Das Ziegeldach der Schule wellte sich wie Siegelwachs und der Sportplatz hinter dem Backsteinbau glich einem Stoppelfeld aus gelbem Gras. Davor glitzerte der Schulhof in der Sonne, als wäre der schwarze Asphalt mit Diamantstaub vermischt. Er wurde von zwei Anbauten mit Flachdach flankiert, einem neueren und einem älteren, die mit dem Hauptgebäude ein Triptychon bildeten. Noch heißer als hier war es nur im Kunstsaal des neuen Flügels, vor dem Ofen, hinter dessen Scheibe die Tanzschritte der Spinne langsamer und zugleich immer verzweifelter wurden.
»Du wirst disqualifiziert, wenn du dich nicht zusammenreißt.«
Es war die erste, zweite, dritte, vierte Spinne von fünf. Der Geschichtslehrer war krank und da sogar Benjamins Vater als Vertretung in einer anderen Klasse unterrichtete, hatten sie eine Freistunde. Sie waren zu viert im Kunstsaal.
Anfangs waren sie fünf gewesen, aber Simon war nach Hause gegangen, um seine Schultasche zu holen. Liam hatte sich über ihn lustig gemacht, so wie er jetzt die tote Spinne verhöhnte, und es war Simon schwergefallen, die Türklinke in die Hand zu nehmen. Es war schon richtig, dass er seine Schultasche vergessen hatte – Simon vergaß alles –, aber Benjamin hatte ihm auch angemerkt, dass ihm die Sache mit den Spinnen nicht gefiel. Erst war er total begeistert, aber schon nach der ersten Spinne passierte etwas mit ihm. Sein Blick fing an zu flackern, sein Körper wurde unruhig, sein Lachen schrill und hysterisch.
Sie waren zusammen aufgewachsen, Benjamin und Simon. Simons Mutter wohnte zur Miete in einem abgelegenen kleinen Haus am Ende der Straße. Benjamin hatte sich nie darum gerissen, ihn dort zu besuchen, weil das Haus aussah, als wäre es aus einem Horrorfilm. Weil immer ein furchtbares Durcheinander herrschte. Weil Simons Mutter stumm auf dem Sofa lag. Und weil jedes Mal andere Männer in einem Meer aus Flaschen im Wohnzimmer saßen und grimmig durch den Zigarettenrauch starrten. Simon dagegen fand den Weg zu Benjamin immer.
Benjamin hatte schon früh begriffen, dass Simon nicht wie andere Kinder war. Seine Gemütsschwankungen waren heftiger. Simon konnte verschlossen und in sich gekehrt sein und kurz darauf brüllend durch Benjamins Haustür stürmen, durch das ganze Haus sprinten, die Treppe rauf und wieder runter, sämtliche Türen aufreißen, um dann durch die Hintertür zu verschwinden – und hinter sich alles offen stehen zu lassen. Simon konnte ein und dieselbe Sache nicht nur zehn-, sondern hundertmal an einem Tag sagen. Simon durchlebte verschiedene Phasen mit fixen Ideen – zum Beispiel die Phase, in der er darauf beharrte, allem und jedem auf den Hintern zu hauen; keine gute Idee, in dieser Zeit mit ihm in den Supermarkt zu gehen. Oder auch: Gut, dass es keinen Rockertreff in der Nähe gab.
Simon gehörte nicht in eine normale Schule. Einmal hatte Benjamin seinen Vater darauf angesprochen, schließlich war er der Schulleiter. Sein Vater hatte ihn angesehen und gesagt: Wenn wir bei uns, an unserer kleinen Schule, keinen Platz für ihn haben, wie soll er ihn dann in der Welt finden, was meinst du?
Simon war verwirrt und den Tränen nah, als Liam ihn eine Memme nannte. Simon bewunderte Liam, einfach nur weil er der Größte und Stärkste an der Schule war und weil es ihm gelegentlich in den Sinn kam, Simon kräftig zwischen die Schulterblätter zu klopfen und so zu tun, als wären sie Freunde.
Aber weil Simon in Liams Augen dumm – und folglich ungefährlich – war, setzte er ihm nie wirklich hart zu. Anderen erging es viel schlimmer. Wie zum Beispiel Elias, der jetzt einen Schlag in den Nacken kassierte.
»Das war deine Spinne. Verdammt schlecht erzogen, Mann.«
»He, spinnst du?«, sagte Elias mit zusammengekniffenen Augen, den blutleeren Kopf in Erwartung des nächsten Hiebs zwischen die Schultern gezogen.
»Jetzt kommt Papas Monster.«
Die Spinne füllte Liams stattliche Handfläche aus. So groß war noch keine gewesen. Sie hatte ein gelbes Kreuz auf dem breiten Hinterleib, gebogene Beißklauen und rötlich schimmernde Haare an den Beinen. Vielleicht war es eine neue Art. Hitze schlug ihnen entgegen, als Liam die Klappe öffnete und die Spinne in den Ofen warf.
»Du stoppst die Zeit?«
Benjamin nickte, den Blick auf die Uhr gerichtet. Das Reaktionsmuster der Spinnen war immer dasselbe: Erst kauerten sie sich zusammen, dann suchten sie den Ofen rauf und runter nach einem Fluchtweg ab, und schließlich – da es überall gleichermaßen unerträglich heiß war – orientierten sie sich am Licht und warfen sich gegen das Glas. Am Ende würde sich auch diese Spinne auf dem Boden bis zur Unkenntlichkeit zusammenkrümmen, verschwinden. Genauso empfand er beim Zusehen: erst Anspannung in alle Richtungen, Faszination, die für einen kurzen Moment leidenschaftlich tanzte, um dann ganz plötzlich zu einem kleinen harten Klumpen Ekel zu schrumpfen, in einem ansonsten leeren schwarzen Ofen.
Aus diesem Grund war Benjamins Blick eher auf Liams Profil gerichtet als auf die Spinne hinter der Scheibe. Liams Nase war wie ein Felsvorsprung. Ein Knick in der Mitte, danach freier Fall. Benjamin hatte Liam noch nie gefragt, ob er sie sich mal gebrochen hatte; so etwas bezahlte man leicht selbst mit einer kaputten Nase. Auch Liam ist hier fehl am Platz, dachte Benjamin. Er gehört woanders hin. In eine Zelle.
Unauffällig wandte er den Blick von Liam und dem Ofen ab. Sie saßen in einer Stuhlreihe wie im Theater, zwei freie Plätze zwischen ihm und Elias. Es war unmöglich, seine Miene zu deuten, sein Gesicht war verschwommen und bleich wie Teig. In einer Woche sollte das Schulfest stattfinden und überall stapelten sich Schilder, Kulissen und bunte Kostüme. Benjamin erlaubte sich, kurz den Kopf zu drehen und zu Kate zu schauen, die hinter ihnen auf der Fensterbank saß. Ausdruckslos erwiderte sie seinen Blick, dann starrte sie wieder in den Ofen.
Liam hatte es nicht kommentiert, dass Kate nicht auf einem der Stühle saß, und Benjamin wusste auch genau warum. Unter allen Schülern der Schule gab es nur drei, auf die Liam es nie abgesehen hatte.
Benjamin, weil sein Vater hier Schulleiter war. Das heißt, eigentlich nicht wegen dieser Stellung, sondern weil sein Vater der war, der er war: Johannes.
Maja, weil Liam – genau wie die Hälfte aller Jungs der Schule – in sie verliebt war. Maja, die jetzt gerade auf der Treppe vor der Schule saß und sich die Sonne auf die gebräunten Beine scheinen ließ, was Benjamin das merkwürdige Gefühl gab, dass Liam – und vielleicht auch er selbst – an sie dachte, während er dabei zusah, wie die Spinne versuchte, an der Scheibe hochzuklettern.
Kate, weil sie anders war. Dünn, schwarz gefärbte Haare, Ringe in Augenbraue, Wange und Unterlippe. Weil sie seltsame Sachen sagte. Weil ihr Vater sich in den Kopf geschossen hatte. Weil sie ein kleines Mädchen gewesen war, als er es tat. Und vor allem, weil sie ein kleines Mädchen gewesen war, das angeblich alles mit angesehen hatte.
»Das ist Mord.«
Kates Tonfall war nicht vorwurfsvoll, eher so, als hätte sie gerade das Ergebnis einer Matheaufgabe herausgefunden. Liam antwortete, ohne den Blick von den drei letzten, zitternden Spinnenbeinen abzuwenden.
»Ja, klar ist das Mord. Aber wenn sie sich ferngehalten hätte, wäre sie nie gefangen worden. Und wer weiß: Wenn wir den Bestand nicht niedrig halten, werden sie vielleicht noch größer, besetzen die Schule und übernehmen die Macht. Dann könntest du in einem Spinnennetz hängen und Bücher lesen, bis du gefressen wirst, Elias! Die bewegt sich immer noch! Das muss der Rekord sein!«
Die Tür wurde so heftig aufgestoßen, dass die Klinke gegen die Wand knallte, und Bernhard Abrahamsen, Biologie- und Physiklehrer, starrte die vier Schüler ungläubig an. Er war einer dieser älteren Lehrer, die schon bei der kleinsten Kleinigkeit ausflippen konnten. Um diese Uhrzeit hatten sie hier keinen Lehrer erwartet und jetzt hatte er sie auf frischer Tat ertappt. Er kam auf sie zu. Zwei Schritte. Abrahamsen war so unfassbar wütend, dass er in seinem roten Kopf nach Worten suchen musste. Er öffnete den Mund, aber das Einzige, was herauskam, war das Blut, das aus seiner Nase auf die Oberlippe rann. Dann kippte er der Länge nach um. In der folgenden Stille ertappte sich Benjamin dabei, dass er sich zum ersten Mal nach dem Klang von Liams schadenfrohem Gelächter sehnte.