Es hatte sie schon immer gegeben, schon bevor das alles anfing: Diese Momente völliger Leere, in denen Benjamin die Orientierung verlor, nicht mehr wusste, wo er war oder wohin er gehen sollte. Jetzt war es wieder so, aber dieses Mal übermannte ihn das Gefühl mit größerer Macht, nicht nur vorübergehend, sondern anhaltend und drückend, widerwärtig; es kam ihm vor, als würde er fallen; als würde er bei jedem Schritt den Boden unter den Füßen verlieren.
Benjamin hatte darauf gewartet, dass Simon in den Biosaal zurückkam. Er hatte die ganze Nacht gewartet und als Simon nicht wieder auftauchte, suchte er ihn in jedem Winkel der Schule. Er rief ihn, er entschuldigte sich lautstark. Dann bekam er Angst, Simon könne einen Unfall gehabt haben oder krank geworden sein.
Aber Simon war auch nicht in der Turnhalle. Dennoch ging Benjamin nicht wieder weg. Er blieb bei den Kranken. Er war dankbar, dass Kate nicht fragte, wieso er plötzlich da war. Sie zeigte ihm, wie man die Tabletten dosieren musste, Salbe auftrug, das Wasser auffüllte und wer was bekam.
Benjamin meldete sich weder bei dem einen an noch bei dem anderen ab. Er fing einfach an, in der Turnhalle zu helfen, und als er erschöpft war, ließ er sich auf eine Sprungmatte in der Jungenumkleide fallen. Er trank einen Schluck Wasser, aber hungrig war er nicht. Er war gar nichts. Als er die Augen zumachte, hatte er das Gefühl, auf einem schwankenden Schiffsdeck zu liegen. Erst war es unangenehm, danach half es ihm zu schlafen.
Er hatte sich nicht aus Angst vor der Ansteckung von der Turnhalle ferngehalten – sie wussten sowieso nicht, wie die Krankheit sich ausbreitete –, sondern weil er schon im Vorfeld zu oft an seinen Vater denken musste. An seine Mutter. Emilie. Jetzt stellte sich heraus, dass die Kranken seine Gedanken beschäftigt hielten.
Wenn sie eine Pause brauchte, setzte Kate sich aufs Schuldach. Benjamin fing an, ihr Gesellschaft zu leisten. Kate hatte alle Ringe aus ihrem Gesicht entfernt.
»Es ist unglaublich, wie man mit manchen Dingen weiterlebt«, sagte sie. »Auch mit den großen, die das Leben von Grund auf verändern.«
Benjamin wusste nicht, was er sagen sollte.
Kate fuhr fort:
»Jetzt genügt es mir, auf einem Dach zu sitzen und auf ein leeres Feld zu starren. Dass auch so etwas Freiheit sein kann. Und das, obwohl ich früher am liebsten die Schule angezündet hätte und in die Welt gezogen wäre …«
»Wohin wärst du gerne gegangen?«
Kate sah Benjamin an, als wäre sein Gesicht eine Landkarte, die sie studierte.
»Daran kann ich mich nicht mehr erinnern«, sagte sie. »Oder vielleicht kann ich es doch, aber das sind alles nur noch Worte ohne Bedeutung. Reisen besteht zur Hälfte daraus, sich die Orte vorzustellen. Inzwischen kann ich mir gar nichts mehr vorstellen.«
»Elias hat recht, oder?«, fragte Benjamin. »Was ist das? Was macht es möglich, dass wir andere vergessen können?«
»Die Sonne.«