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Da die Schule in einer Senke lag, hatte es schon immer Probleme mit der Netzabdeckung gegeben. Hätte sie in der Hauptstadt in einer Senke gelegen, wäre das Problem an einem Nachmittag behoben gewesen, aber hier draußen konnte der Empfang über Jahre kommen und gehen, ohne dass jemand etwas unternahm. Wenn man zur Landstraße ging, kam man meistens ganz gut durch. Aber wollten sie wirklich, dass sich die Schüler an eine Schnellstraße hockten oder der Statue eines Nationaldichters auf den Kopf kletterten, um ihre Aufgaben zu lösen? Man kam nicht umhin, das Ganze als eine Art Schikane aufzufassen. Als wollte man die Menschen dazu zwingen, sich in den großen Städten zusammenzuballen. Und jetzt ging gar nichts mehr. Sämtliche elektronischen Verbindungen und Signale waren tot.

Am liebsten wäre man aus purem Protest abgehauen, aber es wurde beschlossen, das Beste aus der Situation zu machen, und deshalb halfen Lehrer und Schüler, eine lange Reihe aus Tischen und Stühlen in der Turnhalle aufzubauen. Man deckte zusammen den Tisch und servierte das Essen, als wäre alles so geplant. Man erzählte von damals, als man am Flughafen gestrandet war, was sich als das denkwürdigste Ereignis einer Ferienreise herausgestellt hatte. Oder von dem Weihnachtsfest, als der Strom ausgefallen war und im magischen Schein der Kerzen gefeiert wurde. Der Schulleiter klopfte an sein Glas und stand auf.

»Wenn ich uns hier so versammelt sehe, kann ich kaum glauben, dass unser Schulfest erst in fünf Tagen stattfinden soll. Das zeigt, wie anpassungsfähig wir sind, hier, wo wir um alles kämpfen müssen, weil uns nichts auf dem Silbertablett serviert wird. Ich warte noch immer auf Antwort, wann wir nach Haus dürfen, und danke euch für eure Geduld und eure positive Einstellung. Ich bin sicher, dass so etwas nicht unbemerkt bleiben wird.«

Johannes ließ den Blick langsam durch den Raum wandern, dann fuhr er fort.

»Wir haben den wärmsten Sommer seit Bestehen der Schule und da kann man sich nur schwer vorstellen, wie kalt es in der Antarktis ist«, sagte er und zeigte auf sein Glas. »Aber dort ist es so kalt, dass der Inhalt dieses Glases an der Luft schneller zu Eis gefriert, als man bis fünf zählen kann. Selbst für einen Pinguin ist so ein Winter mitunter lebensgefährlich. Aber die Pinguine überleben, indem sie zusammenhalten. Und zwar buchstäblich: Sie stellen sich auf – bis zu mehreren Hundert Pinguinen – und bilden einen dichten Pulk, um die Wärme zu halten. Die Pinguine, die ganz am Rand stehen, werden natürlich einer extremen Kälte ausgesetzt, aber die Tiere haben ein Rotationssystem entwickelt und wechseln sich außen ab. Auf diese Weise überleben alle, wo viele von ihnen dran glauben müssten, wenn jeder nur an sich denken würde.«

Johannes erhob sein Glas.

»Um bei dem Bild zu bleiben: Unsere Schule hatte schon viele harte Winter, besonders in den letzten Jahren, aber wir haben sie alle überlebt, indem wir zusammengestanden und uns abgewechselt haben. Ich danke euch allen dafür, dass ihr innen wie außen wart – und für euren engen Zusammenhalt.«

Benjamin bemerkte, wie der Blick seines Vaters für einen Moment bei seiner Dänischlehrerin Emilie verharrte, die eine der hartnäckigsten Kämpferinnen für das Überleben der Schule gewesen war. Sie hatte Leserbriefe geschrieben, Flyer verfasst, war die treibende Kraft hinter der abschließenden Demonstration gewesen und hatte sich abwechselnd mit seinem Vater in den Medien geäußert.

»Ich bin ein Waran im Kostüm eines Pinguins«, sagte Kate.

Elias, der Benjamin gegenübersaß, verzog keine Miene.

»Du bist ein Freak im Kostüm eines noch freakigeren Freaks«, sagte Liam, den Mund voller Fladenbrot.

Maja seufzte, ob nun über ihre Klassenkameraden oder wegen der gescheiterten Modelkarriere, die sie den ganzen Nachmittag wie ein Diadem mit sich herumgetragen hatte. Simon war stiller als gewöhnlich.

Emilie stammte nicht aus der Gegend, sie war an einem der ruhmreichen Hauptstadtseminare ausgebildet worden, aber das Landleben an einer kleinen Schule, die versuchte, sich von anderen abzuheben, hatte sie gereizt. Vor fünf Jahren hatte sie Benjamins Klasse übernommen. Es war ihre erste Klasse überhaupt. Benjamins Blick ruhte auf Emilie, als sie sich umdrehte und ihm freundlich zulächelte, was er mit einem verschämten Zucken erwiderte.

Es war nicht so, dass Emilie ihm mehr Ruhe vermittelte als sein Vater. Aber ihr gelang etwas anderes. Benjamin hatte die vage Ahnung, dass sie die einzige Erwachsene war, die ihn verstand. Deshalb entschied er sich auch dafür, sich an dem Quiz zu beteiligen, das für alle Klassen arrangiert wurde. Liam dagegen meinte, durchschaut zu haben, dass es sich dabei um getarnten Unterricht handelte. Außerdem war es unmöglich zu schummeln, solange ihre Handys keinen Empfang hatten. Die erste Frage betraf den Dichter auf dem Schulhof.

»Wann wurde er geboren?«, fragte Emilie. »Geburtsjahr und gerne auch das Datum. Beides steht auf dem Sockel der Statue.«

Benjamin meldete sich, aber er wurde von einem lauten Donnergrollen unterbrochen. Als der Krach gar nicht wieder aufhörte und die Blitze ununterbrochen über die Decke und Fenster der Turnhalle jagten, hasteten Johannes und einige Lehrer zur Tür. Kurz darauf versammelten sich alle in der Nähe des Eingangs auf dem Schulhof.

Da waren eins, zwei, drei, vier oder fünf große Lastwagen und eine entsprechende Anzahl orangefarbener Bagger, deren Scheinwerfer hierhin und dorthin fegten. Sie rollten lärmend vor und zurück wie Monster in einem gewaltigen Kampf, bei dem ein Mensch nur Zuschauer sein konnte. Johannes näherte sich furchtlos. Eines der Monster zögerte, eine schwarze Silhouette beugte sich aus dem Führerhaus und Benjamin konnte an der Körpersprache seines Vaters erkennen, wie aufgebracht er war. Hinter Benjamin fragte jemand:

»Was machen die da?«

Ein Lehrer machte eine humoristische Bemerkung, dass vielleicht endlich das Geld für den lange ersehnten Umbau bewilligt worden sei. Ein anderer meinte, dass es aber dann ja wohl Schwarzarbeit wäre. Benjamin stand neben Emilie. Die Arbeiter hantierten mit langen Rohren, als ginge es darum, Erdbohrungen vorzunehmen. Dann kam das Drahtgitter. Es glänzte wie ein Fischernetz, das aus dem Wasser gezogen wurde. Als Johannes zu ihnen zurückkam, sah es aus, als hinge er zappelnd darin fest.

»Was wird das?«, fragte Emilie.

»Sie errichten einen Zaun um die Schule. Sie sagen, es sei zu unserem eigenen Besten.«