Kapitel 35

Auf seltsame Art ist es eine Wiederholung des Abends auf Skye.

Ich in meinem grünen Kleid, Flora in einem anderen Ballkleid, dieses Mal golden statt kariert, noch ein Schloss, noch mehr Leute in seltsamen altmodischen Uniformen.

Es sollte sich vertraut anfühlen und für Flora trifft das vielleicht auch zu. Gesellschaftliche Ereignisse wie dieses sind für sie Routine. Für mich jedoch ist alles anders.

Als wir auf eine riesige vergoldete Flügeltür zugehen, schiebt Flora ihren Arm durch meinen. Ich hole tief Luft.

Flora wirft mir einen Seitenblick zu. »Es sind bloß Menschen«, sagt sie. »Und letzten Endes genau wie alle anderen.«

Ich sehe sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Glaubst du das ernsthaft?«

»Oh Gott, nein«, antwortet sie sofort und schaudert leicht. »Verdammt furchterregend, die ganze Bande, mich eingeschlossen.«

Die Bemerkung bringt mich zum Lachen, als sie kurz meine Hand nimmt, drücke ich sie schnell.

Flora mag es scherzhaft gemeint haben, aber dieses spezielle Kennenlernen der Eltern hier ist entschieden krasser als bei Durchschnittseltern.

Nicht, dass wir uns wirklich als das geoutet hätten, was wir sind.

Falls wir überhaupt etwas sind.

Echt jetzt. Ich? Königliche Partnerin? Die Vorstellung ist so absurd, dass ich am liebsten lachen würde.

Als sie meine Hand loslässt, umklammern meine Finger fast reflexartig den leeren Raum und möchten Flora länger festhalten. Und das fühlt sich … nach wesentlich mehr als Freundschaft an.

Doch dann öffnet sich die Tür, und mir bleibt keine Zeit, darüber nachzudenken.

Es ist zwar der private Salon der Familie, trotzdem ist er voller Menschen. Die ganzen Ballkleider und Kilts brauchen vermutlich eine Menge Platz, ich bin vor Verunsicherung schweißgebadet.

Und dann höre ich: »Ah, da ist sie ja.«

Ich habe Floras älteren Bruder zwar noch nie getroffen, aber als er auf Flora zugeht, sie umarmt und auf beide Wangen küsst, erkenne ich Prinz Alexander.

Dann wendet er sich mir zu.

Einen kurzen Moment habe ich Panik. Ich weiß, dass bei der Königin ein Knicks von mir erwartet wird, insoweit vermutlich auch bei einem Prinzen, aber wie tief? Nicht so tief wie bei der Königin, oder?

Ich stelle einen Fuß zurück, bereit zur Verbeugung, doch Alexander stoppt mich lächelnd und schüttelt den Kopf. »Wenn die Familie unter sich ist, muss das nicht sein«, erklärt er und reicht mir stattdessen die Hand.

Ich schüttle sie nervös und drehe mich zu Flora um, die lächelt.

Direkt hinter Alex steht eine hübsche Blondine, es muss seine Verlobte sein, Eleanor. Irgendwie ist es nett, eine andere Amerikanerin in diesem Durcheinander zu sehen; als ich auch ihr die Hand schüttle, ist mein Lächeln vermutlich viel zu breit.

»Hi, ich bin Millie. Amelia. Genau genommen beides.«

»Eleanor«, erwidert sie. »Ellie. Genau genommen auch beides.«

Ihr Lächeln ist echt und herzlich. Vielleicht kann ich mich ja einfach den ganzen Abend mit Alex und ihr unterhalten und um die anderen Mitglieder des Königshauses einen Bogen machen?

»Du bist aus Texas, oder?«, fragt Ellie und ich nicke.

»Ja, aus einem Vorort von Houston. Woher weißt du das?«

Alex drückt seiner Frau lächelnd die Hand. »Ellie macht es sich zur Aufgabe, fast alles zu wissen«, erklärt er. »Ohne sie wäre ich verloren. Ich kann mich weder an Namen erinnern, noch wo jemand herkommt.«

»Das stimmt doch gar nicht«, sagt Ellie zu ihm, aber Flora sieht mich an und formt mit den Lippen: Und wie das stimmt.

Kann es hier so sein? Einfach … irgendwie normal? Wie bei einer ganz gewöhnlichen Familie?

Doch dann blicke ich auf die riesigen Gemälde an den Wänden, die wertvollen Waffen, die Rüstungen, und mir fällt wieder ein, nein, hier ist überhaupt nichts normal, und das sollte ich vermutlich im Hinterkopf behalten.

Alex beugt sich gerade zu Flora und sagt: »Tantchen Argie möchte etwas mit dir besprechen. Ich an deiner Stelle würde es so schnell wie möglich hinter mich bringen.«

Flora stöhnt und verdreht die Augen. »Dann werde ich das mal angehen. Du kommst ein paar Minuten allein klar, oder?«, fragt sie mich.

Ich sehe mich in dem Meer aus funkelnden Juwelen und Champagnerkelchen um. »Oh ja«, sage ich schwach. »Ist ja nichts Besonderes.«

Und dann ist Flora auch schon in einer Wolke aus Seide und teurem Parfüm verschwunden, und als ich mich nach Alex und Ellie umsehe, sind auch sie weg.

Und ich … stehe einfach so da.

»Heeey, du hast diesen glasigen Blick von jemandem, der sich zum ersten Mal mit diesem ganzen Affenzirkus rumschlägt.«

Neben mir steht eine Rothaarige, die mir irgendwie bekannt vorkommt, sie hält mir auf einer Serviette ein Macaron entgegen. »Hier, nimm das«, drängt sie mich. »Der Zucker wird helfen.«

Sie ist ebenfalls Amerikanerin, und plötzlich fällt mir ein, dass sie Ellies jüngere Schwester Daisy sein muss. Sie ist vermutlich auch zu der Vor-Hochzeitsparty angereist. Ich lasse mir das Macaron in die Hand drücken, esse es aber nicht, sondern sehe mir die herumwuselnde Menschenmenge an und den Schmuck, der im Licht der Lampen funkelt. »Ich hatte schon so ein Abendessendings«, erkläre ich Daisy. »Oben im Norden. Da waren auch vornehme Leute, aber … das hier scheint noch mal anders zu sein.«

Daisy nickt und beißt in ihr eigenes Macaron. »Ja, die volle Palastnummer ist schon was. Aber, hey, du hast dich immerhin nicht blamiert oder eine Schlägerei bei einem Polospiel verursacht –«

»Oder eine Duchess beleidigt«, ergänzt ein Junge und stellt sich neben sie. Er ist ein wenig größer als sie, seine Haare sind rotblond und sein Gesicht passt in dieses Prattle-Magazin, auf das Flora so abfährt. Er ist bestimmt einer von Sebs Kumpels, und der Tatsache nach zu schließen, dass sie den Arm um seine Hüften legt, wohl außerdem Daisys Freund.

»Das ist ein Mal passiert«, erklärt sie ihm und hält einen Finger hoch. »Eins. Uno.«

»Gibt es eine Grundanforderung, wie viele Aristokratinnen man beleidigen muss, damit es als ›Zwischenfall‹ bezeichnet wird?«, kontert der Typ. Daisy sieht ihn an und tut, als würde sie überlegen.

»Drei«, beschließt sie. »Drei stinksaure Duchesses, dann ist es ein Problem. Eine geht gerade noch durch.«

Er lächelt sie an, was sein Gesicht unmerklich verändert und ihn jünger und attraktiver aussehen lässt. Außerdem total verliebt.

Wenn man ihren Blick als Gradmesser nimmt, hat es Daisy mindestens genauso schlimm erwischt. Ich suche den Raum nach Flora ab. Sieht man es uns auch so an? Vielleicht nicht?

»Ohhhh, dann bist du also das Mädchen, in das Flora verknallt ist!«

Ich drehe den Kopf leicht erschrocken wieder zu Daisy, die mich angrinst. »Wie? Nein, wir teilen uns ein Zimmer. Beziehungsweise haben uns eins geteilt.«

»Kannst du nicht Mitbewohnerin und Floras Schwarm sein?«, fragt sie, bevor sie sich wieder zu dem Jungen dreht. »Miles, Herzallerliebster, Übernervensäge, würdest du mir und …«

»Millie«, vervollständige ich den Satz und sie nickt.

»Super, Millie. Würdest du Millie und mir was zu trinken holen? Irgendwas Nichtalkoholisches bitte.«

»Das war auch nur ein Mal«, brummt er, doch er drückt ihr einen Kuss auf die Schläfe, bevor er zum Getränkebuffet geht.

»Los, spuck’s aus«, sagt sie, sobald er weg ist. »Ellie und Alex haben nämlich schon Andeutungen gemacht, dass sich Flora über beide Ohren verknallt hat. Und ich muss sagen, ich bin echt froh, dass du so normal und nett aussiehst. Diese Familie kann mehr nett und normal wirklich brauchen. Ich bin normal, aber nett ist nicht so meins. Sorry, ist das zu viel?«

Ich schüttle den Kopf. »Nein, ich bin auch erleichtert, dass es noch jemanden gibt, der kapiert, wie schräg das alles ist.«

»Wahre Ozeane von schräg, meine Liebe, so viel steht fest.«

Einen Moment lang starren wir einfach die ganzen Leute an, die um uns herumwuseln, bis mich Daisy plötzlich mit dem Ellbogen anrempelt und mit einem Kopfnicken zu Miles deutet, der mit Spiffy und Dons neben der Bar steht.

»Aber manchmal«, sagt Daisy, »trifft man jemanden, der das alles wert ist.«

Ich gebe mir wirklich Mühe, sie anzulächeln, aber es gelingt mir offenbar nicht besonders gut, denn Daisy streicht mir über den Arm und presst die Lippen aufeinander. »Es macht aber einen Unterschied, ob der Betreffende die Tortilla und Salsa ist oder gleich die ganze Enchilada.«

Ich sehe sie fragend an. »Tortilla und Salsa?«

Daisy zieht die Nase kraus. »Okay, yeah, aber sag Miles nicht, dass ich ihn so bezeichnet habe. Er betrachtet das vermutlich nicht als Kompliment.«

»Aber es ist eine greifbare Metapher«, gebe ich zu.

Daisy ist sichtlich stolz auf sich. »Fand ich auch. Aber egal. Was ich sagen wollte: Auch wenn es sich anfangs komisch angefühlt hat, mit Miles zusammen zu sein, ist er einfach der tollste Freund. Zuzusehen, was meine Schwester mit Alex durchmacht …« Sie schüttelt den Kopf. »Sie beteuert zwar, er sei es auch wert, und das nehme ich ihr ab, aber ich verstehe, wie es dir geht. Oder vermutlich verstehe ich es so weit, wie es irgendjemand verstehen kann.«

Das ist wirklich gut zu hören. Allerdings bin ich nicht sicher, ob sie es tatsächlich versteht. Zuzusehen oder etwas zu erleben sind zwei verschiedene Paar Stiefel. Aber sie ist trotzdem die erste Person, die zumindest nachvollziehen kann, dass es schräg ist. Perry und Saks leben selbst schon zu lange in dieser Welt, um sie mit meinen Augen betrachten können und objektiv zu sehen, dass das hier … Nicht nur, wie die Leute leben. Es ist ihre Welt. Es ist Floras Welt.

Aber nicht meine.

Aber Flora? Sie ist meins. Jedenfalls im Moment.

Ich spüre wieder Daisys Hand auf meinem Arm, sie kommt ein wenig näher. »Versuch, dir nicht zu viele Gedanken zu machen. Das ist der beste Rat, den ich dir geben kann. Lass es … einfach auf dich zukommen.«

Als ich mich im Salon umsehe, die teuren Abendkleider betrachte und den funkelnden Schmuck und dass tatsächlich Schwerter an der Wand hängen, kommt mir das unmöglich vor und das sage ich ihr auch. »Meinst du, dass irgendjemand in diesem Raum jemals in seinem Leben etwas auf sich hat zukommen lassen?«, frage ich. Daisy folgt meinem Blick und schüttelt den Kopf.

»Vermutlich nicht, nein, aber genau deshalb brauchen sie uns.«

Miles kommt mit zwei Wasserbechern zurück, die er uns mit einer Entschuldigung reicht. »Ich weiß, nicht gerade die aufregendste Getränkewahl, aber es ist das Einzige ohne Alkohol.«

»›Nicht gerade die aufregendste Getränkewahl‹ – wie kann ich dich attraktiv finden?«, brummt Daisy. Aber sie nimmt das Wasser trotzdem und deutet mit einem Kopfnicken auf mich. »Das ist Millie. Das Mädchen, in das Flora verknallt ist.«

»Ich weiß«, sagt er zu unser beider Überraschung. »Davon habe ich schon gelesen.« Als er mich anlächelt, wirkt es aufrichtig. »Glückwunsch und so weiter.«

»Du hast davon gelesen?«, frage ich. »Wo?«