Ist das wirklich wahr? Narzisstische Lügen und üble Nachrede

»In jeder Art der weiblichen Liebe kommt auch etwas von der mütterlichen Liebe zum Vorschein.«

Friedrich Nietzsche

Hand aufs Herz: Wir haben alle schon mal gelogen und wir werden wahrscheinlich bis ans Ende unserer Tage immer mal wieder lügen. »Mein Auto sprang nicht an« klingt beim Vorgesetzten einfach ganz anders als »Ich kam nicht aus dem Bett«. Diese kleinen Notlügen, ob wir jemanden nicht reinlassen möchten, verschlafen haben oder beim Doktor unsere Symptome ein bisschen übertrieben darstellen, weil wir mal eine Woche Pause brauchen, kennt wahrscheinlich jeder. Sie sind natürlich nicht nett, aber ich denke doch, dass sich an sich ehrliche Menschen sehr gut überlegen, ob und wann sie zu einer Notlüge greifen oder vielleicht doch lieber die Wahrheit sagen. So manche kleine Lüge ist verzeihlich, wenn man die Hintergründe nachvollziehen kann.

Narzisstische Lügen sind anders. Die Lügen einer narzisstischen Person sind Teil des Gewaltprogramms. Narzissten lügen, weil sie nicht wollen, dass man weiß, wohin sie gehen, woher sie kommen, was sie so treiben. Sie lügen sich ihre Vergangenheit zurecht, wie sie diese gerade brauchen, daher können die Erzählungen zur eigenen Vergangenheit bei Narzissten durchaus variieren, je nachdem, mit wem sie gerade sprechen. Sie lügen bezüglich ihrer aktuellen Situation. Und auch das Verschweigen wichtiger Tatsachen sollte nicht unerwähnt bleiben, das immer dann geschieht, wenn sie etwas von einem anderen Menschen wollen und dieser sich ein Bild zur Situation machen muss, bevor er eine Entscheidung trifft.

Narzisstische Lügen werden genutzt, um …

… sich interessant zu machen,

… Aufmerksamkeit zu erhalten,

… sich in den Mittelpunkt zu stellen,

… sich als etwas Besseres darzustellen,

… von anderen Situationen abzulenken,

… die Realität zu verschleiern,

… die Realität anderer zu verdrehen und sie an ihrer Wahrnehmung zweifeln zu lassen,

… sich zu bereichern,

… Partner oder Kinder von ihrem Umfeld zu isolieren oder ihre Pläne zunichtezumachen.

Um zu verstehen, was das alles beinhalten kann, fehlt es den meisten ehrlichen Menschen an der nötigen Fantasie und der kriminellen Energie. Mir fallen so viele Beispiele ein, bei denen ich nur sagen kann: Unsere Mutter hat gelogen. Allein dieses Thema könnte schon ein ganzes Buch füllen. Alle mir bekannten Menschen, die länger mit meiner Mutter zu tun hatten, fragten sich irgendwann, ob das eigentlich wahr ist, was sie erzählt. Sie konnte die abwegigsten Geschichten so glaubhaft schildern, dass man mit offenem Mund dasaß und ihr zuhörte. Und während der Verstand deutlich sagte: »Das kann nicht sein«, war da im Herzen dieses kleine »Ja, aber wenn es vielleicht doch stimmt, was sie erzählt …?«.

Nur ein Beispiel möchte ich erwähnen, so wie es sich für mich aus heutiger Sicht darstellt: Wenn es meiner Mutter an den Kragen ging, bekam sie Krebs. Damit macht man keine Scherze, darüber sind wir uns sicher einig. Mit »an den Kragen ging« meine ich, dass ihr jemand auf die Schliche kam. Es gab Phasen, da konfrontierte sie zum Beispiel mein Stiefvater mit ihren Lügen. Es waren die Phasen, in denen meine Mutter nicht nur damit beschäftigt war, meine kleine Schwester an sich zu binden, sondern offensichtlich auch mich. Sie verhielt sich leise, freundlich und bescheiden. Ich sah ihr an, dass sie furchtbar bedrückt war. Sie fing Unterhaltungen an, befragte mich zu belanglosen Dingen, die sie normalerweise gar nicht interessierten. Ich merkte, sie wollte nicht allein sein. Aber irgendwann mussten wir schlafen gehen, meine Schwester und ich. Und meist ging danach die Brüllerei los. Mir wurde als Erwachsene im Rückblick klar – auch durch Gespräche mit meinem Stiefvater –, dass sie in solchen Phasen wahrscheinlich durchaus wusste, dass es noch richtig Ärger mit ihrem Mann geben würde. Es ging nicht um irgendwelche Kleinigkeiten, die fast täglich für Wirbel sorgten, sondern um irgendwas Großes. Dafür wollte sie uns auf ihrer Seite haben.

Nach einem solchen Streit schlich unsere Mutter dann meist sehr still durchs Haus, versuchte meinen Stiefvater wieder gnädig zu stimmen und verhielt sich allgemein freundlich, aber auf eine mitleiderregende Art. Sie schien jeden wissen lassen zu wollen, dass es ihr gerade sehr schlecht ging, sie sehr unglücklich war. Vor allem meinen Stiefvater.

Und dann kam sie mit der Diagnose Krebs. Wenn ein Mensch an Krebs erkrankt, ist das eine Tragödie. Egal, was dieser Mensch dir angetan hat, er sitzt nun vor dir und schildert dir weinend diese Diagnose – und du denkst nicht mehr über die Dinge nach, die im Vorfeld passiert sind. Du denkst nicht mehr darüber nach, dass da gerade wieder ein großer Betrug aufgeflogen ist. Du denkst nicht darüber nach, dass du so oft mit einem fiesen Grinsen im Gesicht beleidigt und verletzt wurdest. Wahrscheinlich dachte auch mein Stiefvater nicht mehr darüber nach, dass er sich bis eben noch mit dem Gedanken an Scheidung befasst hatte. Nein, da war diese Diagnose: Krebs. Ein Schock für alle Angehörigen. Unsere Mutter versicherte uns glaubhaft, dass sie sich bereits eine Zweitmeinung eingeholt hat und in den letzten Wochen so schweigsam und deprimiert war, weil sie die Untersuchungsergebnisse abwarten musste.

Ich weiß noch, dass ich daraufhin in der Bücherei war und nach Büchern über Krebs gesucht habe. Ich fand auch ein Buch, das verständlich genug geschrieben war, dass ich es mit meinen damals etwa dreizehn oder vierzehn Jahren verstanden habe. Krebs, bösartige Zellen, die wuchern, im ungünstigsten Fall Metastasen bilden und nur mit Chemotherapie und Bestrahlungen behandelt werden können. In der Regel geht dem eine Operation voraus, in der die Chirurgen versuchen, das kranke Gewebe zu entfernen. Ich rechnete also damit, dass unsere Mutter ihre Brüste verlieren würde. Es war gegen Ende der Siebzigerjahre und bedeutete in vielen Fällen ein Todesurteil.

Was mir damals durch den Kopf ging? Ich weiß es nicht mehr. An so viele Dinge kann ich mich genau erinnern, aber daran überhaupt nicht. Ich erinnere nur, dass unsere Mutter ein paar Wochen weg war. Niemand wusste, wo. Sie sagte, im Krankenhaus, sprach von einer Operation, von Bestrahlungen und Chemotherapie. Ich rechnete mit dem, was ich mir angelesen hatte: dass sie ohne Haare und ohne Brüste zurückkommen würde. Ich weiß noch, dass mir meine Großeltern damals sagten, wenn meine Mutter wiederkäme, müsste ich ganz besonders lieb zu ihr sein, denn sie hätte eine schwere Zeit hinter sich und müsse immer noch gegen die Erkrankung ankämpfen.

Unsere Mutter kam zurück, ich weiß nicht mehr, ob nach zwei Wochen oder gar zwei Monaten. Sie kam zurück, sah aus wie das blühende Leben, berichtete strahlend von erfolgreicher Therapie und vollständiger Heilung. Sie hatte ihre Brüste noch und auch ihre Haare sahen aus wie immer. Die Stimmung zu Hause war friedlich.

Bis heute weiß ich nicht, ob mein Stiefvater ihr diese Story abgekauft hat. Meine Großeltern standen jedenfalls voll dahinter und waren voller Sorge, nun auch noch meine Mutter zu verlieren, denn nur wenige Jahre zuvor war ja der ältere Bruder meiner Mutter tödlich verunglückt. Ich bin sicher, dass meine Großeltern hier nicht wissentlich eine Lügengeschichte gedeckt haben, sondern wohl auch von der Krebserkrankung überzeugt waren.

Der »Krebs« kam in den nachfolgenden drei Jahrzehnten immer mal zurück. Im Laufe von dreißig Jahren hat meine Mutter wohl jede Krebsart durchlaufen, die man so aus alltäglichen Berichten kennt. Der Zusammenhang mit ihrer eigenen Situation, in der sie sich jeweils befunden hat, ist mir erst viele Jahre später bewusst geworden. Aus meiner Sicht krönte diese Lüge ihre Methoden, ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen, wenn sie mit irgendwas aufgeflogen war. Ich erlebte sie in solchen Momenten lügend, Kontakte abbrechend, andere beschuldigend, Hals über Kopf umziehend oder mit einzuschüchternden Wutausbrüchen. Wenn all das nicht mehr funktionierte – dann kam der Krebs. Das war die ganz große Lüge, mit der sie ihre Familie zum Schweigen und zur Rücksichtnahme brachte. Die ganz große Lüge, mit der sie Sorgen und Ängste schürte. Der Krebs, so beobachtete ich es mehrfach, war immer auf wundersame Weise verschwunden, wenn das zugrunde liegende, eigentliche Problem nicht mehr angesprochen wurde.

Die vielen kleinen und mittelschweren Lügen meiner Mutter, die mir bewusst wurden und die sie offenbar nutzte, um sich interessant zu machen, Aufmerksamkeit zu bekommen oder sich aus unangenehmen Lagen herauszumanövrieren, sind einfach zu viele, um sie hier aufzuführen. Ich finde praktisch nichts, worüber meine Mutter nicht gelogen hätte.

Von Lügen wissen die meisten Betroffenen eines narzisstischen Missbrauchs zu berichten.

Martha, Ende dreißig, erzählt mir: »Meine Mutter hat sehr oft von mir verlangt, für sie zu lügen. Mir wurde oft verboten, irgendwem etwas zu sagen, oder ich wurde dazu angehalten, Tatsachen zu verdrehen. Erst vor Kurzem war ich bei ihr zu Besuch, da hatten wir wieder so eine Situation. Sie hatte sich Klamotten gekauft und wollte sie meinem Stiefvater vorführen. Sie wollte ihm aber nicht sagen, dass sie die Sachen selbst gekauft hatte, und behauptete ihm gegenüber, ich hätte sie ihr geschenkt. Das war eine so peinliche Situation, zumal sie sich dann noch vor aller Augen theatralisch bei mir bedankt hat.«

Doris, Mitte vierzig, sagt im Gespräch, als wir auf das Thema Lügen kommen: »Oh, da könnte ich so einiges erzählen. Das erste Mal, dass ich meine Mutter wirklich bewusst bei einer dreisten Lüge erwischt habe, war, als ich meinen Urlaub bei ihr verbrachte. Ich habe einen Baum in ihrem Garten stark beschnitten, und nun mussten wir die riesigen Äste vom Haus bis zum Müllplatz transportieren. Sie schlug vor, dass wir das mit einem Leihwagen machen. Ich lehnte das ab und sagte, damit würden wir das ganze Auto versauen, denn aus den Schnittstellen kam klebriges Harz heraus. Sie sagte, das sei doch egal, es wäre ja schließlich nur ein Leihwagen und nicht unser Problem. Angesichts dieser Rücksichtslosigkeit fiel mir schon die Kinnlade runter! Am nächsten Tag aber dachte ich, ich höre nicht richtig, als sie meiner Tochter die Geschichte genau andersherum erzählte, also dass ich den Vorschlag mit dem Leihwagen gemacht hätte, sie das aber abgelehnt hätte, denn wir könnten doch nicht das ganze Auto verdrecken.«

Narzisstische Lügen sind keine einfachen Flunkereien, über die man sich zwar ärgert, sie aber irgendwann vergessen kann. Sie sind ein ganz wesentlicher Bestandteil der Manipulation, mit der narzisstische Personen ihr gesamtes Umfeld überziehen. Das Faszinierende daran ist, dass man normalerweise einem Menschen, von dem man öfter belogen wurde, nicht mehr glaubt und alles infrage stellt, was er erzählt. Nicht so bei Narzissten. Du weißt, sie lügen dir gerade mitten ins Gesicht. Aber sie sehen dir dabei in die Augen und bringen ihre Lügen so überzeugend rüber, dass ich versucht bin zu sagen: Sie glauben sie selbst. Es muss so sein, denn die andere Variante, dass sie so eiskalt sind, dass es ihnen überhaupt nichts ausmacht, dir in die Augen zu sehen, während sie dich offensichtlich belügen, zeigt so viel Schlechtigkeit, dass es kaum zu ertragen ist. Du zweifelst an deinem eigenen Verstand: Du weißt, du wirst belogen, hast aber dennoch das Gefühl, dass das doch überhaupt nicht sein kann. Du hältst dich irgendwann selbst für verrückt, insbesondere wenn die narzisstische Person Menschen hinter sich hat, die sie in ihren Lügen decken.

Bei mir persönlich habe ich festgestellt, dass ich kleine Flunkereien ertragen kann. Aber wenn ich merke, dass ich in einer größeren Sache ernsthaft belogen werde, kann ich nicht mehr vertrauen. Für mich ist das heute ein Grund, Freundschaften zu beenden. Ähnlich sehen das auch andere Betroffene. Lügen sind einfach unerträglich und Missbrauchsopfer reagieren auf sie besonders empfindlich.

Bei der üblen Nachrede handelt es sich streng genommen ebenfalls um eine Form der narzisstischen Lüge. Sie ist möglicherweise das Tüpfelchen auf dem »i«, das Außenstehenden verdeutlichen soll, wie gut die Mutter ist und wie schlecht die Tochter. Das kann ganz harmlos daherkommen, aber bei einer malignen Narzisstin oder gar einer Psychopathin auch Ausmaße annehmen, die darauf abzielen, Karriere, Familie und Existenz der Tochter zu zerstören.

Ich könnte von Müttern erzählen, die nichts Besseres zu tun haben, als durch das Internet zu ziehen und ihre Kinder zu diskreditieren. Die sich sogar speziellen Gruppen anschließen und dort unter ihrem realen Namen die schlimmsten Horrorgeschichten über ihre Töchter oder Söhne erzählen. Als ich selbst eines Tages durch Zufall herausfand, dass ich in der Chronik meiner eigenen Mutter durch den Kakao gezogen und als Monster bezeichnet worden bin, musste ich kurz innehalten und ernsthaft darüber nachdenken, ob ich sie nun anzeigen sollte oder das Ganze besser ignoriere. Ich habe mich für das Ignorieren entschieden.

Narzisstische Mütter stellen sich immer irgendwie als Opfer dar. Sie verdrehen die Tatsachen und inszenieren ganz bewusst melodramatische Auftritte oder Abgänge, die ihren Opferstatus für alle verdeutlichen, die es erfahren sollen. Die üble Nachrede ist dafür ein beliebtes Mittel. Soweit ich sie kennengelernt habe, verstehen sich die sogenannten Narzissen sehr gut darauf, mit leiser, demütiger Stimme zu sprechen, wenn sie von ihrem Leid erzählen, und in ihrem ganzen Auftreten freundlich, bescheiden, sympathisch zu wirken. Nicht selten wird die Inszenierung auch tränenreich. Sie können das so gut, dass die betroffenen Kinder, ganz gleich, wie alt sie sein mögen, nur noch mit offenem Mund staunen können, sind sie doch die eigentlichen Opfer. Sie werden aber als Täter dargestellt.

Normalerweise tun Narzissen solche Dinge, um Mitleid und Aufmerksamkeit zu bekommen, vor allem aber, um Menschen in ihrem Umfeld auf ihre Seite zu ziehen und gegen das eigentliche Opfer zu stimmen. Je bösartiger jedoch die Tendenzen ihres Narzissmus sind, umso schlimmere Folgen hat das Ganze für das Opfer. Mir sind Frauen bekannt, deren berufliche Existenz unwiderruflich vernichtet wurde. Und Frauen, deren bis zum Auftauchen der narzisstischen Mutter harmonische Familie zerstört wurde. Wenn der Narzissmus stark maligner Art ist, scheint es die Mütter nach Rache zu gelüsten, wenn sie nicht die narzisstische Zufuhr bekommen, die sie wollen. Dann schrecken sie auch beim eigenen Kind nicht davor zurück, eine Existenz, eine Familie oder eine berufliche Rehabilitation zu vernichten.

Nicht jede narzisstische Mutter erklärt ihr eigenes Kind zu einem Täter. Viele narzisstische Mütter »bedienen« eher die andere Seite, brüsten sich mit den Erfolgen ihrer Kinder, die diese nur ihrer guten Erziehung zu verdanken haben und den Möglichkeiten, die sie ihnen verschafft haben. Sie erzählen davon gern mit kleinen, eingestreuten Hinweisen darauf, auf was sie dafür alles verzichten mussten und wie schwer das alles war. Narzisstische Mutterherzen zeigen sich entweder voller Stolz und brüsten sich mit ihrer absoluten Hingabe – oder voller Trauer über ihr eigenes Elend, das von ihrem bösen Kind verursacht wurde. Dazwischen scheint es nichts zu geben – diesen Eindruck haben mir all die vielen Betroffenen vermittelt, mit denen ich gesprochen habe.