Narzissen: Wer sind diese Frauen?

»Ein Kind ohne Mutter ist eine Blume ohne Regen.«

Indisches Sprichwort

In all den Jahren, in denen ich mich nun schon mit dem Thema Narzissmus befasse, stoße ich immer wieder auf ein paar Schlagworte, die ich für sehr bedenklich halte und die ganz sicher auf furchtbaren Missverständnissen beruhen. Da ist oft die Rede von »Täterschutz« oder auch »Schuldumkehr«. Spricht man von eigenen Anteilen in der Persönlichkeit, an denen jeder Mensch arbeiten sollte – was natürlich nur eine Empfehlung ist –, verstehen Opfer von narzisstischem Missbrauch sehr häufig darunter, dass sie mit ihren Eigenschaften an allem selbst schuld sind. Das Wort »Schuld« kommt überhaupt sehr häufig vor – und es ist in solchen Zusammenhängen vollkommen unangebracht.

Kein Kind ist selbst schuld, wenn es schlecht behandelt wird. Kein Kind ist schuld, wenn es nicht geliebt und nicht umsorgt wird. Kein Kind ist schuld, wenn die Mutter es erniedrigt und entwertet. Auch wenn solche Dinge in späteren Partnerschaften passieren, ist man daran nicht schuld. An den eigenen Anteilen zu arbeiten, bedeutet nichts anderes als Ursachen für Verhaltensmuster herauszufinden. Verhaltensmuster laufen in der Regel völlig unbewusst ab und so gut wie niemals stehen dabei schlechte Eigenschaften dahinter, sondern meist sogar sehr schöne. Es ist doch schön, wenn ein Mensch sich gern für andere Menschen einsetzt. Es ist schön, wenn er um seine Beziehungen kämpft und daran arbeiten möchte. Es ist wundervoll, wenn man aus Liebe Dinge für andere tut. Furchtbar ist es aber, wenn all das ausgenutzt wird und erneut narzisstischer Missbrauch stattfindet.

Narzissten wittern all diese eigentlich wundervollen Eigenschaften und machen sie sich zunutze. Das sind keine Prozesse, die vom Gehirn aus logisch gesteuert werden, das passiert einfach – und wer narzisstisch missbraucht wird, ist sich ganz selten darüber im Klaren, dass es gerade diese schönen Eigenschaften sind, die den Missbrauch überhaupt ermöglichen. Man hat uns in der Regel schon als Kind beigebracht, unsere eigenen Bedürfnisse zu verleugnen, keine Grenzen zu setzen, uns an die letzte Stelle zu setzen – und alles für die anderen zu tun. Wir lassen uns in Beziehungen beschimpfen und erniedrigen und müssen uns erst einmal darüber bewusst werden, dass niemand das Recht dazu hat. Wir lassen zu, dass Partner oder auch Freunde, Nachbarn und Vorgesetzte unsere Grenzen überschreiten – weil wir selbst oft überhaupt nicht wissen, wo diese Grenzen liegen und dass wir das Recht haben, anderen Menschen Grenzen zu setzen. Und so mündet ein Missbrauch in den nächsten. Das ist nicht die Schuld der Opfer. Aber mit ausreichend Information und guter Fachliteratur, vor allem aber durch die Hilfe guter Therapeuten, ist es möglich, diese unbewussten Muster zu ergründen, die Ursachen herauszufinden und daran zu arbeiten. Wir sind nicht daran schuld – aber wir sind es uns selbst schuldig, etwas dagegen zu unternehmen.

Und nun komme ich zu den Tätern, in diesem Fall den Täterinnen, den Müttern, über die wir hier sprechen. Im weiteren Verlauf dieses Buches wird sich zeigen, dass es ganz besonders harte Fälle gibt – aber auch Fälle, in denen der Missbrauch überaus subtil stattfand. Dazwischen befinden sich all die feinen Nuancen im Verhalten, wie wir sie auch zwischen den Farben Schwarz und Weiß finden. Und jetzt wage ich den provokanten Satz: Auch Täter sind irgendwann einmal Opfer gewesen. Nur in ganz seltenen Fällen scheint es keine Vorgeschichte zu geben. Die allermeisten narzisstischen Mütter jedoch sind selbst Opfer von narzisstischem Missbrauch gewesen. Das entschuldigt nicht, was sie uns angetan haben. Ich halte es aber für sehr wichtig, darauf hinzuweisen, und möchte eine Frau zitieren, die mir inzwischen zu einer wertvollen und lieben Freundin geworden ist: »Wir sind auch Mütter. Wir müssen all das reflektieren und Ursachen dafür finden, was unsere Mütter zu dem hat werden lassen, was sie geworden sind. Wir müssen dieses Verhalten mit unserem eigenen Verhalten vergleichen und ergründen, ob wir uns ähnlich verhalten. Überprüfen wir uns nicht selbst auf solche Verhaltensmuster, reichen wir die Trauer, die Entwertung, die Ängste, die Schuldgefühle an die nächste Generation weiter. In unserer Zeit steht uns so viel hilfreiche Literatur zur Verfügung, die uns Dinge verstehen lässt. Wir können Therapien machen und uns damit helfen lassen. All das Gelernte müssen wir jedoch auf unser eigenes Dasein als Mutter anwenden, um diesen Kreislauf zu durchbrechen.«

Die Geschichten, die Mütter selbst erlebt haben und die sie zu dem gemacht haben, was sie sind und wie sie sind, sind individuell. Es gibt nicht diese eine Sache im Leben eines Menschen, die alles kippen lässt und aus einem eigentlich guten Menschen einen narzisstischen Menschen macht, der andere – inklusive der eigenen Kinder – nur benutzt, ausbeutet, entwertet, demütigt, vernachlässigt, aus Eigennutz überbehütet, um sie kleinzuhalten, oder sie psychisch und körperlich misshandelt. Es sind immer eine ganze Reihe von Ereignissen, Umständen und Personen, die eine wichtige Rolle in dieser Entwicklung spielten und wenn der Kippschalter umgelegt wird, ist das nichts, was wirklich wahrgenommen wird. Ich betreibe ganz sicher keinen Täterschutz, wenn ich auf diese Umstände hinweise, und ich bin es, die immer und überall sagt: Jeder Mensch hat an jedem Tag seines Lebens die Chance, an sich zu arbeiten, Fehler einzugestehen und ein besserer Mensch zu werden. Ein Gewinn für andere.

An dieser Stelle kann ich nur auf die Geschichte zurückgreifen, die mir von meiner eigenen Mutter bekannt ist. Meine Mutter war das jüngste Kind und die Aufteilung innerhalb der Familie war aus meiner Sicht eindeutig: Ihr älterer Bruder war das Goldkind, sie das schwarze Schaf. Mein Onkel war auch tatsächlich ein Herzchen in seiner ganzen Art, und als er tödlich verunglückte – ich war damals zwölf Jahre alt –, war das ein entsetzlicher Verlust für uns alle. Meine Großmutter ist daran wohl zerbrochen und ich würde sagen, sie hat sich ab diesem Tag an meine Mutter geklammert. Aber in der Kindheit meiner Mutter war das offenbar ganz anders gewesen. Wie man mir von unterschiedlichen Seiten erzählte, log meine Mutter, seit sie den Mund aufmachen konnte, und mein Großvater hätte dann immer gesagt, dass sie das tat, um sich interessant zu machen. Doch ein geliebtes Kind muss sich nicht interessant machen, das tut nur ein Kind, das sich nicht wahrgenommen fühlt.

Meine Oma hatte mit ihr eine sehr schwere Geburt und seit diesem Tag mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen: ständige, sehr heftige Migräneanfälle und Unterleibsbeschwerden. Sie war fortan immer kränklich und obwohl sie eigentlich ein sehr liebevoller Mensch war, ließ sie, so wie ich es erzählt bekommen habe, keine Gelegenheit aus, meiner Mutter zu erklären, sie sei daran schuld, denn all das hat ja erst mit ihrer Geburt angefangen. Während mein Onkel der kleine Sonnenschein meiner Großeltern war, wurde von meiner Mutter viel verlangt. Aus ihr sollte eine ordentliche Hausfrau werden. Man darf nicht vergessen, in welcher Zeit all das passierte: Meine Mutter ist direkt nach Kriegsende geboren. Dass sie an der schlechten Gesundheit meiner Oma schuld ist, erzählte diese jedem, der es hören wollte – oder auch nicht. Und das immer wieder. Auch wenn meine Oma mir Geschichten aus der Kindheit ihrer Kinder erzählte, also meines Onkels und meiner Mutter, so war mein Onkel in ihren Schilderungen immer der Sonnenschein, der mit seiner tollen Art alle verzaubert hat – während meine Mutter schon immer ein Problemkind gewesen sei: Sie log, und sie stahl, was nicht niet- und nagelfest war. Sie war aggressiv gegen Schwächere, was wahrscheinlich nur ein Ausdruck eigener Hilflosigkeit war. Bei meiner Oma galt sie als pampig und aufsässig, während sie vor meinem Opa – der sie auch regelmäßig verprügelte, weil er hilflos war angesichts all der Dinge, die sie anstellte – furchtbare Angst hatte. Gleichzeitig buhlte sie sicherlich um seine Liebe und seine Anerkennung, ebenso wie bei meiner Oma. Ich glaube nicht nur, sondern weiß von meiner Mutter selbst, dass sie sich als Kind nicht wahrgenommen und sehr viel weniger geliebt fühlte als ihr Bruder.

Ich wurde 1964 nur auf die Welt gebracht, wohl weil sie darin die Chance sah, ihrem strengen Elternhaus zu entkommen. Allerdings war sie drei Jahre später wieder zu Hause und eine der ersten geschiedenen Frauen in unserem kleinen Dorf. Meine Großeltern schienen nur zu gern bereit, sie von aller Schuld am Scheitern dieser Ehe freizusprechen. Mein Vater war in ihren Augen der Schuldige, aber meiner Mutter machten sie klar: »Es muss ein neuer Mann her. Du bist nichts ohne einen Mann an deiner Seite. Du kannst sowieso nichts, du musst wieder heiraten. Anständige Frauen sind verheiratet.« Schon wieder stimmte also etwas nicht mit ihr. Meine Mutter fand wieder einen Mann und es wurde geheiratet – der Vater meiner Schwester, die ein paar Jahre später zur Welt kam, wurde zu meinem Stiefvater.

Meine Mutter wurde von ihren Eltern nach wie vor »gedrückt«, so nenne ich es heute. Sie sollte nicht arbeiten und nicht über eine eigene berufliche Entwicklung nachdenken. Nein, das einzige Glück einer Frau bestünde darin, Kinder zu bekommen und großzuziehen. Ich bin sicher, dass meine Mutter eigene Ambitionen hatte, die aber unterdrückt wurden. Das, was ihr eigentlich gar nicht lag, nämlich Haushalt und Kindererziehung, das wurde zur Pflicht, weil sie als Frau nun mal diese Pflicht hatte. Arbeiten gehen, Geld verdienen, Selbstbewusstsein in einem beruflichen Bereich aufbauen: Meine Oma sagte immer, auch zu mir, dass Frauen sich hauptsächlich um die Familie zu kümmern hätten. Daher sei es nur gut, einen Beruf zu lernen, mit dem man sich etwas dazuverdienen könne. Sozusagen das eigene Taschengeld, um sich mal eine Kleinigkeit gönnen zu können, ohne den Mann um Erlaubnis zu fragen. Meine Mutter entschied sich damals für Jobs im Verkauf. Keinen davon hatte sie lange, sie hüpfte von einem in den anderen. Das lag, so hieß es, daran, dass sie immer noch diese Angewohnheiten hätte: lügen, stehlen, betrügen.

Als dann mein Onkel starb – ihr Bruder –, änderte sich alles. Aus meiner heutigen Sicht würde ich es so beschreiben: Meine Großeltern hatten nun nur noch ihre Tochter, und das wurde für sie zum Freifahrtschein. Egal, was meine Mutter anstellte, sie musste niemals die Konsequenzen tragen. Meine Großeltern hielten helikoptermäßig ihre schützenden Hände über sie. Egal, was passierte, sie gaben die Schuld immer anderen – meinem Stiefvater, ihren Chefs, bösen Nachbarn oder auch mir. Egal, in welche schlimme Lage meine Mutter sich manövrierte, es waren immer die anderen schuld. Völlig gleichgültig, welchen Unsinn meine Mutter erzählte – meist ging es um Geld –, meine Großeltern bezahlten die Rechnungen, mit dem Ergebnis, dass meine Mutter niemals selbst Konsequenzen ausbaden musste.

Die Konflikte zwischen meiner Mutter und mir schienen mir in dieser Zeit immer mehr anzuwachsen. Und ich, die ich mich doch als den allergrößten Schatz meiner Großeltern ansah, erlebte nun, dass ich auch von ihnen zum Sündenbock erklärt wurde. Wenn ich mich bei ihnen beklagte, dass meine Mutter mich schlug, mich erniedrigte, mich beschimpfte, mir meine Sachen wegnahm, mir mein Taschengeld oder das, was ich mir verdient hatte, klaute, dann hieß es, ich bilde mir das alles ein. Niemals würde ihre Tochter so etwas tun. Ich war das Kind mit der blühenden Fantasie und erhielt den Rat, ich solle weniger Bücher lesen und am besten überhaupt keine Bücher mehr, die eigentlich ohnehin für Erwachsene geschrieben waren.

Wenn ich das Ganze heute mit sehr viel Abstand betrachte, sieht es für mich so aus, dass meine Mutter eigentlich immer nur die Funktionen zu erfüllen hatte, die andere von ihr erwarteten – allen voran meine Großeltern. Sie durfte sich selbst nicht entwickeln und verwirklichen, wurde auf eine Rolle festgelegt, die sie zu erfüllen hatte, und im Grunde verlangten sie ab irgendeinem Punkt immer nur von ihr, dass sie möglichst wenig Probleme machte. Im Gegenzug wurde sie von meinen Großeltern ständig abgewertet – sie taten das sicher nicht bewusst, aber sie taten es nun einmal. Immerhin war meine Mutter in ihren Augen ja schuld an der Migräne meiner Oma und überhaupt an den vielen anderen Zipperlein, mit denen sie regelmäßig für Stunden auf dem Sofa lag und völlig »out of order« war. Außerdem wurde sie für schuld daran erklärt, dass meine Großeltern sich ständig um sie sorgen mussten. Sie halfen meiner Mutter zwar immer, verteidigten sie bis aufs Blut, warfen ihr aber gleichzeitig vor, der Mensch zu sein, der sie nun einmal war. Sie warfen ihr vor, was sie alles auf sich nehmen mussten, um ihr immer und immer wieder aus der Patsche zu helfen. Niemals schien es meiner Mutter zu gelingen, so zu sein, wie sie sein sollte, alles so zu machen, wie sie es machen sollte, und stets wurde sie auf all das Unglück hingewiesen, das sie über meine Großeltern gebracht hätte.

Das Unglück aller anderen Beteiligten wollten meine Großeltern überhaupt nicht sehen, das war für sie, soweit ich es erlebte, nicht vorhanden. Eigentlich kann ich nur den Kopf darüber schütteln, wie stark dann doch die Einheit war, die sie mit meiner Mutter bildeten. Meine Mutter musste sich – außer bei meinen Großeltern – daher auch niemals bei irgendwem entschuldigen. Sie war ja nie schuld, egal was passierte. Ich würde es heute so zusammenfassen: Sie war für ihre Eltern, zumindest nach dem Tod meines Onkels, Prinzessin und größtes Problem gleichzeitig. Sie wurde in den Himmel gehoben und entwertet. In den Himmel gehoben wurde sie aber nur, weil sie das letzte, noch lebende Kind ihrer Eltern war. Für ihre Persönlichkeit hingegen wurde sie entwertet, denn sie schien ihren Eltern nie gut genug. Das Recht, meine Mutter zu maßregeln und zu kritisieren, lag in den Augen meiner Großeltern nur bei ihnen. Taten andere das, standen sie erbarmungslos hinter ihr und schützten sie.

Ich kann und will meine Mutter nicht freisprechen von all dem, was sie mir und auch meiner Schwester angetan hat. Und auch wenn ich Diagnosen fernbleiben möchte, weil sie mir nicht zustehen: Ich bin davon überzeugt, dass meine Mutter nicht nur einige stark ausgeprägte narzisstische Eigenschaften hat, sondern bei ihr tatsächlich von einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung auszugehen ist. Eine narzisstische Persönlichkeitsstörung, die nicht frei ist von malignen (bösartigen) Anteilen. Ich kann in ihrer Entwicklung so vieles nachvollziehen. Ich kann sogar verstehen, warum sie so geworden ist. Ich kann nur nicht verstehen, dass sie niemals versucht hat, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Ich kann nicht verstehen, dass sie ihr ganzes Leben lang – zumindest soweit ich es weiß – niemals auch nur einen kleinen Fehler bei sich selbst gesucht hat, sondern immer alles auf andere Menschen geschoben hat. Unsere Mutter hat sogar eine Hausdurchsuchung durch die Kripo erleben müssen, sie wurde verhaftet und erhielt ein rechtskräftiges Urteil: Sie musste eine Haftstrafe absitzen. Aber selbst zu dieser Geschichte hörte ich sie niemals etwas sagen. Sie wurde verschwiegen, wo immer es möglich war, oder, falls es sich nicht umgehen ließ, so geschildert, dass sie auch in dieser Erzählung das arme Opfer war, das unschuldig in die Fänge gewissenloser Menschen geraten ist. Auch hier offenbart sich aus meiner Sicht das gleiche Muster: Die anderen waren schuld, gleichgültig wer.

Mir ist es wichtig, in diesem Kapitel über diese Dinge zu sprechen, weil es zum Verständnis bei den Opfern narzisstischer Mütter beitragen kann. Und hier möchte ich beginnen, dich persönlich anzusprechen – in der vertrauteren Du-Form, wie wir sie auch in unseren Gruppen pflegen. Das Verstehen der Zusammenhänge ist wichtig, nicht für die Mutter, sondern für dich selbst. Du wurdest von ihr nicht schlecht behandelt, vernachlässigt, entwertet, erniedrigt, ausgebeutet, misshandelt oder vernachlässigt, weil du als Mensch damit gemeint warst. All das ist dir nicht passiert, weil du hässlich, dumm, frech, unverschämt, undankbar, unbegabt oder sonst etwas warst. Es ist dir passiert, weil du ganz zufällig das Kind warst, das bei dieser Mutter aufwachsen musste, und jedes andere Kind an deiner Stelle hätte sie genauso behandelt. Es lag niemals an dir, es lag an ihr selbst, an ihrer eigenen Störung, an ihrem eigenen Missempfinden, ihrer eigenen Gefühlstaubheit – und all diese furchtbaren Eigenschaften der narzisstischen Störung haben Ursachen. Täter und Opfer – das soll und darf niemals eine Verdrehung erfahren. Aber wir müssen verstehen, dass der Täter-Opfer-Kreis immer größer werden und einen Kreislauf bilden kann. Um aus diesem Kreislauf auszubrechen, unsere eigenen Schmerzen zu überwinden und sie der nächsten Generation zu ersparen, sollten wir uns ruhig auch einmal mit der Entwicklungsgeschichte unserer Täterin befassen.

Ich weiß heute übrigens, dass auch meine Großmutter ein Opfer ihrer Mutter gewesen ist. Unbewusst und ganz sicher mit dem festen Gedanken im Kopf, es besser zu machen, als sie es bei ihrer Mutter erlebt hat, hat sie all das weitergegeben, worunter sie selbst immer gelitten hat. Wenn dieser Kreislauf, diese Kette in den Generationen nicht unterbrochen wird, kann der Missbrauch von Generation zu Generation sogar schlimmer werden.

Ich schließe dieses Kapitel mit der Frage ab, ob der narzisstische Missbrauch für das Opfer verzeihbar wird. Für dich, die Tochter dieser Frau. Der Missbrauch, den du erlebt hast, den ich erlebt habe. Wird er verzeihbar, wenn du die Geschichte deiner Mutter kennst? Wenn du verstehst, warum sie zu diesem Menschen wurde?

Ich denke, nein. Es geht auch nicht um Verzeihen, obwohl das in manchen Fällen sicher möglich ist. Wir sprechen hier nicht von einem Partner, den man verlassen kann, wenn man mit ihm schreckliche Dinge erlebt. Wir sprechen hier von den Frauen, die uns auf die Welt brachten und eigentlich die Personen waren, von denen wir Schutz, Liebe, Fürsorge und noch so einiges mehr gebraucht hätten, aber das Gegenteil bekommen haben. Man löst sich einfacher von einem Partner als von der eigenen Mutter. Sicher wird es Fälle geben, in denen dieser Missbrauch – sofern er nicht allzu heftig war und gut bearbeitet werden kann – verziehen werden kann. Und andere Fälle, in denen ein Verzeihen nicht möglich ist. Ich persönlich kann meiner Mutter nicht verzeihen. Meine Schwester kann es auch nicht. Wir schätzen unsere Erlebnisse als furchtbar ein, als viel zu furchtbar, um sie in allen Details zu erzählen. Doch viele Frauen sind mir begegnet, die einen noch heftigeren Missbrauch erleben mussten. Denn leider: Auch wenn manche Betroffenen denken, dass es nicht schlimmer als bei ihnen sein könnte, oft gibt es bei anderen noch schlimmere Erlebnisse. Man kann es einem Menschen, der sein Leben lang unter heftigem Missbrauch zu leiden hatte, nicht verdenken, wenn er nicht verzeihen kann und den Kontakt zur Mutter abbricht.

Ich möchte allen Betroffenen raten, wenigstens ansatzweise die Entwicklungsgeschichten ihrer narzisstischen Mütter zu ergründen. Diese nachvollziehen zu können, kann tatsächlich ganz enorm dazu beitragen, die Schuld an all dem Erlebten nicht mehr bei sich selbst zu suchen (weil man ein »so schreckliches Kind« war) – sondern klar festzustellen: »Sie hatte ihre Geschichte, die sie zu dem hat werden lassen, was sie letztlich ist. Das hatte nichts mit mir zu tun. Sie ist nicht so geworden, weil mit mir alles Mögliche nicht stimmt – sie war schon lange vor mir so, wie sie ist.« Wir sind nicht schlecht und wir haben dieses Verhalten nicht bewirkt, sondern darunter gelitten.