Nackt im Ameisenhaufen

Die Bremsen kreischten, als der Güterzug abbremste. Über das Geräusch hinweg war der gellende Schrei einer Frau zu hören. Sie glaubte wohl, wir wären unter den Zug gekommen.

Workuta half mir auf der anderen Seite auf die Beine. Meine Krücke war bei dem Sprung meterweit geflogen. Ich humpelte hinüber, nahm sie hoch und trat dann auf den schmalen Grünstreifen jenseits des Gleisbetts.

Hinter uns bremste der Güterzug immer noch. Er bestand aus zwei Lokomotiven und zig Tankwagen, und die Räder sprühten Funken. Eine Kette aus Dutzenden Waggons versperrte unseren Verfolgern den Weg.

Wir liefen den Grünstreifen entlang und arbeiteten uns über den Maschenzaun, hinter dem sich ein Rangierbahnhof erstreckte. Zuerst leere Schienen, dann stand ein weiterer Zug vor uns, diesmal mit zugedeckten Güterwagen. Hier wartete die mobile Kunstgalerie der Street Artists auf frische Pieces. Wenn man nur Zeit hätte zu malen.

Wir überquerten die Gleise, Workuta half mir, mich zwischen zwei Waggons hindurchzuschlängeln. Dann kletterte er die Leiter am hinteren Ende eines Waggons hoch und hielt Ausschau, als säße er in einem Mastkorb. Ein ganzes Stück entfernt hatte der Lokführer seinen Tankzug endlich zum Stehen gebracht.

»Sie kommen«, sagte Workuta. »Klettern gerade zwischen den Tankwagen hindurch.«

»Wie viele?«

»Zwei.«

»Nicht unbedingt in böser Absicht.«

»Ganz bestimmt nicht«, entgegnete Workuta trocken.

Auf dem Nachbargleis rauschte ein Personenzug vorbei, das Licht aus den Fenstern warf ein Leopardenmuster auf die Erde.

Workuta spähte zwischen den Güterwagen hindurch.

»Wir schaffen es nicht über den Rangierbahnhof bis zu den Lagern«, sagte er. »Du mit deinem Bein jedenfalls nicht.«

Zwischen uns und dem Lagerareal entlang des Rangierbahnhofs Warschauer Straße lagen weitere sechs Gleiszüge. Das Gelände war offen einsehbar und gut beleuchtet. Da hätten wir genauso gut bei Tageslicht auf einem Dreirad über eine Startbahn strampeln und hoffen können, dass man uns vom Tower aus nicht sähe.

Aber Rangierbahnhöfe waren mein Revier. Ich wusste, wo sich die schattigsten Stellen befanden.

»Unter die Brücke«, sagte ich. Im Schatten der Brückenpfeiler hatten uns die Sicherheitsmänner aufgelauert, in Kotka in jener Nacht, als Rust gestorben war. Wir hatten sie nicht bemerkt, obwohl wir unsere Fühler ausgestreckt hatten.

Im Schutz des Güterwagens liefen wir auf die Brücke zu, wo die Warschauer Straße den Rangierbahnhof überquerte.

Workuta spähte unter einem Waggon hindurch.

»Wir schaffen es nicht bis unter die Brücke«, flüsterte er. »Sie sind schnell. Schon am Zaun.«

Wir hatten gerade eben den letzten Waggon erreicht, als die Männer auch schon die verwaisten Gleise überquerten. Hinter dem Zug blieben wir stehen und warteten. Bis zum ersten Pfeiler der Brücke waren es noch etwa vierzig Meter.

»Vergiss es«, sagte Workuta, als er meinen Blick sah.

Er beobachtete unter dem Waggon hindurch, wie unsere Verfolger zwischen zwei der zugedeckten Güterwagen auf den beleuchteten Rangierbahnhof hinaustraten.

Als Erstes überprüften sie die offene Schienenlandschaft, die sich vor ihnen erstreckte. Vor ihnen raste ein weiterer Zug vorbei, ich sah die Fenster des Bordrestaurants, drinnen hielt eine Frau ihre Gabel hoch wie zu einem Victoryzeichen.

Einer unserer Verfolger kletterte auf den Güterzug und vergewisserte sich, dass wir nicht oben auf dem Dach hockten.

Sobald er wieder herunterkam, trennten sich die beiden und marschierten am Zug entlang, der eine nach vorn, der andere nach hinten, und spähten zwischen den Waggons systematisch zur anderen Seite. Wir standen immer noch mit angehaltenem Atem hinter dem letzten Waggon.

Die Männer überprüften sogar die verschlossenen Schiebetüren. Der eine, der auf uns zukam, hielt etwas Glänzendes in der Hand.

»Scheiße«, hauchte ich.

»Komm mit«, flüsterte Workuta mir ins Ohr. »Und halt dich unten. Damit es keinen Lichtbogen gibt.«

Im nächsten Moment war er auch schon die Leiter am Waggon hinaufgeflitzt und auf dem Dach verschwunden. Ich kletterte ihm nach und legte mich so flach wie möglich hin. Während ich mit dem Kopf zur Leiter liegen blieb, kroch Workuta ans andere Ende des Waggons.

Wir warteten.

Schräg hinter mir knirschte der Schotter. Es wurde still, dann polterte es, als der Mann versuchte, die Tür des vorletzten Waggons zu öffnen. Wieder knirschte der Schotter, diesmal näher. An der Stelle, wo Workuta lag, machten die Schritte halt.

Ich zerbiss mir die Unterlippe, hatte den Geschmack von Rost im Mund.

Am liebsten wäre ich so schnell gerannt, wie ich nur gekonnt hätte. Immer geradeaus. Obwohl ich auf einem Zugdach lag. Obwohl mein Bein noch nicht wieder in Ordnung war. Man kann durch die Luft laufen, wenn man seine Beine nur schnell genug bewegt.

Das Knirschen setzte wieder ein, der Mann lief jetzt direkt an unserem Waggon vorbei. Er überprüfte die Schiebetür, kam dann ans Zugende.

Unten war es totenstill, bestimmt sah sich der Mann mit Habichtsaugen um, suchte nach irgendetwas Auffälligem, nach einer Abweichung. Der Verkehrslärm auf der Warschauer Straße vermischte sich mit dem Rauschen in meinen Ohren.

Ich presste meine Finger gegen die Schenkel, damit sie nicht nervös aufs Dach trommelten. Ich schwitzte und fror gleichzeitig.

Dann hörte ich den Mann die Leiter hochsteigen.

Wieder wurde es still. Aus irgendeinem Grund hatte er auf halbem Weg haltgemacht.

In meinem Hals juckte es. Ich hätte schreien wollen. Laufen. Stattdessen legte ich die Hand um die Krücke.

Ein leises Knacken. Der Mann war weitergeklettert. Die Finger seiner linken Hand schoben sich über die Dachkante.

Ich hielt die Luft an. Endlich erschien auch die rechte Hand. Sie hielt eine Pistole umklammert.

Sowie sich der Kopf des Mannes über die Dachkante hob, rammte ich ihm die Spitze meiner Krücke so fest in die Fresse, wie ich nur konnte.

Er schnappte nach Luft, sein Kopf flog nach hinten, dann verschwanden beide Hände. Unten krachte es.

Ich schnellte auf die Leiter zu und spähte nach unten. Der Mann lag rücklings auf den Schienen. Ich ließ mich auf den Schotter runter, entwand ihm die Waffe, die er immer noch in der Hand gehalten hatte, humpelte, so schnell ich konnte, hinüber zur Brücke und tauchte in den Schatten der Pfeiler ein. Dabei achtete ich darauf, dass das Ende des Güterzuges mich vor dem Blick des zweiten Mannes schützte, der immer noch den vorderen Teil absuchte.

Workuta war mir gefolgt.

Vorsichtig zogen wir uns zurück. Im Schutz des schräg fallenden Schattens schlich ich zum nächsten Brückenpfeiler.

Der zweite Mann war lediglich als dunkle Gestalt zu erkennen. Er würde wohl noch eine Handvoll Waggons und die Lokomotive überprüfen.

Im Schatten der Brückenpfeiler gelangten wir über den Rangierbahnhof zum Lagergelände, wo ich die Waffe in einen großen Müllcontainer warf, der nach vergammeltem Essen stank. Die Giebelwände der Gebäude waren von großen Murals bedeckt. Workuta hob den Maschendrahtzaun an, damit ich darunter hindurch und an einem Gebüsch vorbei auf die dahinter verlaufende Straße krabbeln konnte.

Ich warf noch einen Blick zurück. Die Wand zierte das Bild einer Frau, deren einzige Hülle Höhenlinien waren, wie man sie von Landkarten kennt; sie liefen über ihren unbekleideten Körper und markierten Kurven und Erhebungen. Die Frau hatte den Mund zu einem Schrei geöffnet, und über ihre Arme und Beine krabbelten riesige rot-schwarze Ameisen.

Genau so fühlte ich mich in diesem Moment: nackt im Ameisenhaufen.