Dankbarkeitsfalle und Schuldgefühle
»An verblendeter Mutterliebe sind mehr Menschen zugrunde gegangen als an der gefährlichsten Kinderkrankheit.«
Otto von Leixner
Wenn ich mit Betroffenen über narzisstischen Missbrauch spreche, stoße ich immer schon gleich zu Beginn auf das Thema Dankbarkeit – in einer Form, die auch in meinem Leben immer eine große Rolle gespielt hat: eine unangemessen große Dankbarkeit, hinter der sich Schuldgefühle verbergen. Daher nenne ich es mittlerweile die »Dankbarkeitsfalle«.
Natürlich dürfen und sollten wir dankbar sein, wenn uns jemand etwas Gutes tut und unser Leben uns Positives beschert. Das Wort »danke« an der richtigen Stelle ist darüber hinaus auch höflich. Es gehört sich einfach, dass man sich bedankt, wenn ein anderer Mensch uns etwas Gutes getan hat oder eine nette oder respektvolle Geste zeigte. Als Tochter einer narzisstischen Mutter habe ich jedoch den Eindruck, dass mir immer eine vollkommen unangemessene Dankbarkeit abverlangt worden ist, die mich in meinem späteren Leben so lange von einer menschlichen Falle in die nächste tappen ließ, bis ich verstand, dass ich sie selbst verursache. Auch diese unangemessene Dankbarkeit, verbunden mit Schuldgefühlen, wurde zum Verhaltensmuster. Und genau dieses Muster erkenne ich immer wieder, bei mindestens 90 Prozent aller Betroffenen, mit denen ich zu tun habe. Erzeugt wird es durch Abwertung des Kindes (oder Partners), während gleichzeitig großspurig auf eigentlich ganz normale eigene Leistungen hingewiesen wird.
Als Beispiel sei hier noch einmal Ludmillas Geschichte genannt, die einige Kapitel zuvor zu lesen war. Ludmillas Mutter schuftete rund um die Uhr, hetzte von einer Putzstelle zur nächsten, hielt den Haushalt in Ordnung – und sie versäumte dabei keine Gelegenheit, Ludmilla zu verdeutlichen: »Ich opfere mich auf, damit es dir gut geht und du alles hast. Ich bin fix und fertig, aber ich tu es trotzdem, nur für dich.«
Aufopferung? Nein, es ist ganz normal, dass man als Mutter sein Kind ernährt und dafür sorgt, dass es alles hat, was es braucht. Das verlangt nicht nach einer besonderen Dankbarkeit. Sicher hat es Zeiten gegeben, in denen Ludmillas Mutter es leichter hatte, aber es war ihre Entscheidung, das Familienleben sausen zu lassen und stattdessen eine weitere Putzstelle für den Abend anzunehmen. Dies nun dem Kind permanent vorzuwerfen, ihm zu verdeutlichen, wie sehr sie sich abrackerte, ist letztlich emotionale Erpressung. Wenn jemand etwas für sie tut – auch wenn es sich um selbstverständliche Kleinigkeiten handelt –, hat Ludmilla heute noch das Gefühl, unendlich viel zurückgeben zu müssen.
Diese unendliche Dankbarkeit kenne ich auch von mir – und die Gründe finde ich in meiner Kindheit. Mir wurde zum Beispiel stets gesagt, mein Vater zahle keinen Unterhalt. Doch mein Vater konnte mir später beweisen, dass er immer pünktlich den Unterhalt für mich beigesteuert hat. Von meiner Mutter allerdings hörte ich oft, es fehle mir an Dankbarkeit dafür, dass sie mich trotzdem durchfüttere, das müsse sie schließlich nicht. Es gab so unendlich viele Dinge, mit denen meine Mutter an meine Dankbarkeit appellierte – und ich hatte stets Schuldgefühle und überlegte oft, wie ich ihr meine Dankbarkeit ausdrücken könnte. Das gelang mir nie. Ein frisch gepflückter Blumenstrauß von der Wiese wurde in den Müll geworfen, weil man sich »Unkraut« nicht auf den Tisch stellt. Eine gute Note wurde in den Dreck gezogen, das sei schließlich nichts Besonderes, sondern das Mindeste, das ich zu erbringen hätte, dafür dass sie mich durchfütterte. Dass ich einkaufen ging, das Bad oder das Treppenhaus putzte – all das war für sie das Mindeste, was ich tun konnte, um ihr auch nur ein bisschen von all dem zurückzugeben, was sie mir fast täglich vorwarf, für mich zu tun.
Ich habe in meinem späteren Leben sehr oft von Menschen gehört, dass ich doch einfach mal fragen soll, wenn ich Hilfe benötige. Häufig hieß es: »Warum kannst du denn keine Hilfe annehmen? Ich habe es dir doch angeboten!« Ja, warum? Weil ich immer Angst hatte, man könnte mich als unverschämt empfinden. Ich hatte immer Angst, andere könnten sich ausgebeutet fühlen, weil ich vielleicht nicht genug zurückgeben kann. Und wenn ich mal Hilfe annahm, weil es gar nicht anders ging, erging es mir wie Ludmilla: Ich hatte stets das Gefühl, nun etwas ganz Großes, sehr Besonderes zurückgeben zu müssen, nur um bloß niemandem etwas schuldig zu sein.
Es ist eine Falle, wenn man als Kind schon lernt, dass man anderen ungeheuer viel schuldet und sich gar nicht genug bedanken kann, wenn sie etwas für einen tun. Dies im Zusammenspiel mit dem Gefühl, wertlos zu sein, ist eine Katastrophe. Aus den Glaubenssätzen, die daraus entstehen, kommt man nur sehr schwer wieder heraus. Gerade über das Thema Dankbarkeit habe ich mit so vielen Frauen gesprochen und sie alle, nein, wir alle hatten genau das gemeinsam: diese unendliche Dankbarkeit und das maßlose Überbewerten von ganz normalen Nettigkeiten oder sogar Selbstverständlichkeiten, die uns aber nicht selbstverständlich vorkamen. Das Gefährliche daran: Um Menschen, die in dieser Falle stecken, muss man sich nicht sehr bemühen. Uns hält man einfach mal die Tür auf, nimmt uns im Restaurant den Mantel ab und lädt uns vielleicht sogar zum Essen ein – und wir sind schon unendlich dankbar.
Wenn ich auf meine verflossenen Beziehungen zurückblicke, muss ich ganz ehrlich eingestehen: Diese Dankbarkeitsfalle und all die Schuldgefühle, die damit einhergehen, hatten desaströse Auswirkungen. Zu mir musste man nur ein bisschen nett sein, auf ganz normale Art und Weise, und schon hatte man mich. Je netter jemand zu Beginn einer Beziehung zu mir war, umso mehr hatte ich das Gefühl, ihm etwas schuldig zu sein. Jemandem eine Absage zu erteilen, Nein zu sagen, eine Forderung abzulehnen von jemandem, der nett zu mir gewesen ist – für mich der blanke Horror. Wenn ich dazu gezwungen war, plagten mich noch wochenlang und manchmal sogar monatelang die schlimmsten Schuldgefühle. Oft habe ich deswegen die Ansprüche anderer Menschen einfach nur schweigend erfüllt oder es zumindest versucht, und ich ging dabei ganz oft weit über meine Grenzen. Meine eigenen Belange und vor allem mich selbst stellte ich immer an letzte Stelle – wenn ich überhaupt mal über mich selbst nachdachte. Ich glaube, ich habe viele Jahre lang das getan, was ich bei den allermeisten Betroffenen sehe: Ich war ein dienstbarer Geist, immer für andere da, aber nie für mich selbst.
Ich habe es nur selten gewagt, berechtigte Forderungen an meine Partner zu stellen, wie Hilfe im Haushalt oder eine angemessene Beteiligung an den Ausgaben. Und falls doch, ließ ich mich schnell mit Totschlagargumenten zum Schweigen bringen. Mit Geschenken konnte ich überhaupt nicht umgehen, ich hatte immer das Gefühl, sie nicht zu verdienen. Möglicherweise war das der Grund, warum es alle meine Partner schon nach kurzer Beziehungsdauer nicht mehr für nötig hielten, mir mal ein Geschenk zu machen, und sei es nur zu Weihnachten oder zum Geburtstag. Auch mit Komplimenten konnte ich nicht gut umgehen, ich hielt sie für ironische Bemerkungen, mit denen mir eigentlich etwas Negatives gesagt werden sollte. Statt mich über ein Kompliment zu freuen, spürte ich, wie ich den Kopf einzog und irgendetwas Schlimmes erwartete, das da sicher noch kommen würde.
Man bekommt das, was man aussendet, und meine Signale waren eindeutig: Ich hielt mich selbst nicht für wertvoll, wie konnte ich da für meinen Partner wertvoll sein? Ich mochte mich selbst nicht, vielleicht habe ich meinen jeweiligen Partner dadurch auch zum Zweifeln gebracht, ob er mich mag. Ich glaubte nicht an mich und meine Fähigkeiten, warum sollte dann ein Partner an mich glauben? Wenn ich selbst denke, dass ich kein besonders toller Mensch bin, wie kann ich dann erwarten, dass ich für meinen Partner etwas Besonderes bin? Wenn ich schon unendlich dankbar bin für völlig selbstverständliche Kleinigkeiten, wie konnte ich dann erwarten, dass sich ein Partner mehr oder dauerhaft Mühe gibt?
Ich habe immer versucht, meinen Partnern ihr Leben angenehm und leichter zu machen, irgendwie wertvoll für sie zu werden – und ich habe niemals darauf geachtet, dass auch mir vielleicht mal jemand das Leben angenehmer und leichter machen könnte. Wertvoll wurde ich dadurch für niemanden. Ich wurde gebraucht, und wenn ich nicht mehr gebraucht wurde, war die Beziehung beendet. Ein dienstbarer Geist, der alles, was er besaß, ganz selbstverständlich teilte – aber niemals etwas verlangte. Wagte ich es doch einmal, irgendeine Forderung zu stellen, kam ich ganz schnell wieder an den Punkt, an dem man mir vorwarf, ich sei unverschämt und undankbar. Und schon war ich wieder still und fühlte mich schlecht.
Es hat mich viele, viele Jahre und viel Kummer und Leid, viele Tränen und sehr viel Konfrontation mit mir selbst gekostet, das alles zu überwinden und mir selbst wertvoll zu werden.
Genau solche Geschichten höre ich immer und immer wieder von anderen Betroffenen. Nein, ich bin kein Einzelfall. Die unangemessene Dankbarkeit, die Schuldgefühle, das Gefühl von Wertlosigkeit, die Überzeugung, schöne Dinge, Liebe, Aufmerksamkeit und Zuwendung nicht zu verdienen – das haben alle Betroffenen gemeinsam, mit denen ich bisher sprechen durfte.
Wie aber kommt man aus dieser Nummer raus? Es geht nur mit einem Blick auf das Ganze. Nur wenn man den Missbrauch insgesamt versteht, mit all den Facetten und sämtlichen Details, wenn man sich nicht scheut, darüber nachzudenken, dass diese »heilige Mutter« in unserem speziellen Fall so gar nicht heilig war, sondern sich über ihr Verhalten ein Gefühl der Allmacht geholt hat, wird der Zusammenhang verständlich. Vielleicht hat sich unsere Mutter selbst wertlos gefühlt und es war ihre einzige Möglichkeit, sich zu beweisen, dass sie wertvoll ist. Das ändert zwar nichts an all den Dingen, mit denen sie sich gegen uns versündigt hat. Dennoch ist es mit sehr viel Reflexion und Aufarbeitung zu schaffen, sich selbst etwas wert zu werden. In die Selbstfürsorge zu gehen und zu erkennen, dass man nicht unendlich viel geben und leisten muss, um geliebt zu werden. Liebe muss fließen. Wer liebt, der gibt gern und fordert nichts dafür ein.
Das ist auch eine Ermahnung an uns selbst: Wir dürfen nichts tun, nur um geliebt zu werden, sondern weil wir es tun wollen. Weil es uns Freude macht. Wenn es echt ist und von Herzen kommt, wird es auch niemals dazu kommen, dass wir bereuen, etwas gegeben zu haben, ob es nun materielle Dinge sind oder etwas wie Liebe und Fürsorge. Gib immer nur so viel, dass es dich nicht schmerzt und nicht kaputt macht. Und: Auch du darfst Hilfe, Liebe und Fürsorge annehmen.