Gesellschaftliche Akzeptanz und Frauenbild
»Wer sich seiner eigenen Kindheit nicht mehr deutlich erinnert, ist ein schlechter Erzieher.«
Marie von Ebner-Eschenbach
Schon immer, und das gilt weltweit, wurde die Mutter in der Poesie sehr überhöht dargestellt. Die Mutter ist immer die Liebe in Person mit hoher Opferbereitschaft, der man Dankbarkeit zu zollen hat. Wenn man sich einmal durch die Sammlung deutscher Gedichte und Verse bewegt, stellt man schnell fest, dass das Mutterbild unglaublich verklärt wird. Das Mutterbild wird auch in unserem Zeitalter noch durch Sprüche wie »Sie trug dich neun Monate lang unter ihrem Herzen« oder »Sie hat dich unter Schmerzen geboren« manifestiert. Doch braucht es hier so ein Romantisieren? Schauen wir uns einfach nur mal die biologischen Fakten an, so ist es jeder Frau, sofern sie nicht unfruchtbar ist, möglich, schwanger zu werden. Das ist nichts Besonderes. Das Kind dann bis zur Geburt unter dem Herzen zu tragen, ist ein biologisches Erfordernis. Wer A sagt, muss dann eben auch B sagen. Das ist kein Beweis für Mutterliebe, obwohl die Liebe bei einer liebenden Mutter ganz sicher schon in diesen Monaten entsteht und wächst.
Dass es so viele Frauen gibt, die diesem Mutterbild nicht entsprechen, die vielleicht nicht einmal Mutter werden wollen, wird erst jetzt, in unserem dritten Jahrtausend, so langsam zu einem Thema in der Gesellschaft. Lange Zeit (und in vielen Gebieten der Erde bis heute) gab es für Frauen gar keine andere Möglichkeit als Ehe und Mutterschaft. So weit müssen wir aber gar nicht in die Ferne schweifen. Gibt es nicht auch mitten unter uns, in unserem gut situierten Deutschland, eine Menge Frauen, die nur diesen einen Weg kennen und ihn auch gehen, mit genau dieser Verklärung?
Das Frauenbild ist entscheidend bei der Diskussion um den weiblichen Narzissmus. Mir ist bei sehr vielen alten Frauen, die während des Krieges oder kurz danach geboren wurden, aufgefallen, dass sie kein besonders freundliches Frauenbild haben. Mir haben schon so viele alte Damen Begebenheiten aus ihrem Leben erzählt und oft hörte ich dabei euphorische Schwärmereien über wundervolle Männer – die von ihren Frauen betrogen und verlassen wurden. Wundervolle Männer, die extrem unglücklich waren, weil sie einfach nicht liebevoll umsorgt worden sind. Eine ehemalige Nachbarin, die zu dieser Zeit weit über siebzig war, sagte zu mir: »Wenn eine Beziehung schiefgeht, liegt es immer an der Frau.«
Das wollte ich dann genauer wissen. »Ja«, erklärte sie, »bei aller Emanzipation – und ich gönne euch jungen Frauen das ja auch, dass euch alle Wege offenstehen –, aber wenn sich eine Frau für Ehemann und Kinder entscheidet, ist es ihre Aufgabe, sich um die Familie zu kümmern. Ein glücklicher Ehemann bedeutet auch eine glückliche Ehefrau und glückliche Kinder.« Mir blieb die Luft weg, obwohl ich so etwas in dieser Art schon oft gehört habe.
Das einseitige Frauenbild schien mir auch bei meiner eigenen Mutter immer wieder Thema zu sein. Wenn sie von irgendwelchen Pärchen erzählte, dann hieß es immer »dieses fiese Weib« und »der arme Junge«. In der Welt meiner Mutter waren Frauen in den meisten Fällen fiese Weiber, gegen sie wurde intrigiert – obwohl sie gleichzeitig immer nach Frauenfreundschaften suchte. Die Männer dieser Frauen waren immer die »armen Jungs«. Und so hat sie sich Männern gegenüber auch verhalten. Die Männer, die mit ihr zusammen waren, wurden von ihr verniedlicht, verhätschelt und mit Fürsorge überhäuft. Sie schien mir auch davon überzeugt zu sein, dass sie einen Mann viel besser glücklich machen kann, als andere Frauen das könnten. Ich habe mich oft gefragt, was passiert wäre, wenn sie einen Sohn geboren hätte.
Die betroffenen Frauen, die mir berichteten, erzählten auch solche Dinge, bei denen sich ein starkes Gefälle im Ansehen und im Stellenwert von Jungen und Mädchen zeigt. Der Bruder als großer Held, das Mädchen als zu vernachlässigendes Arbeitstier, das den Bruder noch zu bedienen hat. Auch die Männer im Leben der narzisstischen Mütter standen in den Erzählungen aller Betroffenen immer an erster Stelle. Umso wichtiger ist es, sich über den erlebten narzisstischen Missbrauch bewusst zu werden. Es ist wichtig, all das zu erkennen, all diese Verhaltensweisen, sie bewusst zu bearbeiten, einen Weg für sich zu finden, um nicht ein Trauma der eigenen Mutter weiterzutragen und an die nächste Generation weiterzugeben. Die Frauen, die in diesem Buch zu Wort kamen, haben sehr aktiv an sich gearbeitet, nicht nur um ihre eigenen Traumata zu überwinden, sondern auch um die Weitergabe an ihre eigenen Kinder zu verhindern.
Kommen wir zurück auf die gesellschaftliche Akzeptanz. Ich habe einige Jahre Arbeit in der Pflege hinter mir und weiß aus diesem Umfeld, dass es eine Menge alter Menschen gibt, die nur wenig Besuch bekommen. Manche gar keinen. Andere zwar häufiger, aber man merkt, dass die Tochter oder der Sohn sich oft eher damit quälen. Nicht selten sind das übrigens genau die alten Menschen, die auf die eine oder andere Art ihr Umfeld im Pflegeheim regelrecht »aufmischen«. Zimmerkameraden werden als persönliche Dienerschaft missbraucht. Das Pflegepersonal sind die persönlichen Sklaven, die zu springen haben, wenn Madame oder Monsieur einen Wunsch äußern, und sei er noch so abwegig. Ich habe immer mit Liebe gepflegt und kann auch solche Menschen mit Liebe pflegen. Denn ich habe keine persönliche Geschichte mit ihnen und wenn sie mir zu herrisch werden, wahre ich meine Grenzen. Notfalls verlasse ich den Raum. Das tu ich natürlich erst – wie all meine Kollegen –, nachdem ich ausdrücklich darauf hingewiesen habe, dass sie sich bitte freundlich verhalten sollen und weniger tyrannisch. Die ganz jungen Pfleger und Pflegerinnen müssen häufig noch verstehen lernen, was es mit solchen Geschichten auf sich hat. Auch mir blieb das nicht erspart.
Das gesellschaftliche Bild der Mutter kommt deutlich ins Spiel, wenn Kinder und vor allem Töchter keinen Kontakt mehr zu ihren alten Müttern haben. Die meisten Betroffenen denken ja erst mal, auch das – wie der gesamte narzisstische Missbrauch – passiert nur ihnen. Werden sie in ihrem persönlichen Umfeld nach den Eltern gefragt und auf den auffällig seltenen oder gar nicht mehr vorhandenen Kontakt angesprochen, schämen sie sich. Sie fühlen sich schuldig, weil man seine Eltern nicht im Stich lässt. Sie haben sie zwar gar nicht im Stich gelassen, aber je älter die Eltern werden, und erst recht, wenn sie pflegebedürftig werden, empfindet das Umfeld einen Kontaktabbruch häufig so. Sogar wenn es die Mutter selbst war, die den Kontakt abgebrochen hat, heißt es dann: »Man lässt seine Mutter im Alter nicht allein. Wenn das Verhältnis zerrüttet ist, muss man sich eben darum bemühen und es in Zukunft besser machen.« Ich kann auch nicht mehr zählen, wie oft ich hörte: »Es gehören ja immer zwei dazu.«
Ich kann mich noch gut erinnern, obwohl es mehr als zwanzig Jahre her ist, dass in das Haus, in dem ich damals tätig war, eine neue Bewohnerin einzog. Hoch dement, Korsakow-Syndrom, das lässt so gut wie immer auf Alkoholmissbrauch schließen. Nach Krankenhausaufenthalt und Psychiatrie war sie von den Behörden schließlich regelrecht bei uns eingewiesen worden. Es gab keine Familie, beziehungsweise hatten die Kinder wohl schon, so viel war bekannt, seit Jahren keinen Kontakt mehr. In einer Teamsitzung beschlossen wir, bei ihnen zumindest einmal anzurufen, zumal sie von den Behörden ausfindig gemacht worden waren. Ich würde so etwas heute niemals mehr befürworten! Damals war es Unerfahrenheit.
Wir riefen die zwei damals schon um die fünfzig Jahre alten Geschwister an, weil die Mutter weder Pflegeartikel hatte noch irgendwelche Kleidung. Die Wohnung war aufgelöst oder sollte aufgelöst werden, so genau wussten wir das nicht. Sie kamen auch ins Haus, sprachen sehr freundlich mit uns und erzählten uns in einer kurzen Zusammenfassung die Geschichte ihrer Kindheit. Eine stets betrunkene Mutter ist schon schwer zu ertragen, aber solange sie wenigstens noch irgendwie für ihre Familie da ist, kann man es möglicherweise verkraften, ich vermag das kaum zu beurteilen. Aber eine stets betrunkene Mutter, die ihre Kinder schon im Vorschulalter nachts auf die Straße setzt, damit sie ihre Ruhe haben kann mit dem Mann, den sie in irgendeiner Kneipe abgeschleppt hat und der ebenso sturzbetrunken ist – das ist kaum aushaltbar. Die Geschwister erzählten uns, dass sie wahrscheinlich nicht überlebt hätten, wenn die Nachbarn nicht so beherzt eingegriffen hätten. Sie haben die Kinder immer wieder zu sich geholt, bei sich übernachten lassen, sie mit Essen versorgt, sie bei sich baden lassen, ihre Kleidung gewaschen. Die häufigen Anrufe der Nachbarn beim zuständigen Jugendamt brachten offenbar nicht viel, es kümmerte sich niemand darum. Und nun, Jahrzehnte später, hatten wir beschlossen, diese inzwischen fünfzigjährigen Geschwister dazu zu bewegen, sich um ihre Mutter zu kümmern? Den Kontakt herzustellen? Wenn ich darüber nachdenke, überkommt mich immer noch ein tiefes Schamgefühl. Aber vielleicht war es auch eine wichtige Lektion: Ich habe zu dieser Zeit verstanden, dass nicht nur wir, meine Schwester und ich, in einer dysfunktionalen Familie aufgewachsen sind, sondern dass das auf viele Menschen zutrifft.
Heute weiß ich: Wenn sich jemand nicht um seine alte, kranke Mutter oder den alten, kranken Vater kümmert – dann hat das in 99 von 100 Fällen ganz massive Gründe und ich würde mir heute auf keinen Fall noch mal anmaßen, das in irgendeiner Form zu bewerten. Ich weiß, dass ich damals Hochachtung vor diesen beiden Menschen hatte, die so ausgeglichen wirkten, so freundlich waren, sich offenbar sehr nahestanden und uns so bereitwillig erzählten, warum sie sich für immer von ihrer Mutter getrennt hatten.
Ich selbst habe mich zeit meines Lebens geschämt, weil ich oft jahrelang keinen Kontakt zu meiner Mutter hatte. Zumal ich da hilflos war, denn bis auf das letzte Mal war es ja immer sie gewesen, die den Kontakt zu mir abgebrochen hatte. In all den Jahren, ja Jahrzehnten, habe ich es nie gewagt, anderen die Wahrheit zu sagen. Wenn ich es doch einmal getan habe, dann klang ich vermutlich ziemlich durcheinander, weil mich das Thema emotional immer überfordert hat. Ich habe dann zu viel erklärt, zu viel Durcheinander erzählt. Bei manchen Menschen, mit denen ich nicht näher zu tun hatte, die aber aus irgendeinem Grund nach solchen Dingen fragten, sagte ich: »Meine Mutter ist tot.« Und fühlte mich schlecht dabei. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, fühlte mich, als würde ich damit ihren vorzeitigen Tod heraufbeschwören. Aber das ist ja nicht der Fall, ich wünsche ihr nichts Schlechtes.
In den letzten Jahren, seit ich mich intensiv der Thematik gewidmet habe, hat sich etwas verändert. Ich gebe keine langen Erklärungen mehr ab. Ich verschweige auch nichts mehr. Ich sage, wie es ist, aber da reicht eine knappe Feststellung, die meinen Blick auf das Ganze kurz zusammenfasst: »Meine Mutter hat eine Persönlichkeitsstörung und ich habe deswegen eine höllische Kindheit gehabt.«
Das reicht den Menschen in der Regel schon und sie stellen keine weiteren Fragen. Da ich inzwischen aber auch offen mit dem Thema umgehe, auch in meiner eigenen virtuellen Selbsthilfegruppe und in anderen Gruppen, entwickeln sich hier und da doch wieder längere Gespräche. Viele wissen, dass ich Bücher zum Thema schreibe. Die Gespräche heute zu diesem Thema sind ganz anders, sie sind echter Austausch. Es macht natürlich einen riesigen Unterschied, ob man sich zu diesem Thema austauscht, weil mehrere Menschen, die aufeinandertreffen, die gleichen oder ähnliche Erlebnisse haben. Oder ob man in seinem privaten Umfeld im Rahmen einer ganz harmlosen Plauderei eine solche Bombe platzen lässt. Vor Menschen, mit denen man befreundet ist und die ein tolles Verhältnis zu ihrer Mutter haben.
Ich empfinde keine Scham mehr. Ich weiß jetzt, dass mit mir alles richtig läuft und ich meine Wahrnehmung ernst nehmen darf. Ich weiß heute, dass ich nichts dafür konnte, dass sie mich anscheinend so hasste. Es war nicht meine Schuld. Ich war nie ein hässliches Kind und auch niemals hassenswert. Ich war nie dumm, ich war nie böse, ich war nie all das, was sie von mir behauptete. Ich war ganz viel, was sie nicht wahrnehmen wollte. Oder was sie wahrnahm und mich dafür noch mehr ablehnte? Vielleicht war ich das, was sie gern gewesen wäre. Vielleicht konnte ich das, was sie nie konnte. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur: All das, was sie sagte und tat, lag nicht an mir.
Ich gehe inzwischen selbstbewusst mit der Thematik um. Ich erzähle in persönlichen Gesprächen strukturierter, ich weiß auch, dass ich den Menschen nicht mehr alle Details schildern muss, damit sie mich und meine Entscheidung, den Kontakt abzubrechen, verstehen. Oft schon wurde ich gefragt, was ich täte, wenn meine Mutter jetzt plötzlich pflegebedürftig würde. Ich frage dann zurück: Was würde die Pflegebedürftigkeit an der grundsätzlichen Situation ändern? Gut, möglicherweise wird sie auch dement und weiß überhaupt nicht mehr, dass ich ihre Tochter bin. Vielleicht weiß sie auch gar nicht mehr, dass sie mich eigentlich immer gehasst hat, und findet mich plötzlich total toll? Aber was würde es ändern?
In meinen Augen nichts. Egal, wie dement sie wird, und egal, wie hoch ihr Pflegegrad sein mag, falls es dazu kommt, es ändert nichts an der Vergangenheit. Ich will mich einfach nicht um einen Menschen kümmern müssen, den ich so erlebt habe, dass er sich zeit seines Lebens nicht um mich gekümmert hat und nur Kontakt zu mir haben wollte, wenn sonst niemand da war. Ich mag mich nicht um einen Menschen kümmern, der mir, ich kann es nicht anders sagen, voller Kalkül, absichtlich, oft äußerst raffiniert, massiv geschadet hat. Wenn sie eines Tages pflegebedürftig werden sollte, wird man sich in einer Einrichtung um sie kümmern. Wenn sie irgendwann stirbt, dann ist das eben so. Dann stirbt für mich und meine Schwester auch ein jahrzehntelanger Albtraum. Aber muss ich das rechtfertigen? Ich glaube, nicht.
Es ist sehr interessant, wie die Menschen auf solche Statements reagieren. Betroffene verstehen solche Aussagen sofort. Wer selbst narzisstischen Missbrauch durch die eigene Mutter erlebt hat, wird sich niemals darüber auslassen, wenn ein anderer Betroffener seine persönlichen Konsequenzen zieht oder seine Geschichte öffentlich macht. Menschen aber, die in funktionierenden, liebevollen Familien aufgewachsen sind, reagieren nicht selten mit totalem Unverständnis auf solche Entscheidungen. Wer es nicht kennt, wer in einem Umfeld aufwächst, in dem über alles und jedes Problem gesprochen werden kann, in dem jeder Konflikt gelöst wird, kann sich so etwas überhaupt nicht vorstellen. Ich habe da schon viel zu oft gehört: »Da setzt man sich mal zusammen an den Tisch und klärt das Ganze.«
Wenn das so einfach wäre, hätte man das als Betroffener ja nicht zehn, zwanzig oder noch mehr Jahre versucht, oder? Und wie soll man Dinge klären, die doch in den Augen des Gegenübers niemals passiert sind? Und dann gibt es noch die »Unter-den-Teppich-Kehrer«: Das ist hinter verschlossener Tür passiert, das ist eine Familienangelegenheit, darüber spricht man nicht. Nicht miteinander. Und auch nicht mit anderen. Und schon gar nicht öffentlich.
Würde meine Mutter heute zu Wort kommen und dürfte sie meine Kindheit aus ihrer Sicht beschreiben, würde sie diese wahrscheinlich in den schönsten Farben malen und gleichzeitig schildern, was für ein schwieriges Kind ich gewesen bin. All die Schläge sind nie passiert, all die Beleidigungen, Demütigungen und Verletzungen sind auch nie passiert. All der Hass, den ich erinnere.
Angesichts der intensiven Aufklärung der letzten Jahre habe ich die Hoffnung, dass das Thema »Narzisstische Mütter« ein bisschen aus der Schublade der Tabuthemen herauskommt. Es war schon sehr deutlich zu spüren, wie verhalten die Menschen über den narzisstischen Missbrauch im Elternhaus sprechen, wenn sie wissen, sie erzählen hier Details für ein Buch. Ich habe die Betroffenen immer direkt angesprochen und ihnen Anonymisierung zugesichert. Ich kann auch nicht grundsätzlich sagen, dass es keine Gesprächsbereitschaft gab. Trotzdem waren die Reaktionen sehr zögerlich, obwohl diese Frauen sonst offen über den narzisstischen Missbrauch durch die Mutter erzählen. Ich habe viele Gespräche geführt, einige zogen ihr Interview dann wieder zurück und wollten doch nicht, dass die Geschichte im Buch erscheint. Im Vergleich dazu hätte ich für mein Vorgängerbuch »Kaltes Herz«, in dem es um narzisstische Partner ging, noch Hunderte Erfahrungsberichte von Betroffenen haben können.
Ich wünsche mir eine höhere Akzeptanz, und die kann eigentlich nur eintreten, wenn eine vehemente Aufklärung betrieben wird. Das war der Grund für mich, dieses Buch zu schreiben. Wichtig ist natürlich auch, dass man betroffenen Kindern glaubt. Ich bin als Kind zum Jugendamt gefahren und erzählte dort von meinem Leben zu Hause. Man hat mich ausgelacht. Als ich wieder nach Hause kam, wusste meine Mutter bereits Bescheid. Die nette Dame vom Jugendamt könnte sicher heute nicht mehr schlafen, wenn sie wüsste, wie danach mit mir umgegangen wurde. Ähnliche Geschichten hörte ich auch von anderen Betroffenen. Schon kleine Kinder wollen leben, haben ein einigermaßen ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden, versuchen sich selbst zu helfen, sich zu wehren. Je nach Umfeld vertrauen sich manche einer Vertrauensperson an – andere passen ihr Verhalten entsprechend an. Alle Betroffenen haben in ihrer Kindheit versucht, ihrer Hölle zu entkommen.
Aber Kindern glaubt man nicht oder nur selten. Und selbst heute, in unserer aufgeklärten Zeit, ist ein schreiendes Kind in der Nachbarwohnung bestenfalls etwas, das nervt. Ein stundenlang weinendes Kind – noch schlimmer. Es kann ja harmlos sein. Es gibt Kinder, die in den ersten Monaten viel weinen und schreien. Noch häufiger aber gibt es Nachbarn, Freunde und Verwandte, die die wirklichen Gründe dafür nicht sehen möchten. Dann müssten sie handeln und dann wird es kompliziert. Ich wünsche mir, dass die Menschen einfach genauer und wachsamer hinschauen.