»Mutterschaft ist für die Frau nicht die höchste Berufung.«
Leo Tolstoi
Oft hörte ich in den Gesprächen mit anderen betroffenen Frauen: »Ich kenne überhaupt kein Wohlwollen meiner Mutter mir gegenüber. Aber Missgunst, Neid, das kenne ich sehr gut.« Ich möchte das hier gern anhand des Verhaltens meiner eigenen Mutter beschreiben, weil ich glaube, dass ich es so am besten kann – einfach so, wie ich es erinnere und heute einschätze. Meine Schilderungen decken sich in den meisten Teilen mit den Erfahrungen anderer betroffener Frauen.
Wenn meine Mutter sich mir gegenüber wohlwollend gab, dann immer nur in den Anfangszeiten nach den mehrjährigen Kontaktabbrüchen, die wir öfter hatten. Wenn ich mich dann wieder auf sie einließ und mit ihr sprach oder schrieb, war sie tatsächlich irgendwie wohlwollend. Sie zeigte sich interessiert an allem, was mich bewegte, stellte Fragen, sagte mir hier und da sogar mal, dass sie dies oder das gut findet. Das schlug um, sobald der Kontakt wieder selbstverständlich geworden war – zumindest für sie, denn für mich war er das niemals. Dann war ich offenbar wieder normaler Alltag und sie »musste« nichts mehr gut finden, was ich sagte oder tat. Sie hielt sich in diesen kurzen wohlwollenden Zeiten in der Regel mit allen Gemeinheiten zurück. Aber das schwindende Interesse ihrerseits wurde von Woche zu Woche deutlicher. Wenn sie dann kurz davor stand, den Kontakt erneut abbrechen zu wollen, erlebte ich sie wieder als fies. Dann schmierte sie mir Sachen aufs Brot, die ich irgendwann oder in der Anfangsphase des Kontakts mal erzählt hatte, und wertete alles ab, was ich jemals gesagt oder getan hatte. Ich erzählte ihr zum Beispiel in einer dieser Anfangsphasen vom Leben mit meinem Freund und meinen Kindern. Sie stellte interessiert wirkende Fragen und erklärte mir, wie sehr sie sich freut, weil ich zufrieden mit mir und meinem Leben war. Später kam sie dann in irgendeinem Gespräch noch mal auf irgendwas zu sprechen, was ich ihr erzählt hatte, und zog jetzt aber alles durch den Kakao, nannte mich unfähig und dumm, weil ich die Dinge so machte, wie ich sie eben machte. Von Wohlwollen war da für mich keine Spur mehr.
Für Missgunst könnte ich Hunderte von Beispielen bringen. Meine Freunde taugen alle nichts, und das war schon so, als ich noch zu Hause lebte. Meine damals beste Freundin, mit der ich heute noch befreundet bin, wurde von meiner Mutter stets nachgeäfft, sobald sie ihr den Rücken zudrehte. Kaum war sie zur Tür raus, fragte mich meine Mutter, warum ich mich eigentlich mit so einer hässlichen, dicken Tonne abgebe. Zudem sei der Vater ein jämmerlicher Säufer, das sähe man dem doch an! »Such dir Menschen, die über dir stehen«, sagte sie damals. Ich habe darüber lange nachgedacht. Warum eigentlich? Was meinte sie damit? Das konnte sie mir nicht erklären.
Ich wurde älter, hatte neue Freunde. Doch egal, wer bei uns zu Hause aufschlug: »Die taugt doch nichts. Der taugt nichts.« Begründen konnte sie das nie und meist ritt sie auf Äußerlichkeiten herum. Ganz schlimm war in ihren Augen meine Neigung zu »Kanaken«. Ich hatte einige Freunde mit einem ausländischen Hintergrund und habe mir nie Gedanken darüber gemacht, welche Herkunft ein Mensch hat. Letztlich taugte in den Augen meiner Mutter keiner meiner Freunde etwas. Zu fett, zu hässlich, zu dünn, zu klein, zu groß, zu dumm, Brillenschlange, Dorftrottel, Depp, verhinderte Dorfschönheit … das waren die Namen, die meine Mutter meinen Freunden gab. Und immer wieder hieß es: »Such dir Freunde, die über dir stehen.«
Immer wieder fragte ich sie im Laufe der Jahre, was sie damit meint, und ihre Antwort, die eines Tages kam, erinnere ich so: »Na Menschen eben, die besser sind als du, das ist ja nicht schwer, weil die meisten besser sind als du. Aber denen gehst du aus dem Weg und schleppst Leute an, die noch schlimmer sind als du.«
Noch schlimmer als ich? Da war es wieder, dieses »Ich genüge nicht«. Dieses »Ich bin nicht gut genug. Ich bin schlecht, alles an mir ist falsch«. Gedanken, die mich lange beschäftigt haben und mit denen ich mir in vielen Situationen meines Lebens selbst im Weg stand.
Ich glaube heute, dass meine Mutter einfach nur neidisch war. Sie gönnte mir meine Freundschaften nicht, denn ich hatte immer gute Freundschaften. Die Menschen, mit denen ich im Streit auseinandergegangen bin, kann ich bis heute an einer Hand abzählen. Meine Mutter hat mir meine Freunde einfach geneidet, so wie sie mir wahrscheinlich auch die eine oder andere Beziehung geneidet hat. Mein geschiedener Mann, der Vater meiner Kinder, war für sie schon ein No-Go, weil er Türke ist. Allein das schien mir der Grund für ihr Urteil zu sein, das da lautete, er könne ja nichts taugen. Meine Hochzeit boykottierte sie.
Den Mann danach bewertete sie mit: »Na ja, der geht so«, und wohl auch nur deswegen, weil er Deutscher war. Das war ein richtig netter Kerl, auch wenn unsere Beziehung nicht funktionierte. Doch er sei »ekelhaft«, erklärte sie mir mal irgendwann am Telefon. Den Mann, mit dem ich dann später viele Jahre zusammen war, hat sie nur zweimal kurz gesehen. Sie fand ihn »kaltherzig« und »abstoßend«. Es war ein sehr attraktiver Mann: groß, athletische Figur, ein sehr gut aussehendes Gesicht, klasse Frisur, er roch fantastisch, war total gepflegt, auch sehr höflich und gebildet. Und den fand sie abstoßend? Wäre sie zwanzig Jahre jünger gewesen, hätte sie sich bestimmt auf ihn gestürzt, er war genau ihr Beuteschema. Ihr Blick wirkte sehr betrübt, als sie mir ihren Eindruck mitteilte. Und dann versuchte sie mir einzureden, dass er so einen »kalten Ausdruck« um den Mund herum hätte. »Einen wie den hast du sowieso nicht für dich«, sagte sie damals. »Sieh zu, dass du den wieder loswirst, der macht dich unglücklich.« Ich hatte das Gefühl, sie wollte ihn mir regelrecht ausreden.
Nein, sie gönnte mir nichts, das war immer neu mein Eindruck. Sie versuchte alles kaputt zu machen, meine Freundschaften, meine Beziehungen, meine Motivation, mein Selbstbewusstsein, meine Pläne für die Zukunft. Sie neidete mir meine damals noch sehr schlanke Figur und nannte mich »viel zu dünn« und »schlecht proportioniert«. Eigentlich gab es nichts an mir oder an dem, was ich tat, und an all den Menschen, die mich umgaben, woran sie ein gutes Haar gelassen hätte. Ihr Verhalten erschien mir wie pure Missgunst.
Bei meiner Schwester ist das alles ähnlich verlaufen. Sie war im Vergleich zu mir nur eher ein zurückhaltender, ja schüchterner Mensch. Es fiel ihr sehr schwer, Freundschaften zu schließen. Doch wenn sie mal eine Freundin hatte, dann taugte auch die in den Augen unserer Mutter nichts. Sie war nicht gut genug. Bei manchen hieß es, sie würden meine Schwester nur ausnutzen. Beim ersten Mann meiner Schwester erlebte ich mit, wie er von unserer Mutter monatelang regelrecht bekämpft wurde, denn er war ihr als einfacher Handwerker nicht gut genug. Sie sollte sich gefälligst »was Besseres« suchen. Irgendwann beendete meine Schwester die Beziehung zu ihm, weil sie merkte, dass sie mit ihm nicht glücklich werden konnte. Er heulte sich bei unserer Mutter aus und war dann plötzlich in ihren Augen »ein so lieber und armer Junge«. Sie nötigte meine Schwester regelrecht, ihn zu heiraten. Das Argument, das sie nicht glücklich mit ihm sei, ließ sie nicht gelten. Sie sagte so etwas wie: »Das wird schon. Der tut sich sonst was an und dann hast du ihn auf dem Gewissen.«
Meine Schwester und ich haben oft diskutiert, aus welchem Grund unserer Mutter die Gefühle ihrer eigenen Tochter so unwichtig waren und der »liebe Junge«, in dem sie vorher monatelang eine Totalkatastrophe gesehen hatte, plötzlich an erster Stelle stand. Wir sind uns heute einig, dass er mit unserer Mutter wohl einen sehr netten Abend verbracht und sie in ihm ihr neues Projekt gesehen hat. Das Glück der eigenen Tochter wurde darüber offenbar unwichtig.
Aber genau das ist die spannende Frage: Gönnte sie meiner Schwester überhaupt Glück? Vermutlich nicht, sonst hätte sie wohl kaum darauf bestanden, dass sie einen Mann heiratet, von dem meine Schwester zu diesem Zeitpunkt sagte: »Ich liebe ihn nicht.« Der Mann allerdings himmelte unsere Mutter seit diesem einen Abend, den er mit ihr verbracht hatte, zumindest für eine Weile regelrecht an.
Silvia, Ende vierzig, erzählt mir im Gespräch: »Wir hatten bei uns im Verein eine lange Zeit sehr schöne Weihnachtsfeiern, so richtig mit Programm. Als ich dann mehrere hundert Kilometer weggezogen war, ist das leider eingeschlafen. Ein älteres Mitglied fragte mich dann, ob ich nicht Lust hätte, mal wieder so eine schöne Weihnachtsfeier auf die Beine zu stellen. Das habe ich gemacht. Es ging alles soweit gut, bis am Ende eine ganze Reihe Leute an meinen Tisch kamen, um sich zu bedanken, was für eine schöne Feier das wieder war. Da reichte es meiner Mutter und sie witzelte lautstark und überzogen über den ganzen Tisch: ›Ja, eine schöne Schulstunde hat sie uns da wieder gehalten.‹ Das war wohl eine Anspielung auf meinen Lehrerberuf.«
Im weiteren Gespräch berichtet Silvia: »Als Kind war ich sehr hübsch, mit langen, blonden Zöpfen, blauen Augen. Gelegentlich sprachen Bekannte meine Eltern darauf an: So eine hübsche Tochter habt ihr! Meine Mutter zischte dann immer so etwas wie: ›Ja, sagt es ihr nur, damit sie noch eingebildeter wird!‹ Ich war da so etwa fünf oder sechs Jahre alt.«
Missgunst ist etwas, das bei allen narzisstischen Müttern an der Tagesordnung zu sein scheint. Wohlwollen hingegen? Darüber müssen Betroffene sehr lange nachdenken und kommen irgendwann zum Ergebnis: Das haben sie niemals gespürt. Fast alle betroffenen Frauen erzählten mir, dass ihre Mütter alles gegeben haben, um ihre Freundschaften und Beziehungen zu zerstören. Die meisten dieser Frauen haben auch keine guten Beziehungen zu ihren eigenen Geschwistern, weil die Mütter von frühester Kindheit an einen Keil zwischen sie getrieben haben und auch im Erwachsenenalter nicht damit aufhörten, zwischen ihren eigenen Kindern zu intrigieren.
Am Ende läuft es auf die Erkenntnis hinaus, dass eine narzisstische Mutter von jedem einzelnen Menschen, mit dem sie zu tun hat, geliebt und bewundert werden möchte – aber keine Beziehungen von all diesen Menschen untereinander ertragen kann. Vielleicht liegt es daran, dass sie sich dann ausgeschlossen fühlt oder Angst hat, man könnte sich gegen sie verbünden. Möglicherweise spielt auch Schadenfreude oder Sensationslust im eigenen, vielleicht langweiligen Leben eine große Rolle, wenn es darum geht, in der ersten Reihe sitzen und zuschauen zu können, wie andere Menschen sich bekriegen, nachdem man selbst Unfrieden gestiftet hat. Wird man jemals einen ehrlichen Grund für so ein Verhalten erfahren? Ich glaube nicht. Ich denke, Betroffene müssen sich individuell selbst erklären, was der Grund für die Missgunst sein könnte.
Viel wichtiger als eine echte Erklärung empfinde ich persönlich die Einsicht der Betroffenen, dass sie nicht allein sind mit dem, was sie erlebt haben. Dass genau das, was ihnen widerfahren ist, auch vielen anderen in gleicher oder ähnlicher Form passiert ist. Erklären kann man es letztlich sowieso nicht mit logischem Menschenverstand, dass eine Mutter nicht ertragen kann, wenn es ihrem eigenen Kind gut geht. Erst recht kann man kaum eine Erklärung dafür finden, dass eine narzisstische Mutter alles dafür tut, um Glück und Zufriedenheit bei ihrem Kind zu zerstören oder zumindest madig zu machen. Ist das vielleicht Rache für eigenes Unglück? Für eigene Unzufriedenheit?
Ich möchte dieses Kapitel gern mit einer kurzen Erzählung von Lucia, Mitte dreißig, abschließen. Sie hat zwar auf den ersten Blick nichts mit dem Stichwort Missgunst zu tun, wohl aber mit dem Stichwort Wohlwollen. Sie verkehrt es auf so brutale Weise, dass man hier nicht mehr von fehlendem Wohlwollen sprechen kann, sondern von Hass auf das eigene Kind. Auch solche Formen kann maligner Narzissmus annehmen:
»Meine Mutter hat mir nie Kleidung gekauft. Was ich trug, war von einer Freundin aussortiert. Oft Lumpen, die schon Löcher hatten. Auf einer Klassenfahrt meinte mal eine Klassenkameradin zu mir: ›Sag mal, hast du nur eine einzige Unterhose für fünf Tage?‹ Ja, so war das, und die hatte auch Löcher. Meine Zahnbürste wurde nie erneuert. Bevor ich morgens zur Schule gehen konnte, musste ich erst mal die Kotze von dem Säufer aus dem Waschbecken entfernen, mit dem meine Mutter damals zusammen war. Ich wollte mich ja wenigstens waschen können! In den Sommerferien lag ich sechs Wochen fast nur im Bett, damit sie keinen Stress mit mir hat, nur wenn ich für sie die Treppenhäuser putzen musste, durfte ich aufstehen. Ansonsten hatte ich in dieser Zeit einen Topf zum Pinkeln unter dem Bett stehen. Sie wollte meinen hässlichen Anblick nicht ertragen müssen, wenn ich an ihr vorbei zum Klo ging. Ich war auch regelmäßig unterzuckert, denn obwohl ich ständig ihre Arbeit machen musste – sie hatte den Hausmeisterjob für die gesamte Straße, in der wir lebten, angenommen –, bekam ich oft nichts zu essen. Sie sagte, ich hätte es mir nicht verdient. Als mein Busen wuchs, klaute ich mir heimlich von ihr einen BH, damit ich überhaupt einen hatte, denn sie kaufte mir keinen. Ihren Säuferfreund musste ich ›Meister‹ nennen, wenn ich das nicht tat, gab es Schläge.«