Kapitel 36
Ich sitze im dämmrigen Flur auf einer kleinen Polsterbank und starre auf mein Telefon.
Es ist kein übles Foto von Flora und mir. Eigentlich sehe ich sogar … gut darauf aus. Natürlich nicht so gut wie Flora, ich bin schließlich kein Übermensch. Aber es ist süß, wie wir dort Hand in Hand neben den Felsen stehen und uns anlächeln. Das nächste Foto hat den Moment festgehalten, als Flora mir die Haare aus dem Gesicht gestrichen hat, und okay, das kann ich mir wirklich kaum anschauen, mein verliebter Dackelblick sieht irgendwie albern aus.
Aber ich hänge immer noch an dieser Zeile, Flora habe mit Tam »Schluss gemacht«. Flora hat mir erzählt, Tamsin habe die Beziehung beendet, nicht andersherum. Stimmt das? Ich denke an die Tamsin, die ich auf Skye erlebt habe. Sie wirkte kalt und reserviert, aber war das vielleicht eher Verletztheit als Arroganz?
»Da bist du ja.«
Flora kommt den Gang herunter auf mich zu, ihr Kleid schwingt hübsch beim Laufen. Wie viele solcher Kleider Flora besitzen mag?
Sie nimmt meine Hand. »Wir gehen gleich zum Essen in den Saal. Es wird wie bei Lord Henry sein, wir werden also nicht nebeneinandersitzen, aber ich habe dafür gesorgt, dass du in Daisys Nähe platziert wirst, damit du wenigstens jemanden zum Reden hast und – was ist denn?«
Ich wünschte, ich hätte keines dieser Gesichter, denen man sofort ansieht, was einem durch den Kopf geht, aber ich bin nun mal damit gestraft. Bei meiner Mom war es auch so, erzählt mir mein Vater immer.
»Können wir ganz kurz irgendwo reden?«
Sie sieht über die Schulter zum Ballsaal, aber dann nickt sie, zieht mich von der Bank hoch und weiter den Gang hinunter. »Es wird ein kleiner Skandal, wenn wir zu spät kommen, aber was soll’s.« Als sie mich anlächelt, zeigen sich die Grübchen auf ihren Wangen und sie fügt hinzu. »Du hast wirklich einen guten Einfluss auf mich, Quint – ich habe schon ewig keinen Ärger gemacht.«
Am Ende des Flurs bleiben wir stehen, ihr Lächeln bekommt etwas Verschmitztes. »Ich sollte da vielleicht Abhilfe schaffen«, murmelt sie und dann küsst sie mich sanft. Obwohl sich mir immer noch der Kopf dreht, kann ich nicht anders, als ihre Hand noch einen Moment auf meine Wange zu legen.
Als Flora sich nach dem Kuss von mir löst, lacht sie leicht und fährt mit dem Daumen über meine Unterlippe, was immer noch jedes Mal einen Funkenschauer durch mich jagt. »Warum diese ernste Miene?«, fragt sie. Ich versuche zurückzulächeln, aber vermutlich nicht besonders überzeugend.
Flora öffnet die schwere Tür am Ende des Flurs ohne meine Hand loszulassen. Ein Schwall kalter Luft schlägt mir entgegen. Sie führt mich auf die Dachterrasse, die ich schon mal gesehen habe, wir werden dieses super-peinliche Gespräch also an einem höchst romantischen Ort führen.
Wundervoll.
Ich friere schon an der Tür. Flora geht es nicht anders, aber sie lächelt unverdrossen. »Ich weiß, nicht unbedingt die richtige Jahreszeit dafür«, sagt sie, »aber es ist einer meiner Lieblingsplätze. Sieht Arthur’s Seat von hier nicht fantastisch aus?«
Als ich nach rechts blicke, ragt der schroffe Hügel tatsächlich bis zu den Sternen hinauf, er wird von den Lampen im Park darunter angeleuchtet, sein dunkler Umriss zeichnet sich vor dem nachtblauen Himmel ab.
»Ich wusste, dass dir dieser Ort gefallen würde«, sagt Flora ein wenig selbstgefällig. »Vulkane und so. Felsen für Fortgeschrittene.«
Meine Kehle ist wie zugeschnürt, als ich auf Arthur’s Seat blicke, und für einen Moment überlege ich, die ganze Sache einfach fallen zu lassen. Und Flora noch einmal zu küssen, ihr zu sagen, dass ich es wunderschön hier finde – und das finde ich wirklich – und danach zum Abendessen zurückzugehen.
Ich verschränke die Hände vor mir und drehe mich zu Flora um; sie sieht mich fragend an, ihre Schultern werden steifer. »Quint?«, fragt sie. »Ernsthaft, was ist denn?«
»Hast du mit Tamsin Schluss gemacht?«, frage ich.
»Wie?«
Ich hole tief Luft. »Tamsin«, sage ich. »Du hast es so dargestellt, als hätte sie mit dir Schluss gemacht. Als könntest du verstehen, wie ich mich wegen Jude fühle, aber … ist das vielleicht gar nicht so gewesen?«
Flora zieht die Nase kraus. »Welchen Unterschied macht es?«, fragt sie. Allmählich verlässt mich der Mut.
»Dann … also ja. Du hast mit ihr Schluss gemacht.«
»Nur wegen ihrer schon fast ans Absurde grenzenden Heimlichtuerei«, erwidert Flora. »Ich habe mich zurückgewiesen gefühlt, weil sie nicht wollte, dass das mit uns bekannt wird. Deshalb ist es in meinen Augen –«
»Aber so funktioniert die Welt nicht, Flora«, erkläre ich ihr nun und gehe auf sie zu. »Du kannst nicht einfach sagen ›Na ja, für mich war es so‹, und dann ist es auch tatsächlich so.«
Flora winkt mit einer behandschuhten Hand ab. »Quint, das ist lächerlich. Tamsin hat nichts mit uns zu tun.«
»Doch, hat sie«, widerspreche ich, »denn es war … eine Gemeinsamkeit zwischen uns. Die Sache, die mir das Gefühl gegeben hat, dass es sicher ist, dich zu mögen.«
Ich habe Flora noch nie so verblüfft erlebt, sie stemmt die Hand in die Hüfte und sieht mich mit schief gelegtem Kopf an. »Sicher? Was soll das überhaupt bedeuten?«
Ich schaue seufzend zum Himmel über uns. Es ist klar und kalt heute Nacht, die Sterne funkeln in der tintenschwarzen Nacht. Zu meiner Linken ragt Arthur’s Seat auf, ich bin kurz davor, alles mit einem Kopfschütteln abzutun. Hier oben auf der Terrasse eines Palastes mit einer Prinzessin unter einem sternenhellen Himmel neben einem uralten Vulkan zu stehen, ist wie ein Märchen, das mir nie in den Sinn gekommen wäre.
»Ich will keine Ablenkung für dich sein«, sage ich schließlich. »Ich kann das nicht noch mal sein. Diese Person, mit der man gern Zeit verbringt, bis diejenige, die man wirklich will, wieder zurückkommt.«
»Geht es hier um die niederträchtige Jude?« Dass sie die Arme fest um die Taille schlingt, hat vermutlich nichts mit der Kälte zu tun. Sie ist so schön, wie sie dort in ihrem goldenen Kleid steht, ihre Diamanten und Smaragde funkeln, aber genau wie die Sterne und der Palast und die ganze Nacht sind sie bloß eine Erinnerung daran, wie sehr sich ihr Leben von meinem unterscheidet.
»Vielleicht«, sage ich. »Und lass uns doch mal realistisch sein, Flora. Die Tamsins und Carolines und Ilses dieser Welt sind entschieden mehr dein Typ«, füge ich hinzu. »Ich bin klein, ich habe einen gewöhnlichen amerikanischen Akzent, es ist mir schleierhaft, warum jemand Polo spielt –«
Jetzt ist Floras Gesicht kalt, ihre Schultern sind straff nach hinten gezogen. »Die hältst du also für meinen Typ, ja? Du glaubst, ich hätte bloß Interesse an Mädchen wie Tamsin?«
»Ich glaube, die Prinzessin und das Mädchen mit dem Stipendium machen sich gut auf Papier, aber in der Realität funktioniert es nicht«, erwidere ich, doch Flora winkt wieder ab.
»Himmel, du bekommst doch nicht mal mehr ein Stipendium, und ganz ehrlich, das ist so –«
»Warte, was?«
Ich gehe auf sie zu, der Nachtwind zerrt Strähnen aus meiner Hochfrisur. »Wie meinst du das, von wegen ich bekäme kein Stipendium mehr?«
Floras Kälte lässt ein wenig nach, sie verlagert das Gewicht und weicht meinem Blick aus. »Ich … habe womöglich für den Rest des Jahres dein Schulgeld bezahlt«, erklärt sie.
»Du hast einfach … die Schule bezahlt? Und mir nichts davon gesagt? Mich nicht gefragt?«
Sie sieht mir wieder in die Augen und schiebt leicht die Unterlippe vor. »Oh ja, tut mir wirklich schrecklich leid, dass ich dir einen Gefallen getan habe. Wie böse von mir.«
Aber ich schüttle den Kopf. »Nein, Flora, darum geht es hier nicht, sondern dass du es getan hast, ohne mich vorher zu fragen, ob ich es will. Ich habe dieses Stipendium verdient. Ich habe hart dafür gearbeitet. Es war wichtig für mich, aber du hast es bloß als … was … betrachtet? Etwas Peinliches? Etwas leicht Schäbiges.«
»Ja«, sagt sie jetzt und sieht mir ins Gesicht. »Genau das würdest du gern glauben, oder? Dass ich es nicht ertragen konnte, mit jemandem zusammen zu sein, der nicht meiner Schicht angehört.«
Als sie kopfschüttelnd zurückweicht, wirbelt ihr schwingender Rock eine Parfümwolke auf. »Ganz ehrlich, Quint, wenn das deine Meinung von mir ist, weiß ich wirklich nicht, wie du mich je mögen konntest.«
Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Irgendwie ist das alles so schnell kompliziert geworden und aus dem Ruder gelaufen, dass ich nicht einmal mehr sicher bin, ob ich noch sauer sein soll. Aber ich bin sauer. Und verletzt und durcheinander.
Flora hingegen ist einfach nur sauer. »Ist auch egal«, schnaubt sie. »Diese ganze Szene hier ist total unnötig und ehrlich gesagt auch langweilig. Warum gehen wir nicht einfach wieder hinein, dann kannst du davonrennen und dich in deinem Zimmer verkriechen oder so? Ich werde dafür sorgen, dass du morgen früh von einem Wagen zurück nach Gregorstoun gebracht wirst.«
»Flora, können wir –«, setze ich an, aber sie ist schon auf dem Weg zur Tür, ihr Rock fegt über die Steine, ihre Tiara glitzert.
Und von einer Sekunde auf die andere ist sie verschwunden, zurück in den Palast. Zurück in ihr Leben.
Und ich gehöre nicht mehr dazu.