XI

Sie hatten es kaum geschafft, die Medikamente auszupacken und die Beipackzettel zu lesen, da waren bereits weitere Lehrer und Schüler erkrankt. Alle hatten dieselben Symptome: Übelkeit, hohes Fieber, Zahnfleisch- oder Nasenbluten und einen roten Ausschlag am Körper, häufig in Form von vier Streifen, als wäre der Patient von einer Katze gekratzt worden.

Benjamins Vater forderte die Schüler wiederholt über Lautsprecher auf, in den Klassenzimmern zu bleiben, bis ihre Lehrer mit weiteren Informationen zu ihnen zurückgekehrt waren.

Benjamin spürte, wie ängstlich Simon war. Er konnte nicht still sitzen und zitterte wie ein Blatt im Wind, die eine Hand in der Hosentasche, als würde sie Amok laufen, sobald er sie freiließ, während die andere unaufhörlich auf seinen Oberschenkel trommelte. Benjamin legte beruhigend eine Hand auf seine Schulter. Simon sah ihn mit großen Augen an und nickte, nur um sofort mit seinem nervösen Trommeln weiterzumachen. Weil Simon sich fürchtete, hatte Benjamins Angst nachgelassen. Alles erschien immer noch so unwirklich. Mehrere Klassenkameraden weinten und trösteten sich gegenseitig. Ein paar Mädchen hatten sich um Maja versammelt, die sich vorsichtig eine Träne von der Wange tupfte.

Carolines Platz war leer. Sie hatte Fieber und musste sich übergeben, deshalb war sie mit Emilie weggegangen. Ihre Sitznachbarin, Lærke, saß ganz vorne auf der Kante ihres Stuhls vor dem leer geräumten Tisch, die Arme um die Brust geschlungen.

Liam tigerte vor den Fenstern auf und ab. Sein Blick richtete sich abwechselnd zum Zaun und in den Himmel, während er immer wieder mit der Faust auf die Fensterbank schlug.

»Ich finde einen Weg hier raus! Das werde ich!«, sagte er. »Ich werde verdammt noch mal einen Weg hier rausfinden!«

Nur Elias und Kate schien die Situation nicht weiter zu beeindrucken. Elias lag auf dem Tisch, das Kinn auf die verschränkten Arme gestützt, als würde er sich rechtschaffen langweilen. Kate hatte sich auf die Fensterbank gesetzt und das Durcheinander genutzt, um sich eine Zigarette anzuzünden, die sie aus dem Fenster hielt.

»Du sollst hier nicht rauchen!«, rief Maja. »Was machst du da!? Das ist verboten. Du sollst nicht rauchen!«

Kate zog an ihrer Zigarette, blies den Rauch aus dem Fenster, dann sah sie Maja an.

»Du sollst nicht töten«, sagte sie.

Alle versammelten sich in der Turnhalle, um zu erfahren, was erlaubt war und was nicht. Benjamin fiel auf, dass der Anzug seines Vaters dreckig war, fast so, als hätte er sich auf dem Sportplatz geprügelt. Aber Johannes ließ sich nichts anmerken, er sprach wie immer ruhig und überlegt, als er ihnen mitteilte, dass das hier ein Fall von höherer Gewalt war – eine Notsituation, die neue Regeln erforderlich machte, Regeln, die ohne Ausnahme befolgt werden mussten.

Dann ging er sie Punkt für Punkt durch. Er erklärte, dass die Klassenlehrer als Kontaktpersonen alle Fragen und Überlegungen besprechen würden. Dass die Kranken im Physikraum untergebracht würden, damit sie umgehend in medizinische Behandlung kämen. Die neuen Regeln für Handwäsche und Hygiene. Dass es ausdrücklich verboten war, sich dem Zaun bis auf einen Meter zu nähern. Regeln, wie in dieser Situation, die hoffentlich bald überstanden sein würde, an der Schule unterrichtet, gegessen, geschlafen, ja, gelebt werden sollte.

Während die Sonne unterging und sich der Himmel rosa färbte, wurden die beiden Lehrer in der hintersten Ecke des Sportplatzes beerdigt und Benjamin begriff, dass sein Vater geholfen hatte, die Löcher zu graben.

Er trug noch immer denselben dreckigen Anzug, als Benjamin ihn spät am Abend auf dem Dach des Anbaus fand. Emilie war auch da. Benjamin hatte damit gerechnet, weggeschickt zu werden, weil es gegen die neuen Regeln war, sich zu dieser Uhrzeit im Freien aufzuhalten, aber sie sagten nichts. Benjamin hob den Blick. Der schwarze Vogel war schwer auszumachen, man erahnte nur einen schwebenden Schatten und vielleicht war auch der nur Einbildung. Aber er war da. Für einen kurzen Moment legte sein Vater ihm die Hand auf die Schulter.

»Ist bei dir alles okay?«

Benjamin nickte.

»Wir brauchen in jeder Klasse jemanden, der die Ruhe bewahrt«, sagte Emilie. »Bestimmt sind es nur ein paar Tage. Dann wird dieser … Zustand aufgehoben, nicht wahr?«

Emilie und Benjamin sahen den Schulleiter an, als warteten sie auf eine Bestätigung, aber er starrte nur vor sich hin.

»Habt ihr auf die Lastwagen geachtet?«, fragte er. »Der gesamte Verkehr ist von der Landstraße verschwunden.«