XXIX

Jetzt bin ich an der Reihe, dachte Benjamin, als er aufwachte. Er hatte Fieber, alles tat ihm weh, er hatte Halsschmerzen, seine Augäpfel brannten. Er lag auf einer Bank in der Jungenumkleide. Er kam in die Senkrechte. Stellte sich vor den Spiegel, trank aus dem Wasserhahn und betrachtete sich wieder im Spiegel. Keine roten Streifen, keine blutigen Nasenlöcher, kein Zahnfleischbluten. Er war nicht krank, er war verkatert.

Draußen auf dem Gang lagen kaputte Lampen und Stühle. An einer Stelle hatte ganz offensichtlich eine Kuchenschlacht stattgefunden. Durch die Glastür der Aula konnte Benjamin sehen, dass irgendjemand dem Dichter einen gelben BH angezogen hatte. In der Schule war es seltsam still.

Benjamin ging ins Lehrerzimmer. Die anderen hatten offensichtlich denselben Gedanken gehabt, denn nach und nach versammelten sich alle Schüler.

Kate saß auf der Fensterbank. Sie sah Benjamin in die Augen, aber er konnte sich zum Glück von Simon ablenken lassen, der ihm winkte und sich sofort an seine Seite heftete. Rechts von ihnen, auf einem Stuhl vor dem Regal, saß Maja, den Kopf gesenkt, die Hände zwischen den Schenkeln. Die Sonne strömte durch die Fenster, sodass man die Augen zusammenkneifen musste. Liam kam als einer der Letzten an, pfeifend und frisch geduscht. Er setzte sich zu Maja, legte den Arm um ihre Schulter, aber sie schob seine Hand weg, stand auf und ging durch den Raum, den Blick fest auf den Boden gerichtet und suchte sich einen anderen Platz. Benjamin wagte es kaum, sie anzuschauen, aber er behielt Liam im Blick, in dem die unterschiedlichsten Gefühle kochten, sodass sein Boxerzinken glühte.

»Ha! Ha!«, rief Liam. »Wer war das denn?«

Er zeigte auf Elias, der vollkommen kahl rasiert war. Er sah aus wie ein Gefängnisinsasse. Da stand Elias auf. Im Sonnenlicht wirkte er farblos, er sah schwach und stark zugleich aus und wirkte so unfassbar wütend, als wollte er sich an denen rächen, die ihm in der Nacht den Kopf kahl rasiert hatten.

»Sich eine Maske aufzusetzen hilft nicht, oder tut es das?!«, fragte er laut. »Keine Antwort?! Weil das Maskenspiel schon viel zu lange dauert! Dahinter steckt nichts anderes als die Gier – Materialismus, das allein ist der Motor! Wir leeren uns gegenseitig die Taschen! Wir leeren uns gegenseitig die Seelen!«

Mit einem Mal waren alle ganz still. Einer, der offensichtlich mit reichlich Restalkohol im Blut hinter Benjamin vor sich hin gebrabbelt hatte, hielt den Mund und Helene, die zwischen ihrem Platz und dem Mülleimer in der Küche hin- und hergewandert war, um sich zu übergeben, setzte sich.

»Und Gott? Gott sitzt auf dem Klo, mit einer Kanüle im Oberschenkel, weil er eine Überdosis Welt bekommen hat!«

Elias ließ den Blick von einem zum anderen schweifen.

»Wir haben in einer Lügenwelt gelebt! Wir haben falsch gelebt! Wir haben uns eingebildet, dass es eine Gesellschaft gibt, eine Gemeinschaft, und jetzt zeigt sich, dass das alles in vierundzwanzig Stunden aufgelöst, aufgehoben und gestrichen werden kann! Wir Menschen wollen niemanden, wenn es ein Risiko beinhaltet. Es gibt keine Nächstenliebe oder Empathie! Es gibt nur Begierde und Egoismus! Und weil wir das nicht erkennen, geht es uns schlecht!«

An dieser Stelle stand Maja auf, durchquerte noch einmal den Raum und setzte sich neben Elias. Benjamin konnte aus den Augenwinkeln sehen, wie Liam unruhig hin und her rutschte.

»Gemeinschaft und Menschlichkeit – das alles haben die Erwachsenen uns eingeredet. Aber jetzt haben wir den Beweis! Wir sind hier eingesperrt und ich frage euch: Gibt es da draußen jemanden, der an uns denkt? NEIN!«

Hier beugte sich Elias zu Maja und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie nickte mit gesenkten Augenlidern.

»Das Einzige, was an dieser Krankheit gerecht ist«, fuhr Elias fort, »ist die Tatsache, dass die Erwachsenen zuerst daran sterben – denn sie haben die Welt zerstört! Und wieso haben sie es getan? Wieso tun wir es? Weil wir es können

Man konnte spüren, dass noch andere im Lehrerzimmer gerne glauben wollten, dass Elias kein Mann mit Maske war und dass da gerade auch nicht Elias zu ihnen sprach, sondern ein ganz anderer. Benjamin wurde klar, dass niemand diese Glatze heimlich rasiert hatte – sondern dass es Elias selbst gewesen war. Im selben Moment stand Maja auf, steuerte direkt auf Benjamin zu und beugte sich vor, als wollte sie ihn küssen.

»Das Messer«, flüsterte sie.

Benjamin wusste nicht, was er anderes tun sollte, als zu gehorchen. Maja nahm das Messer, gab es an Elias weiter und stellte sich hinter ihn. Elias lächelte, als er die Klinge durch seinen Handrücken jagte, sodass sie in der Tischplatte stecken blieb.

»Du bist doch krank!«, brüllte Liam. »Du bist noch kranker, als ich dachte!«

Es gab einigen Aufruhr, bis Maja Elias auf den rasierten Schädel küsste, eine Geste, die dazu führte, dass die Schüler sich wieder beruhigten, als hätte Maja damit bewiesen, dass er in irgendeiner Form auserwählt war. Danach sprach Elias ruhig weiter, während das Messer noch immer fest in seiner zitternden, blutenden Hand steckte.

»So läuft es doch: Unser Nachbar reicht uns den kleinen Finger und wir nehmen ganz Afrika! Genau so läuft es: Wir fressen uns selbst. Wir fressen uns selbst, wie eine Wurst, von der wir Scheibe für Scheibe abschneiden. Wir haben die Erde ausgebeutet und jetzt rächt sie sich. Wir geraten in Panik, aber es ist ganz natürlich! Wer hat zuerst zugeschlagen? Es ist die einzige Chance der Natur – es ist ihre einzige Chance –, sich gegen unsere Angriffe zu verteidigen! Und jetzt ist es zu spät. Es gibt keine Wachposten, die kommen und diesen Kampf beenden. Jetzt werden wir zu Tode geprügelt.«

In der folgenden Stille starrten alle auf Elias’ Hand.

»Aber was können wir denn tun?«, wagte einer zu fragen.

»Es gibt nichts zu tun«, sagte Elias mit einem Lächeln in Richtung seiner Hand, als wäre sie ein fremdes Wesen, das sich schmerzerfüllt nach etwas Unerreichbarem zu strecken schien.