Pflichterfüllung und Ausbeutung

»Manche Mutter braucht glückliche, geehrte Kinder, manche unglückliche: Sonst kann sich ihre Güte als Mutter nicht zeigen.«

Friedrich Nietzsche

Kinder sollten selbstverständlich auch – altersgemäß angepasst – ein paar Pflichten, oder nennen wir es Verantwortlichkeiten, erhalten. Meiner Meinung nach müssen Kinder lernen, dass eine Familie eine Gemeinschaft ist, zu der jeder seinen Teil beizutragen hat. Ein dreijähriges Kind ist durchaus in der Lage, zu verstehen, dass es abends seine Spielsachen aus dem Wohnzimmer wieder ins Kinderzimmer und in die Spielzeugkiste oder ins Regal räumen sollte. Man sollte ein Kind nicht überfordern, aber eben auch nicht vor allem verschonen, was getan werden muss. Schließlich soll es sich später im Leben ja auch zurechtfinden.

Mir fiel im Rahmen meiner Arbeit der letzten Jahre allerdings auf, dass all die Frauen (und die wenigen Männer), die mir von narzisstischem Missbrauch durch die eigene Mutter erzählten, auch hierin eine Gemeinsamkeit hatten: Sie wurden allesamt regelrecht ausgebeutet. Ein Merkmal narzisstischen Missbrauchs auch in partnerschaftlichen Beziehungen ist die Ausbeutung, in welcher Hinsicht auch immer. Wer da keinen Zusammenhang zu ebensolchen Erfahrungen in der Kindheit sieht, müsste mit Blindheit geschlagen sein. Ich dachte immer, ich bin das einzige Kind, das sich dermaßen ausgebeutet fühlte. Doch im Nachhinein muss ich ganz ehrlich sagen, dass ich oft erschrocken bin, wenn mir andere Frauen erzählten, in welchem Maße das bei ihnen zu Hause passierte.

Ich musste mein Zimmer in Ordnung halten, das ist in meinen Augen allerdings selbstverständlich. Das mussten meine eigenen Kinder auch und es hat mal besser, mal schlechter geklappt. Meine Kinder mussten auch mal, als sie alt genug waren, mit dem Hund Gassi gehen oder den Müll runterbringen. Sie durften, wenn sie wollten, beim Kochen helfen. Und wenn ich den wöchentlichen Großputz veranstaltet habe, bat ich um Hilfe – und habe sie mal bekommen und mal nicht.

In meinem Elternhaus war das eine ganz andere Sache mit der Hilfe. So wie ich es erinnere, wurde ich nie um Hilfe gebeten, sondern erhielt Anweisungen – teilweise mit Zeitvorgaben. Wenn ich an meine Mutter denke und daran, womit sie sich zu Hause beschäftigte, dann sehe ich das Bild vor mir, wie sie lesend in der Küche sitzt. In Frauenzeitschriften und Illustrierten blätternd. Gekocht hat sie immer. Wenn mein Stiefvater nach Hause kam, wurde sie total aktionistisch, sie tat dann in meinen Augen so, als sei sie von der vielen Arbeit zu Hause völlig erschöpft. Das war offenbar ihre Berechtigung, sich abends nach dem Essen aufs Sofa fallen zu lassen, mit einem Buch in der Hand oder auf einen Film konzentriert. Die viele Arbeit, über die sie oft stöhnte, hatte meistens ich erledigt. Wir lebten in einem großen Haus, das vom Erdgeschoss bis unters Dach drei Etagen hatte. Das ganze Haus war gefliest, die Treppen waren aus dunklem Holz. Meist hatte ich die Ehre, zumindest die zwei Badezimmer gründlich zu putzen, ebenso die Treppe von oben bis unten und den Flur. Sehr oft musste ich auch noch das Wohnzimmer säubern. Die Küche putzte sie fast immer selbst, was aber vermutlich daran lag, dass sie dort ihre Ruhe vor mir haben wollte. Die Spülmaschine auszuräumen und wieder einzuräumen war auch oft meine Aufgabe, meist aber erst am Abend. Ich hatte das Gefühl, dass sie meinem Stiefvater den Eindruck vermitteln wollte, als würde ich sonst nichts tun.

Wir besaßen eine Heißmangel und auch das war stets meine Aufgabe: die Wäsche zu mangeln. Einmal in der Woche die Bettwäsche für vier Personen. Die Handtücher, die Geschirrtücher, die Badetücher. Oft auch für meine Großeltern mit, denen meine Mutter versprach, das für sie zu übernehmen. Sie überließ es dann aber mir. Alles musste picobello und faltenfrei gemangelt sein. Danach wollte sie alles akkurat gefaltet haben, wenn ich das nicht schaffte, riss sie die Wäsche auseinander, zerknüllte sie und ich musste alles noch einmal machen. Bettwäsche durfte dabei nicht etwa nur einmal durch die Heißmangel gelassen werden, nein! Sie wurde durchgelassen, mittig gefaltet und so nochmals durchgelassen. Im Viertel zusammengelegt – und noch einmal durch die Mangel. Wehe, die auf diese Art und Weise eingebügelte Falte saß nicht ganz genau!

Meine Schwester hatte, soweit ich weiß, keine Pflichten – jedenfalls nicht, als ich noch zu Hause lebte. Wenn ich mich darüber beklagte, hieß es, das Kind sei noch viel zu klein, um zu helfen. Als mir meine Schwester einmal freiwillig beim Mangeln der Wäsche helfen wollte, bekam ich einen riesigen Ärger, als meine Mutter den Hauswirtschaftsraum betrat und sah, wie meine kleine Schwester eifrig Handtücher faltete – und eigentlich recht stolz darauf war, dass sie das so schön konnte.

»Niedere Arbeiten« sollte das Kind nicht übernehmen, fluchte meine Mutter und zog meine Schwester an der Hand aus dem Raum. »Faules Ding!«, hieß es dann wieder. »Spannst jetzt noch das kleine Kind mit ein.«

An dieser Stelle sollte ich nun endlich den Begriff »Projektion« erwähnen. Narzisstische Personen projizieren alles, was eigentlich in ihnen selbst steckt, all ihre negativen Gedanken und Gefühle zu sich selbst, auf ihr jeweiliges Hassgegenüber. Sie unterstellen anderen Menschen in der Regel genau die Dinge, die sie selbst tun oder gern tun würden – oder auch ihre eigenen Schwächen.

Silvia, Ende vierzig, erzählt mir im Gespräch: »Wir hatten ein Gasthaus und da musste ich schon mit dreizehn Jahren voll mitarbeiten. Ich habe quasi die Küche geschmissen, zumindest an jedem Sonntag. Wenn meine Brüder mit ihren Familien zu Besuch kamen – sie sind älter als ich –, habe ich sie auch mitbedienen müssen. Keiner von ihnen wäre auf die Idee gekommen, sich sein Getränk selbst zu holen, auch wenn die Bude randvoll mit Gästen war.«

Lucia, Mitte dreißig, kennst du schon. Ihre Mutter hatte diesen Hausmeisterjob für eine gesamte Straße, den sie aber ihre Tochter machen ließ: »Ich habe an jedem Tag der Woche drei bis vier Treppenhäuser geputzt, die Fenster geputzt, vorher gefegt, auch die gruseligen Keller. Am Wochenende habe ich die Gärten gepflegt. Meine Mutter selbst hat keinen Handschlag getan, außer in mein Gesicht, wenn ich ihrer Meinung nach nicht sauber gearbeitet hatte. Ich habe mir damals immer Geschichten ausgedacht, während ich diese ganze Arbeit machen musste, Geschichten, die mich aus meiner Realität herausgeholt und in eine schönere Welt gebracht haben. Ich habe auch ständig irgendwelche Raupen und Schmetterlinge aus den Treppenhäusern befreit, das tat meinem kleinen Mädchenherz sogar sehr gut. Wenn ich an manchen Wochenenden meinen Vater besuchte, der nicht besser war als meine Mutter, musste ich immer in seinem Motel die Zimmer säubern, als sei ich dort das Zimmermädchen. Ich habe schon früh sehr viel arbeiten müssen. Ein ›Danke‹ oder ein Lob für irgendwas habe ich nie gehört.«

Delia, Ende dreißig, erzählt: »Ich musste zu Hause immer die Hausarbeit machen. Wenn ich meine Schularbeiten machen wollte, wurde ich angepfiffen und sollte stattdessen lieber putzen. Ich hatte aber immer gute Noten und vor anderen hat sich meine Mutter mit meinen schulischen Leistungen gebrüstet. Ich hätte kotzen können, wenn sie anderen Leuten von meinen guten Noten erzählte, weil es überhaupt nichts mit ihr zu tun hatte und sie es eigentlich sogar sabotierte. Ich habe es gehasst!«

Fast immer, wenn Frauen mir von ihrer Kindheit bei narzisstischen Müttern erzählen, ist ausbeuterisches Verhalten dabei. Manchmal mehr, manchmal weniger, aber immer als ein wesentlicher Bestandteil der Erinnerungen. Die Mädchen, die derart eingespannt und ausgenutzt wurden, waren gleichzeitig nichts wert, machten ihre Sache niemals gut genug. Männer im Haushalt wie Väter oder Stiefväter mussten mitbedient werden, ebenso in den meisten Fällen auch die Brüder.

Nach meiner Beobachtung neigen narzisstische Frauen dazu, sich generell zu viel aufzubürden. Das hat unterschiedliche Gründe. Die so dringend benötigte Anerkennung führt die Liste mit Sicherheit an. Sich unentbehrlich machen zu wollen, mag ein weiterer Grund sein. Meiner Meinung nach hat das intensive Aufbürden von zu vielen Aufgaben aber auch mit Kontrolle zu tun: Narzissen trauen anderen Menschen oft nicht zu, Dinge gut und zuverlässig zu erledigen. Sie wollen es lieber selbst tun, verheddern sich dann aber in zu vielen Aufgaben.

Was als »zu viel« empfunden wird, hängt vielleicht auch von der persönlichen Einstellung zu den Dingen ab. Wenn ein Mensch einfach nicht glücklich sein kann, wie es bei narzisstischen Personen der Fall ist, fühlt er sich von den einfachsten Dingen überfordert. Dann werden die Aufgaben delegiert – damit ist die Narzisse die Aufgabe zwar los, aber trotzdem unzufrieden. Sie ist doch schließlich davon überzeugt, dass niemand all das so gut kann wie sie selbst. Dann zu sehen, dass es genauso gut auch ohne sie geht, ist für die Narzisse ein Schlag ins Gesicht. Sie will doch gebraucht werden. Sie will es doch am besten können. Das ist Grund genug für sie, wütend zu sein. Kann man ihre Forderungen allerdings nicht erfüllen, ist man in ihren Augen ein Versager. Und Versagen wird ebenfalls bestraft. Als Kind einer narzisstischen Mutter muss man sich darüber bewusst werden, dass man es niemals richtig machen kann.