Auch alte Wunden können heilen

Immer mehr Menschen leiden. Lange. Und sie wissen nicht, weshalb. Das Leiden hat unterschiedliche Ausdrucksformen: Manchmal verkleidet es sich als Depression oder Burn-out, manchmal als Angststörung oder chronische Verspannung. Noch viel häufiger tritt es in Erscheinung als inneres Gefühl von Abgeschnittenheit oder Anderssein, von Unzufriedenheit, Sinnlosigkeit und Einsamkeit.

So suchen viele seit Jahren nach Lösungen für ihre Symptome und ihr Leid. Manche haben jahrelange Therapien hinter sich, und ihr Lebensgefühl hat sich dennoch nicht wesentlich verbessert. Nicht selten bleibt (nur) das Gefühl zurück, falsch und unfähig zu sein, und dass alle anderen es besser schaffen als sie selbst. Es gibt unzählige Menschen, die nicht wissen, was mit ihnen los ist, und die keine Hilfe erfahren und keine Lösung finden, weil ihnen die Ursache ihres Leidens nicht bewusst ist.

In unserer Gesellschaft ist das Bild entstanden, dass Glück, Schönheit und beständiger Spaß die Regel seien, und dass, wer dies nicht so erlebt oder fühlt, gescheitert ist. Schlankheit ist das Synonym für Gesundheit und Schönheit, Geld das Synonym für Erfolg und Spaß das Synonym für Glück.

Schauen wir genauer hin, so sehen wir, dass diese Fassade überall bröckelt. Schmerzen, Ängste, Depressionen, Burn-out, innere Leere, Einsamkeit, Entfremdung, Schlaflosigkeit, Beziehungsfrust, Dauerstress und andere Symptome und Probleme greifen immer weiter um sich. Leider denken viele Menschen – darunter auch zahlreiche Therapeuten –, dass all diese Symptombilder unterschiedliche Ursachen haben. So fühlen sich die Betroffenen noch zusätzlich überwältigt, weil sie denken, dass sie für jedes Symptom einzeln eine Lösung finden müssten. Auf diesem Weg wird dann viel ausprobiert, und immer wieder ist das frustrierende Fazit, dass sich doch nichts wirklich zu ändern scheint.

Das fehlende Puzzlestück ist nicht die Lösung von Problemen und auch nicht die Behandlung von Symptomen. Es hat mich Jahre gekostet, das missing link, das fehlende Puzzlestück zu finden. Die Ursache für das Leiden liegt jenseits unserer Muster und Glaubenssätze. Es gibt Hunderte Angebote in Büchern und Workshops, in Therapien und Seminaren, die uns helfen wollen, diese Muster und Glaubenssysteme zu erkennen und abzulegen. Wenn das funktionieren würde, wären wir alle glücklich. Irgendwo muss also ein Haken sein.

Der Haken ist: Damit Menschen bestimmte Veränderungen einleiten können, brauchen sie bestimmte Voraussetzungen, die ihnen aber gerade nicht zur Verfügung stehen. Die Ursache für unser Leid liegt tief in uns und unserem Körper. In diesem Buch möchte ich diese Erkenntnis für alle verständlich darlegen und hoffe, dadurch lange und womöglich frustrierende Leidenswege zu verkürzen.

Die Erfahrungen, die uns am stärksten geprägt haben, reichen zurück in unsere ersten Lebensjahre, in eine Zeit also, an die wir uns normalerweise nicht erinnern können. Das macht es für viele Menschen schwer, zu erkennen, welch existenzielle Bedeutung diese Phase für uns hat. In den ersten Lebensjahren werden die wichtigsten Grundlagen für ein erfülltes Leben geschaffen. Frühe Wunden verhindern die Entstehung dieser Grundlagen oder schränken sie ein und werfen so einen langen Schatten auf das Leben vieler Menschen.

Diese alten Verletzungen bezeichne ich in diesem Buch als Entwicklungstrauma. Lass dich bitte nicht von dem Begriff »Trauma« abschrecken! Ich bin mir sicher, du wirst dich bei der Beschreibung früher Wunden wiederfinden. Als Erwachsene ist uns oft nicht bewusst, wie schwerwiegend manch scheinbar normale Kindheitserfahrung uns geprägt hat und uns heute im Wege steht. Unter Traumata werden leider bis heute meist nur sogenannte Schocktraumata verstanden, also einmalige überwältigende Erlebnisse.

Gerade bei frühen Verletzungen zeigt sich, dass das Wissen um die eigene Geschichte nicht ausreicht, um eine Veränderung herbeizuführen. Viele Menschen können alles erklären und kommen doch nicht wirklich weiter.

Das ist Teil des missing link.

Ginge es allein um Erkenntnis, also um den Verstand, stünden wir alle kurz vor der Erleuchtung. Erkenntnis ist der erste Schritt, aber ohne Erfahrung nützt sie leider wenig. Doch ohne Erkenntnis können wir keine neuen Wege gehen. Ich hoffe, dass dieses Buch möglichst vielen Menschen dabei hilft, sich selbst auf einer tieferen Ebene zu verstehen und liebevoller im Umgang mit sich selbst zu werden.

Ich möchte darstellen, welche Auswirkungen unsere frühen Erfahrungen auf uns und unser Leben haben und wie diese alten Verletzungen heilbar sind. Heilung ist ein großes Wort, deshalb möchte ich erläutern, was ich darunter verstehe.

Was immer wir im Lauf unseres Lebens erfahren haben, ist nicht zu löschen. Man kann es nicht »loswerden«, und es ist nicht zu widerrufen. Es ist Teil unserer Geschichte. Heilung bedeutet also nicht, keine Narben zurückzubehalten – sonst wäre auch in der Medizin keine Heilung möglich. Heilung ist für mich gleichbedeutend mit Integration. Sie bedeutet im besten Fall, dem, was geschehen ist, einen Sinn zu geben, es erfolgreich in die eigene Biografie zu integrieren und neue Erfahrungen zu machen, damit alte Wunden und Verletzungen nicht länger das Leben bestimmen. Heilung beziehungsweise Integration bedeutet, immer mehr Freiheit darüber zu erlangen, was wir fühlen wollen, und im Hier und Heute zu leben und immer mehr zu agieren, statt zu reagieren. Letztendlich bedeutet Integration, sich lebendig zu fühlen und verbunden.

Mit diesem Buch möchte ich Mut machen; ich möchte zeigen, dass es möglich ist, auch unter widrigen Umständen ein erfülltes Leben zu führen. Ich arbeite inzwischen seit 30 Jahren mit Menschen. Im Lauf der Zeit habe ich auch meine eigene (traumatische) Geschichte aufgearbeitet und integriert. Ich habe viel gelernt – vor allem, dass wir fragile, verletzliche und zarte Wesen sind. Ich habe verstanden, dass wir alle einander brauchen und niemand allein heil werden kann. Beziehung und Kontakt stehen deshalb im Mittelpunkt meines Denkens, Fühlens und Arbeitens. Ich bin davon überzeugt, dass nur über diese Schnittstellen Veränderungen möglich werden.

Nun ist es an dir, liebe Leserin, lieber Leser, das Wissen, das ich dir in diesem Buch zur Verfügung stelle, zu deinem eigenen zu machen! Viel Freude dabei!

Dami Charf

Im August 2017

Noch zwei Anmerkungen: Es ist schwierig, ein in der Ansprache von Leserinnen und Lesern politisch korrektes Buch zu schreiben, das auch noch flüssig lesbar ist. Ich habe den Weg gewählt, manchmal nur die weibliche Form und manchmal nur die männliche Form zu benutzen. In beiden Fällen meine ich sowohl Frauen als auch Männer.

Ich schreibe oft in der Wir-Form, doch manchmal spreche ich meine Leserinnen und Leser direkt an. In diesen Fällen verwende ich das Du, weil es mir am meisten entspricht. Ich bitte dich, dies nicht als Respektlosigkeit zu verstehen.