toiletten und Duschen und so weiter.
»Wir machen uns vermutlich am besten auf die Suche nach einem geeigneten Platz«, schlage ich vor. Zu meiner Überraschung deutet Flora ein Stück den Hügel hinunter.
»Wir sollten das Zelt dort drüben aufschlagen«, sagt sie. »Auf der anderen Seite des Wassers.«
Am Fuße des Berges ist ein schnell fließender Strom, auf der gegenüberliegenden Seite sieht der Boden flacher und möglicherweise weniger steinig aus.
»Wow, das ist … ja richtig konstruktiv«, ich lächle Flora an. »Guter Plan.«
»Wenn du meinst.« Sie rückt ihren Rucksack zurecht und wir laufen los. Der Wind riecht süß nach Gras und leicht mineralisch von dem Wasser vor uns. Ich lasse ihn mir ins Gesicht wehen und betrachte lächelnd die Wolken, die rasch am Himmel vorbeiziehen.
»Hey, das ist echt toll«, sage ich, es ist mir egal, dass ich die Klamotten von jemand anderem anhabe und von jemandem begleitet werde, der mich nicht besonders mag.
Hinter mir gibt Flora ein Grunzen von sich, das man als Zustimmung deuten könnte, oder als Zeichen, dass das Zelten sie bereits umzubringen anfängt.
Ich kann gerade mit beidem leben.
Am Fuße des Hügels verlässt mich die freudige Meine Lieder – meine Träume-Stimmung ein wenig. Der Fluss, der von weiter oben aussah, als sei er problemlos zu überqueren, ist entschieden breiter und reißender, als ich dachte.
Er ist außerdem … braun. Nicht eklig braun, versteht mich nicht falsch. Das hier sieht eher aus wie ein Fluss aus Rootbeer, eigentlich eine coole Vorstellung, aber es bedeutet auch, dass ich den Grund nicht erkennen kann und demzufolge nicht weiß, wie tief er ist.
Wir sind noch keine zehn Minuten unterwegs und schon sitzen wir in der Patsche.
»Da drüben!«, ruft Flora und deutet auf ein paar Felsblöcke, die einen unebenen und rutschigen Weg übers Wasser bilden. »Dort können wir rübergehen.«
»Dort können wir sterben«, erwidere ich und streiche mir die Ponyfransen aus dem Gesicht. Flora trägt noch immer ihre Sonnenbrille, ihre Wangen sind rosig vom Wind, aus ihrem Pferdeschwanz haben sich ein paar Haarsträhnen gelöst.
Aber sie schüttelt den Kopf. »Ach was, ich habe schon Unmengen von Flüssen wie diesen überquert. Sie sind nie sehr tief, und solange du dir Zeit beim Überqueren lässt, rutschst du auch nicht aus.«
Sie streckt mir die Hand entgegen. »Hier, weißt du was? Ich nehme deinen Rucksack, während du rübergehst.«
Die Vorstellung, die Flussüberquerung ohne den sperrigen Rucksack auf meinem Rücken zu versuchen, ist verlockend, aber ich sehe Flora fragend an. »Aber wie willst du dann rüberkommen?«
Flora zuckt die Achseln. »Ich bin an so was mehr gewöhnt, als du dir vielleicht vorstellen kannst. Wie gesagt, ich war so oft auf der Jagd, und dabei schleppen wir wesentlich schwerere Ausrüstung über wesentlich raueres Terrain. Es ist wirklich nur eine Frage des Gleichgewichts.«
Sie sagt es so selbstbewusst, dass ich meinen Rucksack abnehme. »Wenn du meinst?«
Ich kann ihre Augen hinter den Brillengläsern zwar nicht sehen, aber vermutlich verdreht sie sie gerade. »Ich meine, dass ich diesen Teil so schnell wie möglich hinter mich bringen möchte, also gib mir deinen blöden Rucksack und geh über den Fluss.«
Als sie ihn mir abnimmt, schwankt sie nicht mal unter dem Gewicht. Vielleicht ist Flora robuster, als sie aussieht.
Ich grinse sie an. »Danke!«
»Und los, Quint«, sie deutet auf das Wasser.
Weil ich auf das schnell fließende Wasser unter mir schaue, ist mein erster Schritt nicht so sicher, wie ich mir wünschen würde. Der zweite Schritt fällt mir schon leichter, ich strecke die Hände zur Seite aus und bin superfroh, dass ich nicht, wie eine Schildkröte ihren Panzer, den Rucksack auf dem Rücken habe.
Da ich mich nicht nur auf meine Schritte konzentriere, sondern auch auf den lauter werdenden Wind, das Rauschen des Flusses und das gegenüberliegende Ufer, weiß ich nicht, wie lange ich brauche. Es fühlt sich wie eine Ewigkeit an, aber als ich schließlich das glitschige Ufer auf der anderen Seite erreiche, lächle ich wieder. Ich klettere ein Stück die Böschung hoch, bis ich den Fluss hinter mir gelassen und den festeren, flacheren Boden erreicht habe, auf den Flora anfangs gedeutet hat.
Ich drehe mich um und rufe: »Und jetzt d-«
Die Worte ersterben mir in der Kehle.
Flora ist nicht am anderen Ufer. Sondern direkt hinter mir.
Grinsend.
Und unsere Rucksäcke sind nirgendwo zu sehen.