Der Traum von der liebenden Mutter

»O Mutter, du weißt nicht, wie nötig ich dich habe; keine Weisheit, die auf Erden gelehrt werden kann, kann uns das geben, was ein Wort und ein Blick der Mutter uns gibt.«

Wilhelm Raabe

Wer sich ein bisschen mit Literatur rund um das Thema Mutter und Mutterliebe beschäftigt, wird in der Regel auf Zeilen stoßen, in denen von sehr edlen Eigenschaften die Rede ist. Die niemals müde Mutter, die rund um die Uhr für ihr Kind da ist. Die selbstlose Mutter, die jede Mühe auf sich nimmt, damit ihr Kind glücklich ist. Die Mutter, die zahllose Opfer bringt, über die sie niemals spricht, damit ihr Kind alles hat, was es braucht. Die Frau, die rund um die Uhr da ist, immer etwas tut, der nichts zu viel ist, die ihre eigenen Bedürfnisse immer hinten anstellt. Diese verklärte Literatur stammt aus längst vergangenen Zeiten. Das ebenso verklärte Mutterbild hat sich aber hartnäckig gehalten und herrscht bis heute vor. In ganz normalen Gesprächen mit Menschen, die man eben kennt, hört man nur selten, dass die eigene Mutter ihren Kindern das Leben schwer oder sogar zur Hölle gemacht hat. Man erfährt selten, dass eine Mutter eben nicht alles für ihr Kind tut, sondern sich selbst und ihre Interessen und Bedürfnisse an erste Stelle stellt. Auf der anderen Seite stehen die Mütter, die tatsächlich wundervolle Mütter sind und überhaupt nicht nachvollziehen können, dass andere Mütter nicht diesem ehrwürdigen Mutterbild entsprechen.

Der größte Teil der Gesellschaft kann sich – glücklicherweise – überhaupt nicht vorstellen, dass Mütter selbstsüchtig, egoistisch, eigennützig sein können, ihre Kinder entwerten, erniedrigen, beschimpfen, sogar schwer misshandeln, ihnen Schuldgefühle einreden, sie regelrecht ausbeuten. Nicht zuletzt sind es auch die selbstsüchtigen, ausbeutenden, eigennützigen Mütter, die ihren Kindern – auch im Erwachsenenalter – einreden, wie gut und unfehlbar sie selbst sind, und sie bis ans Ende ihrer Tage weiterhin abwerten, anschuldigen und beschimpfen. Nach außen hin scheint aber alles in Ordnung zu sein. Misshandelte Kinder – darunter stellt man sich die armen Geschöpfe vor, die in Sensationsberichten durch die Presse gehen. Nur selten ahnen Außenstehende, dass sich auch hinter einer schönen und perfekt wirkenden Fassade schlimmster Missbrauch verbergen kann. Dass Mädchen, die eine gute Schulbildung erhalten, eine gute Ausbildung, deren Mutter scheinbar alles für ihre Familie tut, in Wahrheit die Hölle auf Erden erleben.

Kinder brauchen die bedingungslose Liebe ihrer Mutter. Die Mutter ist – neben dem Vater – die erste wichtige Vertrauensperson im Leben eines Kindes und unter normalen Umständen besteht ein sehr starkes Band zwischen Mutter und Kind. Bedingungslose Liebe bedeutet, dass ein Kind niemals zu hässlich, zu klein, zu groß, zu dünn, zu dumm, zu dick sein kann. Bedingungslose Liebe für das eigene Kind bedeutet, dass es gefördert wird in den Dingen, die es gut kann, dass es ermutigt wird, eigene Entscheidungen zu seinem Werdegang zu treffen, und diesbezügliche Wünsche der Mutter keine Rolle spielen. Bedingungslose Liebe einer Mutter zu ihrem Kind bedeutet, das Kind wertzuschätzen, es zu lieben, immer für es da zu sein, es mit Konsequenz zu erziehen, es aber dennoch »sein zu lassen«, und zwar so, wie es sein möchte und wie es seiner Persönlichkeit entspricht. Das sind fromme Wünsche oder Wunschvorstellungen, die an das verklärte Mutterbild in Gedichten und Zitaten anschließen. Aber nimmt man mal das ganze »Altbackene« aus diesen Vorstellungen heraus, was Opferbereitschaft und andere altruistische Eigenschaften einer Mutter betrifft, bleibt doch genau das, was wir uns wünschen, wenn wir an eine Mutter denken. Eine Mutter ist in unseren Vorstellungen liebevoll und fürsorglich, in ihrer Obhut müssen wir keine Angst haben. Sie schützt uns. Sie fördert uns. Sie liebt uns, egal, wie wir sind, und dafür muss sie auch nicht alles super finden, was wir tun oder entscheiden. Natürlich macht jede Mutter Fehler. Dennoch schaffen es die allermeisten Mütter glücklicherweise, ihr Kind tatsächlich zu lieben, zu schützen, zu fördern, aufzubauen und ihm das Gefühl zu geben, willkommen und geliebt zu sein.

Nicht so narzisstische Mütter. Betroffene, die narzisstischen Missbrauch durch die eigene Mutter erlebt haben, weisen viele Gemeinsamkeiten auf. Da sind die Gefühle der eigenen Wertlosigkeit. Schuldgefühle, die man sich selbst oft nicht erklären kann und von denen man eigentlich weiß, dass sie unangebracht sind. Aber man fühlt sie nun mal. Töchter, die bei narzisstischen Müttern aufwuchsen, haben immer sehr schnell diese Schuldgefühle, oft in Situationen, die andere – unbelastete Menschen – überhaupt nicht nachvollziehen können.

Ich habe mit so vielen Frauen gesprochen, die bei narzisstischen Müttern groß wurden, und so fiel mir noch eine Gemeinsamkeit auf: Alle miteinander, auch ich, hatten das Gefühl, ganz viel dafür tun zu müssen, um geliebt und geachtet zu werden, und zwar weit über die persönlichen Grenzen hinaus. Grenzen? In der Regel haben wir Betroffenen keine Grenzen beziehungsweise haben wir in unserer Kindheit gelernt, dass wir sie nicht haben dürfen. Wir müssen sie später regelrecht suchen. Sie erkennen und es uns erst einmal selbst eingestehen, dass wir sie haben. Und dann müssen wir mühselig lernen, unsere Grenzen genau zu definieren und darauf zu achten, dass andere Menschen sie nicht überschreiten. Wir haben nämlich gelernt, dass wir als Egoisten bezeichnet werden, wenn wir auch nur darüber nachdenken, Grenzen zu ziehen oder eigene Bedürfnisse zu äußern.

Alle Betroffenen sehnen sich nach etwas Respekt für all das, was sie tun – und bekommen ihn nicht. Im Gegenzug sind Kinder narzisstischer Mütter aber fast automatisch und völlig instinktiv dazu bereit, anderen Menschen absolut unkritisch viel zu viel Respekt entgegenzubringen und über die eigenen Kräfte hinaus für sie da zu sein. Wir alle sind unendlich dankbar, wenn man uns Interesse und etwas Aufmerksamkeit schenkt, wenn man sich uns in Liebe (oder scheinbarer Liebe!) zuwendet, und so haben wir Betroffenen gar nicht selten das Gefühl, endlich auf dem richtigen Weg zu sein. Wir strengen uns dann noch mehr an, bringen noch mehr Leistung, tun noch mehr – nur damit wir geliebt werden.

Man muss sich als nicht betroffener Mensch sicher nur mal eine kurze Zeit darüber Gedanken machen, was Gefühle von Wertlosigkeit, unangemessener Dankbarkeit, unkritischem Respekt anderen Menschen gegenüber, Schuldgefühle und die überhöhte Bereitschaft, Leistung zu erbringen, im Leben einer erwachsenen Frau anrichten können. Das sind Dinge, die man als Betroffene erkennen muss, sonst wird man nichts als ein dienstbarer Geist sein, der sich selbst für wertlos hält, immer alles für andere tut, für sich selbst nichts oder viel zu wenig einfordert – und irgendwann bricht das ganze Kartenhaus zusammen. Davor haben die meisten furchtbare Angst. Was passiert denn, wenn Menschen wie wir mal selbst nicht mehr können? Wenn wir krank werden, Fehler machen, Dinge nicht perfekt erledigen? Wir haben in der Regel sofort eine unbeschreibliche Angst in uns, dass wir nun nicht mehr geliebt werden, weil wir nicht mehr nützlich sind, sondern – ein Albtraum für uns – einem anderen Menschen zur Last fallen.

Narzisstische Mütter pflegen sehr häufig sogenannte On-Off-Beziehungen zu ihren Kindern. Sie umgarnen sie, wenn sie sie brauchen. Und sie stoßen sie von sich, wenn sie ihnen gerade überflüssig scheinen. Ich werde darauf noch näher eingehen. Und ich möchte betonen, dass betroffene Frauen aller Altersgruppen tiefe Sehnsüchte haben. Wir haben Sehnsucht nach unserer Mutter. Ja, wir sind erwachsen, sie muss uns nicht mehr in den Arm nehmen – auch wenn es schön wäre und wir es bei anderen, oft Gleichaltrigen, sehen. Auch als erwachsene Frau wünschen wir uns unsere Mutter in unserem Leben als wichtige Vertrauensperson. Ich selbst sehe überall Mütter, die von lächelnden Töchtern irgendwohin begleitet werden: zum Einkaufen, zum Doktor. Oder einfach nur Mütter und längst erwachsene Töchter, die miteinander spazieren gehen, dabei lachen und tolle Gespräche führen. Ich sehe überall engagierte Mütter, die stets für ihre Töchter da sind, egal wie alt diese sind – die aber deren Eigenheiten respektieren und sie einfach »sein lassen«. Ich sehe eine Vertrautheit zwischen vielen Müttern und Töchtern, wie es sie für mich und viele andere Betroffene nie gegeben hat. Es tut weh, das zu sehen, obwohl ich mich persönlich für die Frauen freue, die das genießen dürfen. Ich habe gelernt, ohne all das zu leben.

Viele betroffene Frauen müssen sich von dem Traum, eine Mutter zu haben, gänzlich verabschieden. Bei manchen ist überhaupt kein Kontakt mehr möglich. Bei anderen ist der Kontakt selten und jedes Mal frustrierend. Wieder andere pflegen häufigen Kontakt, fühlen sich aber weiterhin hilflos ausgeliefert und haben keine Ahnung, wie sie mit den überzogenen Ansprüchen und all den Macken ihrer narzisstischen Mütter, der Entwertung und auch all der Gleichgültigkeit gegenüber der eigenen Belange umgehen sollen. Alle Betroffenen müssen damit leben, dass die eigene Mutter bei wichtigen Ereignissen in ihrem Leben entweder nicht dabei ist oder diese boykottiert. Wer keine Strategie entwickeln kann, um mit all dem umzugehen, wird immer wieder Enttäuschungen erleben und sich frustriert und verletzt fühlen. Wenn wir wissen, dass unsere Mutter narzisstisch ist – oder wie inzwischen üblich als »Narzisse« bezeichnet werden kann –, müssen wir Abschied nehmen. Nicht unbedingt von der Mutter, aber von dem Traum, dass diese, unsere Mutter jemals auch nur ansatzweise die Mutter sein wird, wie sie für andere Menschen ganz normal ist.

Wir müssen daraus unsere Konsequenzen ziehen: Das Gefühl für unseren eigenen Wert dürfen wir nicht mehr von unserer Mutter abhängig machen. Wir müssen uns mit unseren Schuldgefühlen auseinandersetzen, verstehen, warum wir sie haben, und sie loswerden. Wir müssen uns mit dieser unkritischen Art und Weise, anderen Menschen Respekt entgegenzubringen, den sie vielleicht nicht einmal verdient haben, auseinandersetzen, denn das sind Dinge, die man uns in der Kindheit so beigebracht hat. Wir müssen lernen, uns nicht mehr schlecht zu fühlen, weil unsere Mutter nicht dem üblichen Bild entspricht, während sie uns aber immer noch einredet, die beste Mutter der Welt zu sein. Wir müssen uns davon lösen, die Fehler stets bei uns selbst zu suchen. Wir müssen akzeptieren und darauf aufbauen, dass wir starke Menschen sind, die falsche Glaubenssätze übernommen haben, weil sie uns eingetrichtert wurden, als wir klein und schutzlos waren. Falsche Glaubenssätze, an denen wir jetzt arbeiten müssen. Wir müssen für uns Wege finden, mit dem Mutterthema umzugehen, und wenn wir uns von dieser Mutter nicht endgültig lösen wollen, so wie meine Schwester und ich das tun mussten, um uns selbst zu schützen, so müssen wir uns zumindest unverletzlich machen.

Der erste und wichtigste Schritt für uns selbst besteht darin, uns von diesem Traum zu verabschieden, sie könnte irgendwann – wenn wir ihr nur genug Liebe, Verständnis und Fürsorge zeigen – zu der Mutter werden, die für andere Menschen normal ist und die auch wir uns wünschen. Eine narzisstische Mutter wird niemals eine solche Mutter sein. Sie wird immer manipulieren, sie wird sich und ihre Bedürfnisse immer an die erste Stelle setzen, sie wird immer launisch sein und erwarten, dass man alles, was sie sagt oder tut, unkritisch hinnimmt. Eine narzisstische Mutter wird immer und für jede Kleinigkeit eine meist sogar unangemessene Dankbarkeit erwarten, und sie wird oft, wenn wir sie brauchen, nicht für uns da sein. Sie wird aber im Gegenzug immer verlangen, dass wir stets auf ihrer Seite sind, sie niemals kritisieren, denn sie ist unfehlbar. Wenn sie mit jemandem Streit hat, müssen wir diese Person hassen. Kommt sie mit jemandem gut zurecht, müssen wir diese Person mögen. Es gibt für eine narzisstische Mutter nur schwarz und weiß, dazwischen gibt es nichts. Wer nicht für sie ist, ist gegen sie.

Je früher wir uns mit diesen Gedanken vertraut machen und je eher wir es schaffen, unseren Traum von der fürsorglichen Mama, wie wir sie vielleicht von unserer besten Freundin kennen, zu verabschieden, umso eher sind wir auf einem für uns selbst gesunden Weg. Umso eher kommen wir in unsere eigene Kraft. Nur so enden die Gefühle der Hilflosigkeit. Wir müssen ins Handeln kommen, statt nur hilflos auf das zu reagieren, was uns an den Kopf geworfen oder angetan wird. Wir müssen die Verantwortung für uns und unser Leben in die Hand nehmen und unserer Mutter damit die Macht über unsere Emotionen entreißen. So oder so gilt es etwas zu beerdigen: den Traum der liebenden Mutter, wie wir sie uns gewünscht hätten. Die wird sie niemals sein.