Die Aggressionen einer narzisstischen Mutter
»Verächtlich ist eine Frau, die Langeweile haben kann, wenn sie Kinder hat.«
Jean Paul
Das aggressive Verhalten einer narzisstischen Mutter basiert auf der Launenhaftigkeit, die bei narzisstischen Menschen grundsätzlich vorherrscht. Jeder Mensch hat mal schlechte Laune, jeder ist mal wütend über irgendetwas und jeder Mensch kennt diese Tage, an denen man ihn besser nicht anspricht. Bei narzisstischen Menschen hängt die Laune jedoch rund um die Uhr von der narzisstischen Zufuhr ab, die sie brauchen und erhalten – oder eben nicht erhalten. Jede Person in der Familie spielt hier eine wichtige Rolle und ist »zuständig« für eine bestimmte Form der narzisstischen Zufuhr. So muss der Ehepartner vielleicht die Zufuhr an Liebe, Bewunderung und Begehren erbringen. Auch die Kinder sind für bestimmte Gefühle zuständig, die sie dem narzisstischen Elternteil vermitteln sollen. Jedes Kind in der Familie liefert etwas Bestimmtes, die Bedürfnisse ändern sich aber auch zwischendurch, und das macht es noch problematischer. Wenn es Frau Narzisse nicht gut geht, wünscht sie vielleicht keine Bewunderung und kein Begehren, sondern Mitleid oder Besorgnis. Vom schwarzen Schaf unter den Kindern erwartet sie vielleicht an einem Tag einen stillen Rückzug, an einem anderen Tag aber, dass es sich zu ihr an den Tisch setzt und mit ihr redet. Doch kein Mensch kann sich jeden Tag neu auf die Launen und Bedürfnisse eines anderen einstellen. Wer das versucht – und das ist das Drama in Beziehungen mit narzisstischen Personen –, dreht sich permanent im Kreis und vergisst sich darüber selbst. Wenn sich die Bedürfnisse einer narzisstischen Person ändern und das nicht erkannt wird, kippt die Laune und schlägt in Aggressionen um. Dabei teilen narzisstische Menschen ihrem engsten Umfeld nicht mit, was sie nun an diesem Tag oder in diesem Moment brauchen – sie erwarten, dass man das merkt. Wenn man nun aber nicht diese hellseherischen Fähigkeiten aufbringen kann, ist das für die narzisstische Person ein Beweis dafür, dass man sich für sie nicht interessiert, dass sie und ihre Bedürfnisse allen egal sind – und dann kommen die Aggressionen zum Vorschein. An wem sie ausgelassen werden, ist eine Frage der Position der jeweiligen Familienmitglieder. In der Regel trifft es das schwächste Familienmitglied. Das muss nicht heißen, dass es wirklich schwach ist – es kann auch sein, dass es nur einfach keine Lobby hat, wie man so schön sagt. Niemanden, der hinter ihm steht, um es als schwächstes Glied in der Kette zu schützen.
Interessant ist der Blick auf die Gefühlspalette von Narzissten. An positiven Gefühlen scheint es nur so etwas wie Euphorie zu geben. Das, was man im Allgemeinen als Ausgeglichenheit bezeichnet, habe ich zum Beispiel bei meiner Mutter niemals erlebt. Wenn sie gut gelaunt war, dann war sie regelrecht euphorisch. Dann schien sie zu wollen, dass alle in ihrem Umfeld mitziehen und ebenfalls glücklich sein sollen, als gäbe es kein Morgen. Wer da nicht mitspielte, konnte damit durchaus auslösen, dass die Stimmung kippte. Die Palette der negativen Gefühle hingegen zeigte sich mir viel umfangreicher: Enttäuschung, Trauer, Ärger, Hass, Verachtung, Wut bis hin zur regelrechten Rage. Zwischen diesem euphorischen Zustand und der breiten negativen Gefühlspalette beobachtete ich bei meiner Mutter nur eine Art Gleichgültigkeit. Die erlebte ich an den Tagen sehr stark, an denen sie einfach nur ein Mensch zu sein schien, der mit sich selbst unglücklich war und nach etwas in der Außenwelt suchte, um das Loch in der eigenen Seele zu stopfen. Narzisstische Menschen füllen diese seelischen Löcher, indem sie versuchen, die Bewunderung, die Aufmerksamkeit, die Liebe anderer Menschen zu bekommen. Wenn das nicht gelingt oder nicht ausreicht, versuchen sie sich selbst aufzuwerten, indem sie andere abwerten. Durch aggressive Handlungen, die ihnen ein Gefühl von Allmacht verleihen, verhindern sie, die eigene Hilflosigkeit und Ohnmacht spüren zu müssen.
Narzisstischer Missbrauch ist hochgradig aggressiv, sowohl ganz offen, brutal und direkt als auch unterschwellig. Mit offenen, direkten Aggressionen kann man auf irgendeine Weise umgehen – und davor ist man nie geschützt, auch als Erwachsener nicht. Sobald man sich in irgendeinem sozialen Umfeld bewegt, ob nun in der Familie, im Freundeskreis, unter Kollegen oder unter Nachbarn, wird man immer mal mit einem Menschen zu tun haben, der sehr direkt aggressives Verhalten an den Tag legt. Man reagiert darauf möglicherweise betroffen, versucht die Ursache herauszufinden, das eigentliche Problem zu klären – oder man geht diesem Menschen einfach aus dem Weg. Viel schwieriger ist der Umgang mit unterschwelligen Aggressionen, die sich auch oft in passiv-aggressivem Verhalten zeigen. Diese Aggressionen sind da, sie werden deutlich gespürt, aber sie können oft nicht benannt und noch weniger bewiesen werden, und die Aggressoren streiten sie in der Regel auch ab. Man fühlt sich als Opfer von unterschwelligen Aggressionen in den allermeisten Fällen äußerst hilflos, versteht die Welt nicht mehr und zweifelt auch nicht selten an der eigenen Wahrnehmung.
Ludmilla, deren Geschichte ich in einem vorangegangenen Kapitel erzählt habe, beschreibt die Aggressionen ihrer Mutter folgendermaßen:
»Manchmal war sie einfach wütend und wenn ich sie fragte, was denn los ist, sagte sie immer, es wäre nichts. Dann führte sie aber plötzlich, Minuten später, so eine Art Selbstgespräch: Sie putzte irgendwas oder räumte auf, bügelte, das tat sie aber mit ganz heftigen Bewegungen und schimpfte dabei vor sich hin. Sie täte so viel und es gäbe niemanden, der das bemerken würde. Wir alle – damit meinte sie mich und meinen Stiefvater – würden es uns nur bequem machen. Niemand von uns müsste einen einzigen Handschlag tun und unser Dank dafür wäre, dass wir sie nicht beachten. Dann fluchte sie, sie hätte schon seit Tagen Kopfschmerzen, aber niemand merkt es. Manchmal erzählte sie, sie sei im Badezimmer bei einem Kreislaufkollaps umgekippt, aber uns sei das ja egal. Hauptsache, sie würde für uns kochen und putzen. Dazu kann ich aber sagen, dass sie, als ich schon älter war und sie mit meinem Stiefvater verheiratet war, oft wochenlang überhaupt nicht kochte. Wenn wir fragten, was es zu essen gibt, keifte sie uns an und sagte, wir sollen uns selbst was machen, um sie würde sich ja auch niemand kümmern. Mein Stiefvater war dann immer sehr bemüht um sie, aber sie hörte ihm gar nicht zu. Oft kümmerte er sich dann um das Essen und später machten wir das auch abwechselnd. Wenn wir für sie etwas weglegten und in Alufolie packten, lag es meist am nächsten Morgen noch da, sie aß es nicht. Aber wenn wir ihr nichts aufhoben, brach die Hölle aus, dann nannte sie uns egoistisch. Wir konnten das aber nie ausdiskutieren, denn sie verließ dann immer türenknallend die Wohnung.«
Kinder narzisstischer Mütter müssen mit offenen wie auch mit unterschwelligen Aggressionen leben lernen. Die offenen Aggressionen sind meist seltener, denn das bekommt möglicherweise das Umfeld mit – und genau das soll ja vermieden werden. Dennoch berichten viele Betroffene von sehr häufigen offenen Aggressionen, die sie in ihrer Kindheit durch einen narzisstisches Elternteil erlebt haben und die teilweise schwerwiegende körperliche wie auch seelische Gewalt mit sich brachten. Allerdings niemals vor Zeugen, niemals in der Öffentlichkeit, immer in den eigenen vier Wänden und hinter geschlossenen Türen.
Die unterschwelligen Aggressionen sind es allerdings, die eine Art Dauerzustand unsichtbarer Bedrohung auslösen. Ein Kind kann eine solche permanente Bedrohlichkeit noch schlechter benennen als ein Erwachsener. Es beginnt automatisch, ständig seine eigene Wahrnehmung zu hinterfragen und sich immer wieder im Gedankenkarussell zu drehen, das sich nur um die Bedürfnisse und die Stimmungslage der Mutter zu drehen scheint. Es fühlt sich schuldig, denn es bekommt ja auch das Gefühl von Schuld vermittelt. Ein Verhaltensmuster, das sich im späteren Leben – in der Regel dann in partnerschaftlichen Beziehungen – fortsetzt, bis es erkannt und durchbrochen werden kann.
Unterschwellige Aggressionen können auch im liebevollsten Umgangston mitschwingen und furchtbare Gefühle von Angst und Hilflosigkeit auslösen. Ich denke, dass viele Menschen schon erlebt haben, dass ihnen jemand freundlich und mit einem liebevollen Lächeln im Gesicht etwas scheinbar Nettes gesagt hat, bei dem man aber spürte: Das war jetzt gar nicht nett, ganz im Gegenteil. Man kann es nur nicht greifen. Es ist keine Einbildung, aber versucht man es Außenstehenden zu erklären, wird es oft als solche abgetan.
Die unterschwelligen Aggressionen einer narzisstischen Mutter äußern sich in allen möglichen alltäglichen Handlungen. Böse Inhalte werden mit einem besonders liebevollen Lächeln vermittelt, oder andersherum: Eine sehr nette Botschaft wird mit hartem Gesichtsausdruck formuliert oder derart gleichgültig, dass klar ist, da stimmt was nicht. Die narzisstische Mutter schreckt auch nicht vor Unterstellungen zurück – und sie tarnt sie mit Besorgnis. Sie gibt vor, ihrem Kind bei etwas helfen zu wollen, und bezichtigt es gleichzeitig der Unfähigkeit, allein zurechtzukommen. Offene Aggressionen werden nachher abgestritten, sie sind nie passiert. Die gute Leistung des Kindes – vielleicht eine Zwei in Mathe – wird manchmal zunächst gelobt. Ein paar Stunden später erzählt die Mutter, wie glücklich die Nachbarin über die Note Eins ihres Kindes in Mathe ist und wie gern sie sich auch einmal über eine Eins freuen würde. Es folgt ein vorwurfsvoller Blick, der dann aber gleich wieder – sie besinnt sich – in ein aufgesetztes Lächeln übergeht. Das Kind spürt die Erniedrigung.
Vergleiche mit anderen sind an der Tagesordnung: Du bist hübsch, aber deine Schwester ist viel hübscher. Du bist nicht dumm, aber wirklich klug ist die Tochter ihrer besten Freundin. Du hast da eine ganz tolle Sache gebastelt, aber das Projekt, das sie selbst damals im gleichen Alter zu einem ähnlichen Thema abgeliefert hat, das hättest du sehen sollen! Dann würdest du dich in Grund und Boden schämen, statt den Kram so stolz zu zeigen.
Auch Grenzüberschreitungen und Sabotage sind bei narzisstischen Müttern an der Tagesordnung und entspringen der aggressiv gestimmten Grundhaltung. All diese Handlungen möchte ich in den weiteren Kapiteln näher beschreiben und durch Beispiele verdeutlichen. Eines ist all den unterschwelligen Formen der Aggression gemein: Nichts davon ist greifbar. Nichts davon kann man Außenstehenden vernünftig erklären, sodass diese es nachvollziehen könnten.
Kinder von narzisstischen Müttern reagieren oftmals auf einen einzigen Blick mit Bauchschmerzen oder Schwindelgefühlen, wo Außenstehende nur ein liebes Lächeln sehen. Es ist der besondere Zug um den Mund herum oder das gefährliche Blitzen ihrer Augen, das nur ein betroffenes Kind wahrnimmt, Außenstehende aber gar nicht erkennen können. Wenn narzisstische Mütter ganze Arbeit geleistet haben, können die liebevollsten Blicke und die nettesten Worte das Kind bereits zusammenzucken lassen, wissend: Ich bin (für sie) nicht in Ordnung. Sie ist wütend. Da kommt noch was, sobald wir allein sind oder in ein paar Stunden, wenn ich selbst schon nicht mehr daran denke. Das Kind wird zwangsläufig innerlich angespannt sein und auf den Sturm warten. Vielleicht ist es erleichtert, wenn der Sturm nicht kommt, und umso entsetzter, wenn statt des erwarteten Sturms drei Tage später ein Orkan ausbricht. Es sind gerade diese unterschwelligen Aggressionen, die oft zum lebenslangen Kontrollmechanismus werden. Ein Blick, und zack fühlt man sich schlecht – egal wie alt man ist und egal ob dieser Blick von der Mutter kommt oder von einem späteren Partner. Der Mechanismus funktioniert lebenslang, bis man ihn als Betroffener erkennt und gegensteuern kann.
Ich möchte hier ein Zitat aus einem Gespräch anführen, das ich mit Lucia, Mitte dreißig, hatte:
»Oh mein Gott. Dieses unfassbar schreckliche Gefühl, jeden Tag durch die eigene Familie in Lebensgefahr zu sein … die Menschen, die dich schützen sollten. Meine Mutter hat, bevor sie auf mich eingeschlagen hat, aufgehört, mit mir zu sprechen oder mich überhaupt wahrzunehmen. Sie tat, als wäre ich nicht da. Wenn sie mit mir sprach, dann in kaltem Befehlston. Das zog sich oft über Tage, und je länger es dauerte, umso schrecklicher war dann die Strafe. Aus Angst habe ich dann immer gefragt, ob ich etwas falsch gemacht oder übersehen hätte. Ihre Antwort war immer dieselbe: ›Was glaubst du, wer du bist, dass sich immer nur alles um dich dreht? Immer nur ICH, ICH, ICH …‹ Ich habe solche Angst gehabt. Irgendwann, das konnte auch mal vier oder fünf Tage so gehen, hat sie dann etwas gefunden und ihre Wut entlud sich über mir. Prügel, bösartigste verbale Verletzungen und immer diese Todeskälte in ihren Augen … Einmal bin ich morgens mit einem Brillenhämatom aufgewacht. Mein Gesicht war um die Augen herum überall blau. So was geschieht nur durch Gewaltanwendung von außen und ist ein Hinweis auf einen Schädelbasisbruch. Meine Mutter ist aus der Medizin und alles, was sie sagte, war: ›Wo hast du dir das scheiß Brillenhämatom wieder hergeholt? Du machst alles, nur um nicht in die Schule zu müssen, du faules Miststück!‹ Dabei war ich sehr gern in der Schule. Hilfe von meinem Vater oder meiner Schwester war natürlich Fehlanzeige. Wenn meine Mutter aufgehört hat, luden die anderen ihren Frust auf mir ab.«