Jeder Tag begann damit, dass die Schüler und Lehrer der Schule sich im Schulhof aufstellten und gemeinsam sangen. Emilie sang mit einer Stimme, die so jung und klangvoll war, als wäre sie über Trauer und Schmerz erhaben, von denen sie ansonsten mehr als genug hatten.
Benjamin sah ihr an, wie sehr die Nächte mit den Kranken und Ängstlichen und die Tage mit den Gesunden und Ängstlichen an ihr zerrten. Emilie war blass, fast durchsichtig vor Müdigkeit, obwohl sie manchmal auflebte und wieder wirkte wie die kluge, lustige große Schwester, die von einem Auslandsaufenthalt nach Hause zurückgekehrt war.
Sie alle waren unter der gleißenden Sonne versammelt, nur Simon nicht, der sich aus Angst vor dem Killervogel weigerte, nach draußen zu gehen. Simon gehörte zu den Klassenkameraden, denen es am meisten zusetzte. Er war wie erstarrt, nach innen gekehrt. Ab und zu nahm Benjamin ihn ganz einfach an der Hand, um ihn zu beruhigen oder ihn zu führen, aber raus wollte Simon auf gar keinen Fall.
Für Benjamin hatte sich das morgendliche Singen zum Höhepunkt des Tages entwickelt. Alle sangen mit, ohne Ausnahme, als würden sie darauf vertrauen, dass ihnen eines Morgens jemand zuhören würde. Und es gab ein paar Sekunden, rund um die letzte Strophe des Liedes, in denen Benjamin sich warm, glücklich und erschöpft fühlte, als wären sie einmal um die Welt gewandert und hätten soeben die Ziellinie überschritten. Fast hätte er Applaus und Umarmungen erwartet, auch wenn außer der Statue des Nationaldichters keiner da war, der das hätte bieten können.
»Ist dir etwas aufgefallen?«
Kate sah Benjamin an. Lehrer und Schüler waren auf dem Weg zurück in die Schule.
»Die Kühe sind weg.«
Benjamin schaute zur Weide. Es war lange her, dass sie einen Menschen oder auch nur ein Auto zu Gesicht bekommen hatten. Vor ein paar Tagen hatte er drüben bei den Bäumen etwas gehört, das wie ein Schuss klang.
»Ist euch sonst noch etwas aufgefallen?, fragte Elias, während er trippelte, als würde er einen Witz erzählen. »Nein? Mir schon: Für jeden Schüler, der stirbt, sterben zwei Lehrer.«