Die Folgen von narzisstischem Missbrauch im Elternhaus
»In den Mutterhänden liegt das Los der Menschheit.«
Johann Michael Sailer
In den vorangegangenen Kapiteln, die den narzisstischen Missbrauch durch die Mutter in all seinen möglichen Varianten beschreiben, habe ich auch schon hier und da die Folgen dieses Missbrauchs erwähnt. In diesem Kapitel möchte ich mich dieser Thematik näher widmen und erlaube mir, dazu eine meiner Gesprächspartnerinnen zu zitieren:
»Von einer narzisstischen Mutter hast du dein ganzes Leben lang etwas. Du rennst als erwachsene Frau ahnungslos von einer toxischen Beziehung in die nächste, hast eine toxische Freundschaft nach der anderen, bis du endlich mal durchblickst, dass das alles uralte Muster sind und du nur einer Art innerem Programm folgst. Dann, wenn du endlich anfängst zu verstehen, bist du verzweifelt, weil du so viele Dinge mühsam lernen musst, die für andere Menschen völlig selbstverständlich sind. Du musst erst mal lernen, deine eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen, und bei vielen fängt das schon bei Dingen wie Hunger oder Durst an. Du musst lernen, deine Grenzen zu erkennen und begreifen, dass du das Recht hast, deine Bedürfnisse zu erfüllen und deine Grenzen zu wahren. Du musst lernen, dich selbst zu mögen, du musst lernen, dass du gut genug bist und an dir nichts falsch ist. Du musst eigentlich ein ganz neuer Mensch werden, damit du einigermaßen normal leben kannst.«
Die Folgen eines narzisstischen Missbrauchs in der Kindheit, die ich nach all den Gesprächen klar benennen kann, sind unter anderem:
Ich bin sicher, dass man diese Liste endlos fortsetzen kann – denke aber, ich konnte die wichtigsten Punkte nennen und viele weitere, die Betroffenen dazu einfallen, kann man sicher im Groben hier zuordnen.
Mein persönliches Fazit deckt sich mit dem Zitat oben, aber ich möchte es etwas ausführlicher beschreiben. Zunächst: Frauen, die bei narzisstischen Müttern aufgewachsen sind, fehlt es an Urvertrauen. Insbesondere wenn sie die Rolle des schwarzen Schafs hatten – doch auch bei den Goldkindern. Auch die Goldkinder ahnen, dass etwas nicht stimmt, dass Mutters Liebe gespielt ist, denn sie wirkt insbesondere im Vergleich zur Behandlung des schwarzen Schafs einfach unecht. Goldkinder haben oft ein Leben lang ein schlechtes Gewissen dem schwarzen Schaf oder dem »lost child« gegenüber. Der Mangel an Urvertrauen wirkt sich auch auf spätere Beziehungen aus. Keine Frau mit solchen Kindheitserfahrungen ist in der Lage, darauf zu vertrauen, um ihrer selbst willen geliebt zu werden. Alle haben mehr oder weniger stark ausgeprägte Verlustängste und denken – oft lebenslang –, sie müssten mehr Leistung bringen als andere Menschen. Mehr Verantwortung übernehmen als andere Menschen. Mehr tun als andere, damit man sie überhaupt lieben kann. Alle betroffenen Frauen haben furchtbare Angst davor, irgendwann nicht mehr leistungsfähig zu sein, nicht mehr schön, nicht mehr schlank, nicht mehr gebraucht zu werden. Sie rechnen fest damit, dass sie dann verlassen werden, und leider ist das ein Teufelskreis: Mit diesen meist unbewussten Glaubenssätzen zu sich selbst gerät man fast automatisch an toxische Partner – das sind die Menschen, die es sich gern bequem machen auf Kosten anderer Leute. Das sind auch die Menschen, die ihre Partner dann »entsorgen«, wenn sie nicht mehr brauchbar sind – womit sich dann die negativen Glaubenssätze der Betroffenen bestätigen.
Essstörungen sind sehr häufig unter Betroffenen anzutreffen: Entweder flüchten sie sich aus Kummer und Sehnsüchten ins Essen und futtern sich eine Art Schutzpanzer an. Oder sie vergessen das Essen oder das Trinken. Kann man das vergessen? Ja, das kann man, wenn man nie gelernt hat, auf seinen Körper zu hören, auf seine Bedürfnisse zu achten. Narzisstisch missbrauchte Kinder durften das nie – sie haben umso mehr gelernt, auf die Bedürfnisse anderer zu achten und diese zu erfüllen. Und da sind wir schon wieder beim Teufelskreis der Beziehungen unter Erwachsenen angekommen. Die Bedürfnisse anderer standen in der Kindheit immer an erster Stelle. Das ist Narzissenkindern in Fleisch und Blut übergegangen. Andere werden bekocht, bedient, verhätschelt, wenn sie krank sind. Man selbst nimmt sich zurück, man vergisst das Essen, das Trinken, weil man sich selbst zu spüren verlernt – oder nie gelernt – hat. Betroffene kochen mehrgängige Menüs für andere, für sich allein würden nur die wenigsten überhaupt kochen. Da isst man eine Kleinigkeit oder man vergisst das Essen völlig.
Man hat auch nie gelernt, sich für sich selbst einzusetzen. Das könnte man als »mangelnde Selbstschutzimpulse« bezeichnen, aber wenn diese schon erwähnt werden, darf man ruhig noch weiter gehen: Mangelnde Selbstschutzimpulse führen auch dazu, dass Betroffene sich stets weiter ausbeuten lassen. Sie wollen gefallen. Sie wollen geliebt werden. Und sie können nicht glauben, dass man sie um ihrer selbst willen lieben könnte. Also tun sie alles für andere, für sich selbst hingegen wenig oder nichts. Selbst wenn ansatzweise eigene Bedürfnisse spürbar werden, eigene Wünsche aufkommen, eigene Prioritäten bestehen, so sind Betroffene dennoch stets bereit, diese hintanzustellen und zunächst für andere da zu sein. So haben sie das gelernt. Ohne Rücksicht auf (eigene) Verluste.
Scham- und Schuldgefühle wurden eine ganze Kindheit lang geschürt und das setzt sich, falls der Kontakt zur Mutter weiterhin besteht, oft im Erwachsenenalter gnadenlos fort. Mangelndes Selbstwertgefühl resultiert nun einmal aus der Kindheit mit einer narzisstischen Mutter, und je nachdem, wie heftig der Missbrauch war, kann das mangelnde Selbstwertgefühl in Selbsthass ausufern. Die zuvor aufgeführte Suchtgefahr besteht nicht bei allen, aber bei sehr vielen Betroffenen. Diskutiert man das im größeren Kreis, zeigen sich viele Betroffene erst einmal ablehnend dieser These gegenüber. Drogen? Nein, die haben sie noch nie konsumiert. Oder wenn, dann in der Jugend mal ein paar Joints. Aber was ist mit Nikotin? Was ist mit Medikamenten? Was ist mit Alkohol? Man muss nicht jeden Tag sturzbetrunken sein, um ein Alkoholproblem zu haben. Das kann auch bereits vorliegen, wenn man jeden Abend sein Glas Wein braucht, um abschalten zu können. Es gibt noch so unendlich viel mehr Süchte, die man entwickeln kann, wenn man sich selbst nicht spürt, sich selbst für wertlos hält. Die Sucht nach Sport. Die Sucht nach Spielen. Suchtgefahr hat immer mit Selbsthass zu tun, auch wenn das ein Gefühl ist, das den wenigsten bewusst ist.
Das Unvermögen, der eigenen Wahrnehmung zu vertrauen, ist mir bei all meinen Gesprächspartnerinnen begegnet. Das ist dramatisch. Tiere haben einen Instinkt und darüber reden wir ganz selbstverständlich. Wir schätzen es richtig ein, wenn sich unser eigentlich menschenfreundlicher Hund einer Person gegenüber ängstlich zeigt, diesen Menschen anknurrt oder sich einfach versteckt. In diesem Fall wissen wir, dass dieser Mensch nichts Gutes im Sinn hat. Oder wir ahnen es. Aber was ist mit unserem eigenen Instinkt? Menschen, die starken Missbrauch erlebt haben, sind meist sehr empathisch, denn sie haben von klein auf gelernt, auf die Bedürfnisse und Gefühle anderer Menschen zu achten. Für Kinder narzisstischer Mütter war es überlebenswichtig, die Stimmung der Mutter – und auch die aller anderen Beteiligten – zu erkennen. Sie mussten lernen, rechtzeitig in Deckung zu gehen oder etwas Liebes für die Mutter zu tun, um das Schlimmste abzuwenden. Das hat sie von sich selbst weggeführt – und hin zu ihr. Ihr eigener Instinkt, das Gefühl für sie selbst, für ihre eigenen Gefühle, zum Beispiel, wenn sie jemanden kennenlernen oder vor einer Entscheidung stehen, wurde diesen Kindern aberzogen. Die Mutter hat ihnen die Welt und alles, was sich darin befindet, erklärt. Was sie empfunden haben, war in ihren Augen Unsinn. Kinder narzisstischer Mütter müssen mühsam lernen, ihrer eigenen Wahrnehmung zu vertrauen. Die ist nicht weg. Sie haben nur verlernt, darauf zu hören. Und das lässt sich wieder lernen (mehr dazu im Kapitel »Narzisstischen Missbrauch überwinden«).