Wenn Mutters Liebe grenzenlos ist: Lovebombing und narzisstischer Kreislauf
»Gewaltig ist das Mutterherz. Man kann auch, wenn das Kind uns Böses angetan, doch nimmer hassen, was man selbst gebar.«
Sophokles
Lovebombing bedeutet »mit Liebe bombardieren« und gehört üblicherweise zur ersten Phase des sogenannten narzisstischen Kreislaufs. Beziehungen zu narzisstischen Personen sind meiner Erkenntnis nach immer und ausnahmslos diesem Kreislauf unterworfen, der aus fünf Phasen besteht:
Phase 1: Idealisierung. Die narzisstische Person idealisiert ihre Zielperson, erklärt sie zur wichtigsten Person ihres Lebens, ist besonders liebevoll und aufmerksam. Das ist die Phase im narzisstischen Kreislauf, in der üblicherweise Lovebombing stattfindet.
Phase 2: Stabilisierung. In dieser Phase lässt das Lovebombing nach. Die liebevolle Aufmerksamkeit wird merklich reduziert. Das passiert dann, wenn die Zielperson glaubt, dass sie geliebt wird, sich entspannt und sicher fühlt.
Phase 3: Destabilisierung. In der dritten Phase des narzisstischen Kreislaufs beginnt die narzisstische Person merklich mit der Destabilisierung der Zielperson. Alles, was in dieser Phase passiert, ist für die Zielperson ein regelrechter Schock. Die narzisstische Person zieht sich emotional zurück, verhält sich kalt und lieblos, bestraft, verweigert Kommunikation, wertet die Zielperson massiv ab.
Phase 4: Manifestation der Destabilisierung. Abwertung, Beleidigung und Bestrafung der Zielperson sind in dieser Phase zur Normalität geworden. Die Zielperson hat den ersten Schock über die Veränderung, die meist recht plötzlich kommt, überwunden und erwacht aus ihrer anfänglichen Starre. Nun versucht sie besonders gut zu sein, bemüht sich darum, die Liebe der narzisstischen Person zurückzugewinnen, sich so zu verhalten, dass alles wieder so wird, wie es mal war – wie in Phase 1.
Phase 5: Das Ende der Beziehung – oder der narzisstische Kreislauf beginnt von vorn. Eine Zielperson, die psychisch einigermaßen stabil ist und über ausreichend Selbstwertgefühl verfügt, wird sich nach Phase 3 und 4 auf sich selbst besinnen und sich von der narzisstischen Person lösen. Wenn die narzisstische Person selbst aber noch nicht bereit ist, sich zu lösen, beginnt sie den Zyklus erneut mit Phase 1 und idealisiert die Zielperson.
Der narzisstische Kreislauf beschreibt grundsätzlich alle narzisstischen Beziehungen: In Partnerschaften, in Freundschaften und auch in der Beziehung eines narzisstischen Elternteils zum Kind ist der Zyklus der gleiche. Nur fehlt einem Kind gänzlich die Möglichkeit, sich dem narzisstischen Missbrauch zu entziehen. Ein Kind hat keine Chance, einfach wegzugehen, die narzisstische Person hinter sich zu lassen und sich auf sich selbst und die Heilung der eigenen Verletzungen zu konzentrieren. Es ist auf den narzisstischen Elternteil angewiesen und das macht diesen Zyklus in der Mutter-Kind-Beziehung besonders perfide.
Ein Kind ist in Phase 1 genauso glücklich und euphorisch wie jeder erwachsene Mensch, der Zielperson von Lovebombing ist. Es fühlt sich in Phase 2 genauso geliebt und entspannt sich ebenso wie ein erwachsener Mensch, entwickelt ein Gefühl von Sicherheit. Ein Kind ist in Phase 3 genauso geschockt und verfällt erst einmal in eine Art Schockstarre. In Phase 4 wird es ebenso sehr versuchen, wie jeder erwachsene Betroffene auch, aus dieser Situation herauszukommen. Die Liebe der Mutter zurückzugewinnen. Es reagiert genauso mutlos und verzweifelt wie ein erwachsener Mensch, der feststellt, dass es nicht gelingt und das Verhalten der narzisstischen Person vielleicht sogar immer schlimmer wird. Allerdings entfällt die Phase 5, da das Kind dieser Situation ja nicht entkommen kann: Es wird stattdessen stets weiter um die Liebe der Mutter kämpfen. Es wird immer und immer wieder versuchen, das Gefühl von Sicherheit zu bekommen, das jeder Mensch in seiner häuslichen Umgebung und mit den für ihn wichtigen Menschen braucht. Ein Kind geht dabei – wie auch betroffene Erwachsene – immer und immer wieder über die eigenen Grenzen der Belastbarkeit und entwickelt ein Verhaltensmuster, das den Grundstein für weiteren narzisstischen Missbrauch in seinem späteren Leben legt. Es erlebt niemals die emotionale Sicherheit, die es für eine gesunde und stabile Entwicklung so dringend bräuchte, sondern immer nur Zustände zwischen himmelhoch jauchzend (Phase 1), leicht verunsichert (Phase 2) und zu Tode betrübt (Phase 3 und 4). Es wird zwangsläufig Schuldgefühle entwickeln, denn narzisstische Personen weisen die Schuld immer von sich und suchen sie bei ihren Opfern.
Erlebt ein Kind immer und immer wieder den narzisstischen Kreislauf, entwickelt es kein Gespür für die eigenen Grenzen, denn um die Liebe der Mutter zurückzugewinnen, muss es seine eigenen Grenzen immer wieder überschreiten. Es kann daher nicht lernen, auf deutliche Grenzüberschreitungen zu achten. Es wird sich selbst die Schuld geben an dieser Situation und stets das Gefühl haben, ganz viel dafür tun zu müssen, um geliebt zu werden. Es kann dieser Situation nicht entkommen und empfindet eine totale Ohnmacht, denn es ist ja abhängig von der Mutter, ihrer Liebe, ihrer Zuneigung, ihrer Fürsorge. Das Kind einer narzisstischen Mutter ist dieser ausgeliefert und muss das nehmen, was kommt. Während das Kind sich hilflos fühlt, gewinnt die narzisstische Mutter eine Art Allmacht.
Narzisstische Mütter bedienen sich der Technik des Lovebombings ebenso wie jeder Narzisst in einer missbräuchlichen Beziehung. Ich habe vor Kurzem eine Diskussion mit betroffenen Frauen geführt, die kaum glauben konnten, dass sich die narzisstischen Personen in ihrem Leben alle verhalten haben, als seien sie einem Lehrbuch für Narzissten entsprungen.
Um nun etwas näher auf den Begriff »Lovebombing« einzugehen, möchte ich auf meine eigenen Erlebnisse zurückgreifen. Das Verhalten meiner Mutter mir gegenüber empfand ich fast immer als kalt, lieblos und stellenweise grausam: Mit mir wurde nicht gesprochen, ich wurde nicht zu Mahlzeiten gerufen, ich wurde nicht beachtet. Irgendwann war ich an all das gewöhnt. Das heißt aber nicht, dass mir ihr Verhalten nicht unfassbar wehgetan hätte. Ich dachte als Kind immer, dass ich ein besonders furchtbarer Mensch bin, den sie eben nicht lieben kann. Das dachte ich nicht nur, weil ich das auch so oft von ihr hörte, sondern durch die ganz alltäglichen Situationen.
Aber auch in meinem kindlichen Erleben gab es Lovebombing-Phasen. Sie überschüttete mich dann mit einer für mich völlig ungewohnten Liebe. Ich erlebte sie dabei nicht annähernd so liebevoll, wie sie sich meiner Schwester gegenüber verhielt. Aber jedes Mal, wenn sie mich »liebte«, war ich voller Hoffnung, dass alles noch irgendwie gut werden könnte. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie mir jemals ein Schulbrot gemacht hätte, aber es waren Phasen, in denen sie mir morgens eine Mark in die Hand drückte und sagte, ich solle mir ein Frühstück beim Bäcker holen. Den Normalzustand würde ich eher so beschreiben, dass ich mich bei Schulkameradinnen durchschnorrte oder mir von dem Geld, das mir meine Großmutter ab und zu zusteckte, ein Frühstück besorgte. Nein, meine Mutter hat mich wohl nie so liebevoll umarmt wie meine Schwester, aber in ihren Liebesphasen erlebte ich sie als Menschen, der mit einer angenehmen Stimme zu mir sprach und sogar ab und zu mal lächelte. Überhaupt, sie sprach mit mir. Den Normalzustand erlebte ich eher so, dass ich Anweisungen erhielt, was ich zu tun hätte, oder dass ich ihr besser aus den Augen gehen solle, meist gepaart mit Vorwürfen über etwas, das ich nicht richtig gemacht hatte.
Ich erinnere sie wirklich, diese Phasen, in denen sie mir nicht wirklich Liebe und Zuneigung entgegenbrachte, wie ich es immer bei meiner Schwester beobachtete, aber immerhin: etwas Interesse, Aufmerksamkeit und ab und zu ein Lächeln. Für mich waren das bereits Zuneigungsbekundungen, die ich nicht gewohnt war, und sie verursachten in mir immer euphorische Glücksgefühle. Und es gab Zeiten, in denen ich mich entspannen konnte, anfing, mich kurzfristig sicherer zu fühlen. Zeiten, in denen ich Hoffnung entwickelte, sie könnte mich vielleicht doch lieb haben. Diese Phasen gingen immer sehr schnell vorbei und was folgte, empfand ich wieder als ihr übliches gleichgültiges, aggressives und abwertendes Verhalten. Mit der Zeit, mit dem Älterwerden, entspannte ich mich nicht mehr. Ich war ständig in einer nervösen Anspannung und gefasst auf ihre nächste Attacke. Und doch habe ich mich immer nach ihrer Liebe gesehnt.
Auch als Erwachsene habe ich diese Liebe vermisst und mich danach gesehnt. Wir hatten mehrfach jahrelang keinen Kontakt, weil sie ihn immer abgebrochen hatte, wenn sie mich – nur so konnte ich es mir erklären – nicht mehr brauchte. Meist, wenn es einen neuen Mann in ihrem Leben gab und für sie alles rund lief. Kaum war sie allein, fiel ich ihr offenbar wieder ein. Dann bombardierte sie mich durchaus mit Liebe, wenn man das so nennen kann. Sie zeigte Interesse, sie blieb hartnäckig dran, wenn ich mich anfangs zierte, wieder mit ihr zu reden, und gab einfach nicht auf, bis sie mich wieder so weit hatte. Wenn ich dann versuchte, mit ihr über die Vergangenheit zu sprechen, und von ihr erfahren wollte, warum sie mich immer so behandelt hat, stritt sie alles ab. In ihrem Erleben war sie immer gut zu mir gewesen und in solchen Gesprächen konnte sie mich tatsächlich in den Arm nehmen oder mir zumindest über den Rücken streichen und sagen: »Ich habe dich immer geliebt, du bist doch mein Kind!«
Allein das hat mich immer umgehauen und ich fühlte mich wieder voll in ihren Klauen. Ich war wieder in totaler Euphorie, denn natürlich, da war diese Sehnsucht nach ihrer Liebe, ihrer Aufmerksamkeit, einem guten, liebevollen Verhältnis mit meiner Mutter, obwohl ich doch schon lange eine erwachsene Frau war. Etwas in mir wusste, dass es wieder vorbeigeht. Etwas in mir war immer wachsam. Ich war darauf gefasst – und doch fiel ich immer wieder in ein ganz tiefes Loch, wenn der nächste Kontaktabbruch erfolgte. Es dauerte jedes Mal Wochen, bis ich mich aus dieser tiefen Traurigkeit befreien konnte, die mich fast auffraß, immer wieder.
Eine narzisstische Mutter agiert mit Lovebombing, um verschiedene Ziele zu erreichen. Möglicherweise sind ihr diese Ziele nicht einmal bewusst und sie handelt einfach, wie sie es tut, weil es ihr in diesem Moment notwendig erscheint. Bei meiner Mutter schien es mir so, dass sie das immer dann getan hat, wenn sie mich brauchte. Wenn ich für sie lügen sollte oder zumindest ihre offensichtlichen Lügen decken oder bestätigen sollte. Wenn sie irgendwo Eindruck schinden wollte mit ihrer »liebevollen Art«. Wenn sie den Verdacht abwenden wollte, dass es mir zu Hause nicht gut geht, denn es gab natürlich Menschen von außerhalb, die das Verhalten meiner Mutter mir gegenüber sehr misstrauisch beobachteten.
Das Lovebombing meiner Schwester gegenüber sollte sie offenbar an sich binden. In meiner Wahrnehmung ließ sie überhaupt nicht zu, dass sich meine Schwester weiterentwickelte, in irgendeiner Form selbstständig wurde oder eigenständig dachte. Damit hatte sie immer jemanden bei sich, der sie brauchte. Das Lovebombing dort fand dann sein jähes Ende, als ich schon lange nicht mehr da war und meine Mutter wohl andere Pläne und Ziele hatte als ein Dasein als Mutter. Da begann auch meine Schwester den narzisstischen Kreislauf zu erleben.
Geschwister werden mit dieser Methode oft gegeneinander ausgespielt. Sie werden in einen Konkurrenzkampf gebracht und wenn sie diesen Kampf eines Tages nicht mehr kämpfen, weil sie zu müde dafür sind, sind die Wertigkeiten der eigenen Kinder eine unumstößliche Tatsache: Das eine wird geliebt, das andere nicht. Das Goldkind ist auf der sicheren Seite, hat aber immer Angst, eines Tages im Ansehen zu fallen und die Liebe der Mutter zu verlieren. Das schwarze Schaf ist stets voller Sehnsucht und bereit, alles dafür zu tun, sich irgendwann wieder geliebt fühlen zu dürfen. Insgesamt betrachtet verleiht die Aufwertung des einen Kindes der Abwertung des anderen Kindes noch mehr Dramatik und versorgt die narzisstische Mutter mit ausreichend narzisstischer Zufuhr – denn sie weiß durchaus, dass sie die Macht über die Emotionen ihrer Kinder hat. Man kann es ruhig deutlich aussprechen: Es verleiht ihr das Gefühl von Allmacht.
In ähnlichen Kontexten habe ich das auch von anderen Betroffenen so erfahren.
Sabine, Mitte vierzig, erzählt: »Lovebombing, ja – aber immer nur kurz, mal für ein paar Stunden oder einen Tag lang, nie länger. Ich bin ein Einzelkind und war gleichzeitig schwarzes Schaf und Goldkind, wobei die Rolle des Goldkindes eher die Kinder der Nachbarn hatten. Zum Lovebombing kam es dann, wenn meine Rolle vom schwarzen Schaf zum Goldkind wechselte. Merkte sie zum Beispiel, dass ich mich innerlich von ihr distanzierte, dass sie die Kontrolle über mich verlor, dann erlebte ich Lovebombing. Als Beispiel kann ich ihre ›Besorgnis‹ nennen und ihr plötzliches Interesse daran, wer denn meine Freunde sind. Ich hätte doch hoffentlich gute Freunde. Ich habe, seit ich neun Jahre alt war, versucht, meine Freundschaften vor ihr geheim zu halten, weil sie mich damit hätte kontrollieren, steuern und massiv verletzen können.«
In einer stets bedrückenden Atmosphäre der seelischen Gewalt zu leben, ist furchtbar. Es ist das Lovebombing, das uns immer wieder aus diesem tiefen Tal herausholt, uns neue Hoffnung schenkt und die Spirale von vorn beginnen lässt. Jedoch hinterlässt jede Umdrehung im narzisstischen Kreislauf ihre Spuren. Die Hoffnung wird mit jedem Mal kleiner, die Entspannung wird mit jedem Mal geringer und auch die »Schockstarre« lässt nach. Wenn es kein Entkommen aus dem narzisstischen Kreislauf gibt, entsteht irgendwann ein Zustand ständiger Anspannung, in dem man permanent auf das Schlimmste gefasst ist. Man beginnt, den abwertenden und erniedrigenden Aussagen und Handlungen Glauben zu schenken, sie in seine Persönlichkeit zu integrieren. Kurz gesagt, man verliert den Glauben an sich selbst, an den eigenen Wert, daran, dass man es verdient hat, geliebt zu werden.
Das Lovebombing aus der Kindheit integriert sich nach meiner Beobachtung in das Empfindungs- und Verhaltensmuster der späteren Erwachsenen. Es ist etwas, das wir kennen, es fühlt sich vertraut an. Ja, es weckt sogar Sehnsüchte. Jeder Mensch möchte geliebt werden. Lovebombing ist niemals echt, aber das kleine Kind in uns hat gelernt, es als etwas Echtes anzunehmen und Hoffnung zu schöpfen. Das kleine Kind in uns hat ebenso gelernt, sich schuldig zu fühlen, wenn es plötzlich aufhört. Das kleine Kind in uns sucht sofort den Fehler in sich selbst, strengt sich an, gibt sich noch mehr Mühe, um wieder Liebe und Zuneigung zu erleben. Die Liebesphasen – das waren die Phasen im narzisstischen Kreislauf, in denen wir uns gut gefühlt haben. Das könnte eine Erklärung dafür sein, warum es unter den erwachsenen Opfern narzisstischen Missbrauchs so viele gibt, die von intensivem Lovebombing zu Beginn der Beziehung erzählen, der sie in den nächsten narzisstischen Kreislauf ziehen konnte.