Wie frühe Wunden auf unser Leben wirken – und warum das Problem selten das Problem ist
Jedes schwerwiegende Problem hat seine Wurzeln in unserer Kindheit. Das scheint ein abgedroschenes Klischee zu sein, und doch ist vieles daran wahr. Ich wünschte, es wäre anders, doch die jahrelange Arbeit mit mir selbst und anderen Menschen bestätigen diesen Satz. Allerdings vielleicht ganz anders, als die meisten von uns glauben. Unsere frühe Kindheit – damit meine ich die Zeit, an die wir uns nicht erinnern können – hat gravierende Auswirkungen auf unser Lebensgefühl als Erwachsene. In den ersten Lebensjahren erwerben wir einige Fähigkeiten – oder eben nicht –, die uns selten bewusst sind, unser Leben jedoch entscheidend bestimmen. Trotz ihrer außerordentlichen Bedeutung sind diese Fähigkeiten nicht allgemein bekannt. Ich möchte dazu beitragen, dass dieses Spezialwissen zum Allgemeingut wird, damit sich immer mehr Menschen selbst verstehen und einen Weg finden können, ihrem Leid oder ihrer Lebenslangeweile zu entkommen.
Frühe Wunden prägen unser Leben auf vielerlei Arten und Weisen. »Wunde« heißt im Griechischen trauma. Trauma – das Wort ist inzwischen sehr bekannt, wird aber gleichzeitig immer noch verkannt. Mit diesem Begriff verbinden wir im Allgemeinen schreckliche und grausame Erlebnisse wie etwa Krieg, Vergewaltigung und Folter. Dies ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Traumata sind weit verbreitet, und es gibt nur wenige Menschen, die völlig ohne traumatische Erlebnisse durchs Leben gehen.
Überdies hat das Trauma durch vereinzelte furchtbare Erlebnisse gewissermaßen eine Schwester, die sich »Entwicklungstrauma« nennt. Darunter fallen die frühen Verletzungen, die wir aus der Erwachsenenperspektive gewöhnlich als »nicht so schlimm« ansehen. Dennoch haben sie sich auf uns als Babys oder Kinder oft verheerend ausgewirkt. Entwicklungstraumata entstehen durch die Art, wie Eltern mit ihren Kindern umgehen. Das hat häufig nichts mit Grausamkeit zu tun, sondern mit Unwissen, Vorurteilen oder mangelnden Fähigkeiten.
Ich kann es nicht oft genug wiederholen: Nach meiner Meinung und Erfahrung sind Entwicklungstraumata sehr weit verbreitet. Ich wünsche mir, dass durch dieses Buch möglichst viele Menschen endlich eine Erklärung für ihr Leben und ihr Lebensgefühl finden. Schauen wir uns zunächst an, wie wir als Menschen mit extremem Stress und empfundener Lebensgefahr umgehen.
Um die Folgen von bestimmten Ereignissen verstehen zu können, müssen wir als Erstes begreifen, wie wir auf Gefahr reagieren. Diese Reaktionen sind tief in unserem biologischen Erbe verankert, und sie sind weder pathologisch noch unnormal. Sie gehen zurück auf unsere Instinkte, die bei Gefahr das Steuer übernehmen und – im Idealfall – unser unbeschadetes Überleben sichern sollen. Die Reflexe, die zu diesen Überlebensmechanismen gehören, sind inzwischen recht bekannt: Kampf oder Flucht oder bei Überwältigung: Erstarrung.
Die Fight or flight-Reaktion beschreibt die rasche körperliche und seelische Anpassung von Lebewesen in Gefahrensituationen. Geprägt wurde dieser Begriff von dem amerikanischen Physiologen Walter Cannon im Jahr 1915 in seinem Buch Wut, Hunger, Angst und Schmerz: Eine Physiologie der Emotionen. Neben Hans Selye gehört Cannon zu den Pionieren der Stressforschung.
Stellen wir uns als Gefahrensituation folgendes Szenario vor: Ich mache einen Waldspaziergang in Kanada. Plötzlich höre ich ein Geräusch. Darauf reagiert mein Körper mit einer eingespielten reflexhaften Reaktion, dem Schreckreflex, der zu einer Kontraktion der Beugemuskulatur führt: Ich zucke zusammen. Danach geschieht etwas, das den wenigsten Menschen bewusst ist: Der Körper streckt sich, und ich orientiere mich zu dem Geräusch hin. Orientierung ist eine ganz wichtige Reaktion, die uns die Antwort darauf geben soll, ob wir uns wieder entspannen können oder nicht. In dieser Situation werde ich wach und aufmerksam, und mein Fokus liegt voll und ganz darauf, herauszufinden, ob eine Gefahr droht oder nicht.
Angreifen oder fliehen?
Zurück im Wald. Es hat geraschelt. Ich bin erschrocken zusammengefahren und habe in die Richtung geschaut, aus der das Geräusch kam. Ich entdecke einen Bären. Sofort schaltet mein Körper auf Alarmreaktion.
Was passiert dabei in meinem Körper? Als Erstes wird meine Aufmerksamkeit ganz klar auf den Reiz fokussiert, vielleicht erlebe ich das sogar als »tunnelig«. Das heißt, mein Blick wird eng, und ich bin hellwach für das, was in dieser Situation passiert. Ich denke zum Beispiel nicht darüber nach, welche Farbe die Fliesen in meiner neuen Küche haben sollen. Gleichzeitig versucht der Überlebensmechanismus meines Körpers, große Mengen an Energie bereitzustellen, um angemessen auf die Situation reagieren zu können.
Diese Prozesse laufen im Körper erstaunlicherweise in Sekundenschnelle ab. Er macht sich bereit – für Kampf oder Flucht. Willentliche Entscheidungen sind jetzt praktisch ausgeschlossen – in einem solchen Moment übernehmen die sehr alten Anteile unseres Gehirns das Ruder und leiten komplexe physiologische Prozesse ein, um den Körper für die Notfallreaktionen vorzubereiten.
Kehren wir zurück in den Wald. Hier können nun verschiedene Szenarien ablaufen.
Variante eins: Der Bär wendet sich leise brummend ab und zieht seiner Wege. Mein Körper schaltet wieder herunter in die Normalfunktion. Das dauert einen Moment und ist von den klassischen Nebenwirkungen eines Adrenalinstoßes begleitet: Ich bekomme weiche Knie, vielleicht fühle ich mich zittrig, und wahrscheinlich habe ich das Bedürfnis, jemandem von dem Erlebnis zu erzählen und mich in den Arm nehmen zu lassen.
Variante zwei: Der Bär trabt angriffslustig auf mich zu. In diesem Fall kommt der älteste Teil des Gehirns, das Stammhirn, zum Zuge. Es greift sowohl auf ähnliche abgespeicherte Erfahrungen mit Bedrohungen zurück als auch auf eine Schnellauswertung der Situation. Wichtig ist: Nicht das bewusste Denken trifft die Entscheidung über unsere Reaktion. Es gibt in einer solchen Situation keine Zeit für eine abwägende Plus-Minus-Liste, denn hier geht es ums Überleben.
Wenn uns ein Bär angreift, wird sich das Stammhirn vermutlich fürs Weglaufen entscheiden. Wir rennen, so schnell wir können, vor der Gefahr davon.
Wenn nichts mehr geht
Leider sind Bären schneller als Menschen – was passiert, wenn der Bär den Menschen einholt? Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass dann eine sogenannte Erstarrungsreaktion eintritt. Im schlimmsten Fall wird der Mensch ohnmächtig oder kollabiert. Im Tierreich ist diese Reaktion sinnvoll, weil die Jäger unter den Tieren einen bewegungslosen Körper häufig übersehen oder ihn als Aas wahrnehmen und deshalb nicht auffressen. Das heißt, die biologische Erstarrungsreaktion erhöht für das angegriffene Lebewesen potenziell die Wahrscheinlichkeit zu überleben.
Für uns Menschen hat diese Reaktion jedoch schwerwiegende Folgen. Meist ist sie gekoppelt mit einer sogenannten Dissoziation. Viele Betroffene beschreiben diese Phase wie eine Nahtoderfahrung: Ihr Geist koppelt sich vom Körper ab, sie empfinden keinen Schmerz und haben nicht das Gefühl, dass ihnen das alles gerade selbst widerfährt. Sie nehmen Raum-Zeit-Veränderungen wahr, das Geschehen verlangsamt sich, und es können akustische Veränderungen auftreten. Man könnte sagen, dass die Dissoziation eine Gnade der Natur ist, die uns ermöglicht, gewissermaßen »nicht dabei« zu sein, wenn wir Erfahrungen machen, die unser physisches oder psychisches Überleben bedrohen.
Heute weiß man, dass diese Dissoziationserfahrung zu den stärksten Indikatoren für später einsetzende posttraumatische Symptome gilt. Und da unser Körper und unsere Psyche sehr lernfähig sind, werden sie in Zukunft diese dissoziative Reaktion, die mindestens einmal das Überleben erfolgreich gesichert hat, immer wieder wählen – und zwar auch in Situationen, die in der Realität nicht lebensbedrohlich sind, aber mit ähnlichen Emotionen oder Körperempfindungen einhergehen, wie sie unser Bären-Beispiel hervorruft.
Kampf-, Flucht- und Erstarrungsreaktionen gehören zu unserem evolutionären Erbe. Sie erscheinen in unserer heutigen hoch technisierten Zeit wie befremdliche Relikte, und doch haben wir bis heute keine anderen Reaktionen auf Stress und Gefahr entwickelt. Daraus entstehen einige Schwierigkeiten bei unserer Anpassung an das moderne Leben: Durch Umwelt- und Lebensfaktoren werden so häufig Stressreaktionen ausgelöst, dass es für uns nicht gesund sein kann.
Eine Traumatisierung bedeutet im Grunde, dass der Körper nicht mehr aus einer Schreckreaktion herausfindet, die ein bestimmtes Ereignis ausgelöst hat, sondern darin verharrt.
Wie eine Traumatisierung entsteht
Wenn in der Öffentlichkeit über Trauma gesprochen wird, so ist in fast allen Fällen das Schocktrauma gemeint, und unter Trauma-Therapien werden dementsprechend nahezu immer Schocktrauma-Therapien verstanden.
Ein Schocktrauma ist ein singuläres, also einmaliges Erlebnis im Leben eines Menschen. Es ist klar abgegrenzt und wird meist als überwältigende Erfahrung wahrgenommen, die lebensbedrohlich sein kann. Hier noch einmal die Stressreaktion in vertiefter Darstellung:
Kampf oder Flucht: Solange unser Stammhirn noch eine Chance sieht, werden wir kämpfen oder fliehen. Immerhin hat sich unser gesamter Körper, wie oben beschrieben, dafür bereit gemacht.
Vorübergehende Erstarrung: Werden wir jedoch überwältigt, so erstarren wir. Dabei ist es wichtig, zwischen zwei verschiedenen Formen der Erstarrung zu unterscheiden. Zunächst einmal fallen wir in eine Form von Erstarrung, die noch immer hochgradig sympathikoton ist (das heißt, vom sympathischen Zweig des Nervensystems gesteuert, der für Energie und hohe Erregung zuständig ist). Das bedeutet, dass unter der Erstarrung enorm viel Energie gehalten wird.
Wohl jeder von uns kennt eine ähnliche Form von hoch angespannter Starre in einer Situation, in der man einen Moment lang nicht weiterwusste, aber dennoch komplett angespannt war.
Totstellreflex: Hält die Überwältigung an, so verlässt plötzlich jede Spannung den Körper, und der Mensch kollabiert. Diese Form der Erstarrung ist eine Art Totstellreflex, der vom parasympathischen Nervensystem gesteuert wird, also von dem Teil des autonomen Nervensystems, das für Entspannung zuständig ist. Es ist die älteste zur Verfügung stehende Reaktion auf Lebensgefahr, die wir in unserem Stammhirn gespeichert haben. Je jünger ein Mensch zum Zeitpunkt des traumatisierenden Ereignisses war und je hilfloser er sich in dieser Situation gefühlt hat, desto wahrscheinlicher hat die zweite, die parasympathische Reaktion stattgefunden.
Es ist wichtig, die Unterschiede zwischen den beiden Formen der Erstarrung hervorzuheben: Im ersten Fall haben wir noch Kraft, wir sind noch bereit, uns zu verteidigen, auch wenn wir vorübergehend nicht weiterwissen. Im zweiten Fall ist jede Art von Energie verschwunden, und der Muskeltonus erschlafft.
Schauen wir uns noch einmal im Einzelnen an, was bei einem überwältigenden Erlebnis abläuft: Zunächst einmal wird unglaublich viel Energie im Körper bereitgestellt. Es ist so, als würde ein Blitz in ein Haus einschlagen. Zunächst einmal sind die Stromleitungen, die auf 220 Volt ausgelegt sind, vollkommen überlastet. Die Notabschaltung greift und die Sicherungen fliegen heraus.
Etwas Ähnliches geschieht in dem Moment in unserem Körper, in dem ein Ereignis für uns nicht mehr handhabbar ist und alles viel zu schnell geht oder wir komplett überwältigt werden. Dann tritt unsere Notsicherung in Kraft und unser Körper schaltet über das parasympathische System ab. Dieser Vorgang, der uns auch vor den schrecklichen Gefühlen schützt, die mit dem Ereignis verbunden sind, kann sofort eintreten oder auch erst, nachdem wir gekämpft haben und nicht gewinnen konnten.
Zu den zahlreichen klassischen Symptomen von Schocktraumata gehören zum Beispiel sogenannte Flashbacks und Intrusionen, das heißt, dass Erinnerungen und Bilder auf einen Menschen einstürmen. Sehr viele Klienten haben allerdings gar keine derart spezifischen Symptome, bei ihnen sind die Anzeichen der Traumatisierung subtiler ausgeprägt, ohne deshalb weniger Leid zu verursachen.
Um festzustellen, ob es sich bei einem Erlebnis wirklich um ein Schocktrauma handelt, achte ich darauf, ob die betroffene Person von dem auslösenden Ereignis erzählen kann. Wenn das der Fall ist – auch wenn sie dabei traurig ist und weint –, handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach zwar um ein schreckliches Erlebnis, aber nicht um eine traumatische Erfahrung. Bei traumatischen Ereignissen können Menschen nicht darüber reden, ohne zu sich selbst und zu ihren Emotionen auf Distanz zu gehen – zu dissoziieren. Ich möchte es so erklären: Wenn jemand von einem traumatischen Erlebnis erzählt, wird er oder sie von Gefühlen und Bildern überflutet und kann das genauso wenig aushalten wie bei dem Ereignis selbst.
Dann bleiben zwei Möglichkeiten: Einerseits kann die Person dissoziieren, sich also von ihren Gefühlen abspalten, um nicht mehr davon erdrückt zu werden. Das äußert sich zum Beispiel in einer sehr flachen Tonlage. Wenn ältere Menschen vom Krieg erzählen, wird ihre Stimme oft ausdruckslos. Ihnen fehlt dann völlig der Zugang zu den Gefühlen, die sie bei diesen Erlebnissen empfunden haben. Manchmal kommt es sogar vor, dass Menschen beim Erzählen an Stellen lächeln, an denen es einen als Zuhörer kalt überläuft. Oder sie erzählen von den Ereignissen in einer unpassenden Weise.
Die andere Möglichkeit besteht darin, dass die Gefühle beim Erzählen ganz und gar nicht abflachen. Sie sind so stark, dass der Mensch sie nicht halten kann und gewissermaßen unter ihnen zusammenbricht. Das geht über gewöhnliche Traurigkeit hinaus – es ist, als würde die betroffene Person weggeschwemmt.
Eine traumatische Reaktion entsteht, wenn der Körper keine Meldung bekommen hat, dass das Ereignis vorüber ist und eine Normalisierung der Stressreaktion stattfinden kann. Das Lebensgefühl des betroffenen Menschen entspricht dann einer Fahrt mit der Achterbahn. Sein Nervensystem befindet sich nicht mehr oder nur noch höchst selten im Gleichgewicht, sondern schwankt von einem Zustand der Übererregung zu einem Zustand der Untererregung.
Unsere Physiologie bestimmt in hohem Maße unsere psychische Verfassung.
Wie erkennt man eine Traumatisierung?
In einigen Fällen normalisiert sich dieser Zustand nach spätestens einem halben Jahr wieder. Bei manchen Menschen jedoch besteht er für den Rest ihres Lebens weiter. Dies äußert sich in den verschiedenen eingangs erwähnten Symptomen, die auch in den Klassifikationsystemen aufgeführt sind, mit denen Ärzte und Psychotherapeuten arbeiten. 1 An dieser Stelle möchte ich auf Auswirkungen traumatischer Erlebnisse eingehen, die wesentlich weiterverbreitet sind.
Symptome, die auf eine sympathikotone Übererregung hinweisen:
Symptome, die auf eine parasympathische Übererregung hinweisen:
Die betroffenen Menschen schwanken beständig von einem Zustand in den anderen. Der zeitliche Abstand ist dabei unterschiedlich, aber irgendwann finden sie sich auf der »anderen« Seite wieder. Durch den Achterbahneffekt gibt es nur selten Phasen, die von reiner Lebensfreude und Entspannung geprägt sind – und das macht das Leben ungeheuer schwer.
Entwicklungstrauma – alte Schmerzen, tief verborgen
Anders als beim Schocktrauma, das auf ein einmaliges Erlebnis zurückgeht, beruht das Entwicklungstrauma auf sich wiederholenden Ereignissen, die ein hohes Stressniveau ausgelöst haben. Entwicklungstraumata sind meiner Meinung nach heute ein epidemisch auftretendes Phänomen. Sie sind inzwischen zu einem Merkmal unserer Gesellschaft geworden. Und leider ist die Art und Weise, wie wir mit Kindern, Babys und Geburten umgehen, nicht dazu angetan, dies zu ändern. Entwicklungstraumata können zum Beispiel entstehen, weil das Kind nach der Geburt aus gesundheitlichen Gründen nicht zur Mutter durfte oder im Krankenhaus bleiben musste. Sie können entstehen, weil das Kind von klein auf zu wenig Körperkontakt bekommen hat und die Mutter oder die Bezugsperson nicht in der Lage war, empathisch zu reagieren. Immer noch werden Babys schreien gelassen oder im Nebenzimmer zum Schlafen »abgelegt«. All dies ist für die Kinder höchst bedrohlich. Wenn sie allein gelassen werden, empfinden sie förmlich Todesangst.
Solche sich wiederholenden Stressoren haben eine völlig andere Wirkung auf Menschen als ein Schockerlebnis, denn sie werden zu einem Teil ihrer Persönlichkeit. Ich versuche dies immer so zu verdeutlichen: Ein Schocktrauma ist wie ein falschfarbiger Faden in einem sonst gut gewebten Teppich. Zieht man ihn heraus, ist der Teppich immer noch in Ordnung. Bei einem Entwicklungstrauma müsste man so viele Fäden ziehen, dass sich der Teppich in Form und Farbe verändern würde. Durch lang anhaltenden Stress prägen sich das gesamte Weltbild und Selbstbild eines Menschen vollkommen anders und tiefgreifender als durch einen Schock. Meine Erfahrungen in der Praxis haben mir allerdings gezeigt, dass die beiden Traumaformen nur sehr selten einzeln vorkommen. Unter einem Schocktrauma verbergen sich meist auch Entwicklungstraumata.
Wir sind uns heute bewusst, dass es außer unserem Gehirn im Kopf noch ein »Bauch-Hirn« und ein »Herz-Hirn« gibt. Beide senden Informationen an unser Kopf-Gehirn, die wir unbedingt benötigen, damit unser Leben gelingt. Man könnte diese Informationen als Intuition bezeichnen, da sie unterhalb der Bewusstseinsschwelle liegen und wir sie nur wahrnehmen können, wenn wir unseren Körper wirklich gefühlt wahrnehmen.
Bei allzu großen – auch seelischen – Schmerzen verlassen wir unseren Körper. Diese Abspaltung oder Dissoziation kann zu einem bleibenden Zustand werden, der den meisten Menschen kaum bewusst ist, weil sie noch immer in der Lage sind, ihren Alltag zu meistern und zu »funktionieren«. Viele bemerken erst dann, dass etwas nicht stimmt, wenn sie Schmerzen haben, die sich nicht erklären lassen, ein Burn-out entwickeln oder ihre Urlaubszeit überwiegend mit Krankheiten verbringen.
Fehlt der Zugang zum eigenen Körper, spüren wir die eigenen Bedürfnisse und Gefühle wenig, und so werden diese oft vernachlässigt. Die innere Wahrnehmung des Körpers ist ein wesentlicher Bestandteil dessen, was wir für ein zufriedenes und erfülltes Leben brauchen. Wenn wir unseren Körper nicht mehr spüren, entgehen uns viele Hinweise darauf, wann wir Grenzen setzen oder Pausen machen sollten, wann wir essen sollten oder nicht und vieles mehr.
Leider besteht der Preis für die Abspaltung des Körpers auch in einer Verflachung aller Gefühle. Das ist natürlich einerseits sinnvoll, da alte Schmerzen auf diese Weise eingekapselt werden und nicht mehr wehtun. Andererseits können dann auch positive Gefühle nicht mehr in ihrer ganzen Fülle erlebt werden. Die betroffenen Menschen sind gewissermaßen im Kopf und in einer Welt des Intellekts gefangen. Sie empfinden das nicht zwingend als Gefangenschaft – als Freund oder Freundin erkennt man jedoch, dass dem anderen etwas fehlt.
Muster, die die Welt bedeuten
Durch Entwicklungstraumata werden Muster angelegt, wie wir die Welt wahrnehmen. Wer beständig in der Erwartung von Gefahr lebt, beobachtet seine Umgebung genau und nimmt diese durch eine Brille wahr, die darauf ausgerichtet ist, entsprechende »gefährliche« Signale auszulesen. Wer kennt das nicht? Wir erwarten von unserem Gegenüber ein bestimmtes Verhalten, und dieses tritt in den meisten Fällen auch ein. Der Grund: Unsere gesamte Wahrnehmung ist darauf ausgerichtet, unsere Erwartung bestätigt zu bekommen. Besonders deutlich wird das, wenn zwei Menschen in eine Beziehungskrise geraten. Plötzlich bemerken sie nur noch unangenehme Eigenschaften an der einst so geliebten anderen Person. Natürlich ist den wenigsten klar, dass sie eine selektive Brille tragen. Sie glauben, sie würden den anderen erst jetzt »richtig« sehen, woran sie zuvor eine falsche, rosarote Brille gehindert habe.
In vielen Versuchen hat sich jedoch bestätigt, dass es so etwas wie objektive Realität nicht gibt. Unsere Sicht der Wirklichkeit ist immer abhängig von der individuellen Brille, durch die wir in die Welt schauen. Diese Brille ist zum einen von dem geprägt, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten, und zum anderen von unserer Vorerfahrung, die praktisch die Farbe der Brille bestimmt. Dieses Phänomen zeigt sich sehr eindrucksvoll in dem Experiment mit dem »unsichtbaren« Gorilla: Dabei wurde den Versuchspersonen ein Video gezeigt, in dem zwei Teams von jeweils drei Personen sich einen Basketball zuwerfen. Die Versuchspersonen waren aufgefordert, die Ballabgaben zu zählen. Im Video lief eine Person, die als Gorilla verkleidet war, mitten zwischen den Spielern hindurch und klopfte sich auf die Brust. Nach Betrachtung des Videos wurden alle Versuchspersonen befragt, ob sie etwas Ungewöhnliches gesehen hätten. Rund die Hälfte von ihnen hatte nichts Ungewöhnliches wahrgenommen: Ihre Aufmerksamkeit hatte etwas anderem (dem Zählen der Ballabgaben) gegolten. – Wir glauben gern, dass uns das nicht passieren würde, doch Menschen neigen nun einmal dazu, ihre eigenen Fähigkeiten und Leistungen zu überschätzen und die der anderen zu unterschätzen.