Ein paar Tage später treffen wir zum ersten Mal auf einen anderen Schwarm.
Was Zufall ist – und auch wieder nicht.
Es beginnt damit, dass einer der Kundschafter, die immer, ehe wir unser Lager aufschlagen, die Umgebung erkunden, mit der Neuigkeit zurückkommt, in der Nähe halte sich ein anderer Schwarm auf.
Das löst allgemeine Aufregung aus. Alle Kundschafter schwimmen noch einmal los. Alle Hände sind in Bewegung, mehr Gebärden, als ich lesen kann.
Dann kehren die Kundschafter zurück, in Begleitung eines fremden Submarines, dem Kundschafter des anderen Schwarms. Er heiße Schräge-Augen, erklärt er – ein treffender Name –, und sein Schwarm sei der von Steifes-Knie. Nach einigem Hin und Her, wessen Lagerplatz sich für ein Treffen der Schwärme besser eigne, entscheidet Weißes-Auge, dass wir es sein werden, die sich zu den anderen begeben.
Also sammeln wir all unsere Habseligkeiten wieder ein und machen uns auf den Weg, den Kundschaftern hinterher. Es ist ziemlich weit. Ich wundere mich, dass sich die beiden Schwärme nicht einfach verpasst haben.
Die Kundschafter können die Zeichen lesen, meint Lacht-immer nur, als ich sie danach frage.
Der andere Schwarm ist ungefähr so groß wie der unsere, aber ihr Lagerplatz ist schöner und bietet mehr Platz. Sie sind auf dem Rückweg nach Norden und kennen deswegen die Gegend schon, in die wir erst kommen werden. Die Kundschafter setzen sich daher sofort zusammen, zeichnen grobe Landkarten in den sandigen Boden und tauschen ihre Erfahrungen aus.
Ich halte mich an Lacht-immers Seite, während wir uns unter die anderen mischen. Man bietet uns zu essen an, auch wir öffnen unsere Vorratsnetze und im Handumdrehen ist ein großes Futtern im Gang. Ich habe das Gefühl, die anderen kennen sich alle schon, aber dann sagt mir Lacht-immer, dass sich die beiden Schwärme tatsächlich zum ersten Mal treffen.
Natürlich bleibt es nicht aus, dass jemand erzählt, ich sei die prophezeite Mittlerin, und sofort stehe ich dort, wo ich mich am unwohlsten fühle, nämlich im Mittelpunkt des Interesses.
Ich habe von dieser Prophezeiung nie zuvor gehört, erkläre ich all den Augen, die auf mich gerichtet sind. Meine Mutter war ein Luftmensch, mein Vater ein Wassermensch – das ist alles, was ich weiß. Aber die Gelegenheit ist günstig, also füge ich hinzu: Mein Vater heißt übrigens Geht-hinauf. Kennt ihn zufällig jemand von euch?
Allgemeines Grübeln und Kopfschütteln. Nun ja, einen Versuch war es wert.
Das Interesse an mir ebbt bald wieder ab und die Erzählungen wenden sich neuen Themen zu. Der andere Schwarm ist den Schleppnetzen einer Fischfangflotte begegnet, was offenbar ziemlich gefährlich ist, weil diese Netze so unerhört groß sind. Fast der gesamte Schwarm hat sich darin verfangen, gerade in dem Moment, als die Schiffe begannen, die Netze einzuholen. Die Leute rechtzeitig aus dem Netz freizuschneiden, muss eine Angelegenheit gewesen sein, bei der es um Sekunden ging.
Man ist sich einig, dass es ein weiser Ratschlag der Großen Eltern war, den Luftmenschen aus dem Weg zu gehen. Was mag in Köpfen von Menschen vorgehen, die derart gemeine Maschinen bauen? Niemand versteht das.
Ich ziehe meinen Kopf ein und hoffe, dass keinem einfällt, dass ich ja zur Hälfte so ein Luftmensch bin.
Eine Mittlerin, ich? Lachhaft. Nichts liegt mir ferner, als in so einer Situation die Erklärerin zu spielen.
Nach und nach zerfällt die große Runde in viele kleine, die sich über alles Mögliche unterhalten. Es ist lustig, wie wenig sich die Submarines in ihrem Verhalten von den Menschen an Land unterscheiden: Die Männer erzählen einander von Heldentaten, die sie angeblich vollbracht haben. Junge Mädchen tauschen Glasperlen oder Schmuckbänder. Mütter reden über ihre Kinder und die Kinder wiederum spielen einfach miteinander.
Nur ich finde niemanden, mit dem ich reden könnte, und fühle mich mal wieder genau so, wie ich mich schon mein Leben lang gefühlt habe: überflüssig.
Ich verfolge, wie Taucht-tief mit einer Jägerin des anderen Schwarms darüber diskutiert, wie man einen Knochenspeer am besten scharf hält. Ich sehe zu, wie Flinker-Flechter ein paar Leuten seine Methode erklärt, stabilere Bänder herzustellen.
Und immer wieder muss ich zu Strich-am-Bauch hinübersehen, die mit einem Mann des anderen Stammes etwas abseits sitzt. Ziemlich dicht hocken sie beisammen, reden mit ganz kleinen, leisen Gesten, die man aus der Ferne nicht lesen kann, und ihre Köpfe sind einander so nah, dass sich ihre Haare ineinander verfangen.
Küssen sich die beiden etwa? Man sieht es nicht genau. Es geht mich ja eigentlich auch nichts an. Trotzdem muss ich immer wieder hinüberschauen.
Lacht-immer erwischt mich dabei und gibt mir einen fröhlichen Rippenstoß. Guck nicht so, meint sie. Such dir lieber selber einen Mann!
Ich winke ab, verbiete mir, weiter in die bewusste Richtung zu schauen, obwohl es gerade so ausgesehen hat, als beschäftige sich der Mann mit Strich-am-Bauchs Brüsten, und ich zu gerne gewusst hätte, ob ich das richtig gesehen habe.
Der einzige Mann, den ich im Moment suche, ist mein Vater, erkläre ich Lacht-immer.
Sie amüsiert sich. Eindeutig. Das eine schließt das andere doch nicht aus!, meint sie und deutet dann verstohlen auf einen breitschultrigen Mann mit wallenden hellen Haaren, der mich fatal an Jon Brenshaw erinnert. Der zum Beispiel. Der schaut ständig zu dir her, hast du das nicht bemerkt?
Nein, das habe ich nicht bemerkt. Ich hatte in meinem bisherigen Leben keinerlei Anlass zu lernen, wie man so etwas bemerkt.
Wenn er Interesse hätte, gebe ich verstohlen zurück, würde er nicht nur schauen.
Lacht-immer zuckt mit den Schultern. Männer sind schüchtern, meint sie und fügt hinzu: Taucht-tief zum Beispiel. Der ist in dich verliebt, seit du gekommen bist, aber er traut sich nicht mal, mit dir zu reden. Ein Mann, der tiefer tauchen kann als alle anderen, der mit Haien kämpft und mit Giftquallen, stell dir vor!
Ich merke, wie ich in mich zusammensinke. Offenbar weiß jeder Bescheid – jeder außer mir!
Kurz darauf kommt Strich-am-Bauch auf uns zu, winkt, bis sie Lacht-immers Aufmerksamkeit hat, und bittet dann: Passt du auf die Kinder auf? Singt-schön und ich gehen mal eine Weile.
Lacht-immer nickt wohlwollend. Viel Spaß.
Strich-am-Bauch grinst breit, wendet elegant und schießt mit einem kraftvollen Schwimmzug zurück zu ihrem Verehrer. Gleich darauf sind die beiden verschwunden.
Ich erwische mich dabei, wie ich ewig lange auf den Felsblock starre, hinter dem sie außer Sicht gekommen sind. Was machen die jetzt?
Lacht-immer kugelt sich beinahe angesichts meiner Begriffsstutzigkeit. Na, rate mal, meint sie und macht prustende Geräusche dazu.
Mit anderen Worten, die beiden schwimmen nicht einfach nur spazieren.
Ich glaube, ich werde rot. Ein Glück, dass Rot die Farbe ist, die man unter Wasser am schlechtesten sieht.
Es vergeht mindestens eine Stunde, ehe die beiden zurückkommen. Eine Stunde, in der mich keiner der Männer, die sich angeblich für mich interessieren, auch nur mit einer einzigen Gebärde anspricht. Beide, insbesondere Strich-am-Bauch, wirken etwas derangiert, aber geradezu unverschämt glücklich. Sie halten Händchen, rudern nur mit den Füßen und tragen ein fast schon debiles Grinsen zur Schau, während sie auf Weißes-Auge und Steifes-Knie zupaddeln, die beiden Ältesten, die nebeneinander auf einem Stein sitzen.
Das habe ich befürchtet, meint Lacht-immer mit kleinen Gesten, die nur für mich bestimmt sind.
Was?, frage ich, die ich mal wieder nichts kapiere.
Sie wird uns verlassen. Strich-am-Bauch. Sie wird mit dem anderen Schwarm weiterziehen. Lacht-immer streckt die Hand aus und zieht Brav-brav an sich, der so verdutzt ist, dass er sich erst nach ein paar Sekunden gegen die unerwartete Liebkosung wehrt. Ich werde sie vermissen.
Jetzt verstehe ich. Strich-am-Bauch und der Mann – Singtschön – haben so viel Gefallen aneinander gefunden, dass sie zusammenbleiben wollen. Und nun tragen sie diesen Wunsch den Ältesten vor, die darüber zu entscheiden haben, wer von den beiden zu welchem Schwarm wechseln soll.
Vielleicht kommt ja auch der Mann zu uns, gebe ich zu bedenken.
Lacht-immer schüttelt den Kopf. Wir haben zu viele Frauen, und die anderen zu wenig. Da gibt es nicht viel zu diskutieren.
Geht das denn so einfach? Zu einem anderen Schwarm wechseln?
Lacht-immer sieht mich an, wie sie mich immer ansieht, wenn ihr wieder einfällt, wer ich bin und woher ich komme. Das haben die Großen Eltern uns gelehrt, erklärt sie. Es ist nicht gut, immer nur bei demselben Schwarm zu bleiben. Man muss tauschen und die Liebe ist der beste Anlass dafür.
Ich nicke. Das macht Sinn. Es ist bestimmt eine Regel, um Inzucht zu vermeiden. Im Biologieunterricht haben wir eine Prüfung über dieses Thema geschrieben, vor zwei Jahren oder so. Nur logisch, dass Professor Yeong-mo Kim seinen Geschöpfen ein solches Gebot mit auf den Weg gegeben hat.
Lacht-immer behält recht: Kurz darauf verkündet Weißes-Auge, dass Strich-am-Bauch und ihre Kinder Brav-brav und Großer-Mann zum Schwarm von Steifes-Knie wechseln werden.
Großes Drama. Die Kinder heulen, als Weißes-Auge sie segnet und sie begreifen, was das heißt. Auch Strich-am-Bauch empfängt den Segen, dann macht sie die Runde und verabschiedet sich halb weinend, halb lachend von allen. Man umarmt sie, wünscht ihr Glück, umarmt sie noch einmal, tauscht Erinnerungen aus, weißt du noch, damals als …, umarmt sie ein drittes Mal und will sie nicht mehr loslassen.
Sogar zu mir kommt sie. Sie umarmt mich auch, und obwohl ich sonst nicht so der Typ für Umarmungen bin, fühlt es sich bei ihr gut an, so als würden wir uns schon ewig kennen. Wenn ich eine Schwester hätte, schießt es mir durch den Kopf, müsste es sich so anfühlen.
Alles Gute, meint sie, als wir einander wieder loslassen. Ich wünschte, wir hätten mehr miteinander geredet. Und ich hoffe, ich erfahre, wie deine Suche weitergeht. Sie sieht mich forschend an. Du bist die Mittlerin, ich weiß es. Glaub mir.
Ich glaube es nicht, aber dies ist nicht der Moment, darüber zu diskutieren. Außerdem ist mir selber zum Heulen zumute, also erwidere ich nur: Ich versuch es. Und dann ziehe ich sie noch einmal an mich, was ich nun wirklich gar nicht von mir kenne.
Die Verabschiederei geht ewig. Nachdem Strich-am-Bauch mit allen von uns durch ist, muss sie die Runde bei den Leuten vom anderen Schwarm machen, die sie auch umarmen, um sie willkommen zu heißen. Derweil macht Singt-schön die Runde bei uns. Er muss sich von allen einschärfen lassen, gut zu Stricham-Bauch und ihren Kindern zu sein. Vom einen oder anderen kriegt er auch einen finsteren Blick oder einen derben Fausthieb auf die Schulter dafür, dass er sie uns wegnimmt. Er trägt es mit Fassung, versichert immer wieder, es sei eben die große Liebe, da könne man nichts machen, und das sieht letztlich jeder auch ein.
Auch zu mir kommt er, um mir zu versichern, es sei ihm eine Ehre, die Mittlerin kennengelernt zu haben, die prophezeit worden ist. Dabei glaube ich eigentlich gar nicht an diese alten Prophezeiungen, gesteht er mit verlegenem Grinsen.
Ist in Ordnung, erwidere ich. Ich fände es großartig, wenn noch viel mehr Leute nicht daran glauben würden.
Es wird dunkel, und als sich die Aufregung allmählich wieder legt, wird die Sache angemessen gefeiert. Diesmal nicht mit einem Zusammen-zusammen, sondern mit einer Art Sängerwettstreit: Lange-Frau singt für uns, Singt-schön für die anderen. Und er beeindruckt mich wirklich. Vielleicht liegt es an der Liebe, auf jeden Fall entströmt seinem Körper eine derartige Fülle von Tönen, dass es kaum zu glauben ist. Sie wechseln sich immer ab, stacheln sich gegenseitig an und in manchen Augenblicken bin ich überzeugt, dass man die beiden im Umkreis von tausend Kilometern hören muss – und auf die Knie sinken vor Ergriffenheit.
Am nächsten Morgen wechselt noch ein etwas älterer Jäger vom anderen Schwarm zu uns. Er heißt Starker-Arm, ist deutlich älter als die meisten Submarines, die auf die Jagd gehen, und sieht tatsächlich enorm kräftig aus. Der Abschied, den die anderen ihm geben, fällt auffallend zurückhaltend aus, und als er zu uns kommt und uns der Reihe nach umarmt, wie es offenbar Brauch ist, fühlt sich das eher schräg an. Starker-Arm ist, so mein Eindruck, ein ziemlicher Muffelkopf.
Aber er kennt die Gegend, in die wir ziehen. Das finden die anderen alle gut.
Soll er halt muffeln, meint Lacht-immer mit überaus winzigen Bewegungen der Hände.
Dann heißt es endgültig Abschied nehmen. Jeder umarmt noch mal jeden, was bei so vielen Leuten ganz schön viele Umarmungen sind. Manche kriegen gar nicht genug, umarmen sich ein zweites und drittes Mal. Man wünscht einander günstige Strömungen, reiche Beute und sichere Schlafstätten, dann reißen wir uns los, und jeder Schwarm schwimmt in eine andere Richtung davon.
Doch während der andere Schwarm sich mühsam aus eigener Kraft nach Norden bewegt, tauchen wir wieder in den Strom, der uns in halsbrecherischem Tempo weiter gen Süden trägt.