3.


Konstanz

September 1212

Dort, wo sich die Fluten des Sees mit jenen des Flusses Rhein vermischen, erhebt sich die Stadt Konstanz.

Es war die erste große Stadt, die Friedrich jenseits der Alpen besuchte – und obwohl sie sich massig am Ufer erhob, beschirmt von ihrer Kathedrale, obschon sich ihre Türme trutzig in den Himmel reckten und sie von einer mächtigen, mit Türmen und Zinnen bewehrten Ringmauer umgeben war, nahm sie sich ganz anders aus als jene Städte, die Friedrich aus dem Süden kannte.

Dort wölbten sich kühne Kuppeln aus hellem Sandstein in einen samtblauen Himmel, spannten sich filigrane Bogen über lichtdurchfluteten Arkaden, auf denen sich Volk verschiedenster Herkunft und Farbe tummelte. Hier hingegen schien alles grau wie Stahl zu sein, schon der unwirtlichen Kälte wegen, die vom nahen Winter zu künden schien: die Häuser und Mauern, die Kleider der Menschen und selbst ihre Gesichter. Sogar das Licht, das vom regengrauen Himmel herab das Land beleuchtete, schien eine andere Farbe zu haben als im warmen Süden, nach dem Friedrich in diesem Moment eine unwiderstehliche Sehnsucht empfand. Und nicht zum ersten Mal, seit er seine Heimat verlassen hatte, fragte er sich, ob diese Entscheidung richtig gewesen war.

Was, so fragte er sich, frierend unter seinem vom Regen durchnässten Umhang, hatte ihn nur dazu bewogen, seine von der Sonne und den Musen geküsste Heimat zu verlassen und in dieses elende Land zu ziehen? So viel hatte er dabei aufs Spiel gesetzt, das er verlieren mochte, einschließlich seines noch jungen Lebens …

»Es heißt, dass es hier auch Schönheit gebe, junger Herr«, raunte Erzbischof Berard ihm zu, der neben ihm herritt und dabei seine Gedanken zu erraten schien.

»Wenn es so ist«, entgegnete Friedrich so leise, dass nur sein oberster Berater es hören konnte, »so wissen die Deutschen sie gut zu verbergen.«

Seinem Entschluss folgend, waren sie aufgebrochen, sobald sich das Unwetter gelegt hatte und sie nicht mehr fürchten mussten, auf dem Pferd vom Blitz erschlagen zu werden. Das Gras auf den Hügeln war noch nass und glänzte, und noch immer hingen grauschwere Wolken so tief am Himmel, als wollten sie alles unter sich erdrücken. Und in der Ferne donnerte noch immer das abgezogene Ungewitter, grollend wie eine beleidigte Gottheit.

Das Ziel des rund sechzig Reiter umfassenden Trosses, den Friedrich anführte, war das südliche Einfallstor der Stadt. Der Hauptzugang lag im Norden, jenseits der Brücke, die die Konstanzer über den Fluss geschlagen hatten, ein mächtiger Torturm, von dessen Zinnen aus die Wachen just in diesem Moment Ausschau nach Otto von Braunschweig und seinem herannahenden Heer hielten …

Friedrich konnte es gleichgültig sein, solange er nur vor seinem welfischen Konkurrenten innerhalb der schützenden Stadtmauern weilte. Doch die Voraussetzungen waren nicht gut.

Die Felder, die der südlichen Stadtmauer vorgelagert waren, lagen verlassen, ebenso wie die Hütten der Bauersleute. Weder Mensch noch Vieh waren zu sehen, alles schien sich hinter die Mauern geflüchtet zu haben, den Boten zum Trotz, die Friedrich vorausgeschickt hatte, um sein Kommen anzukündigen.

Oder vielleicht auch gerade deswegen …

»Das ist kein gutes Zeichen«, stellte Parceval Doria fest, der hinter Friedrich ritt. »Ein freudiger Empfang sieht wahrlich anders aus.«

»Freudig brauchen sie mich nicht zu empfangen, solange sie mich nur einlassen«, gab Friedrich über die Schulter zurück – auch wenn dies nicht mehr war als ein frommer Wunsch.

Das Südtor, genau wie jenes auf der nördlichen Seite in einen Turm eingelassen, war geschlossen. Die Zugbrücke über den Graben, der die Stadt zur Landseite hin sicherte, war so weit hochgezogen, dass sie unpassierbar war.

Was die Magistrate Friedrich damit sagen wollten, bedurfte weder einer Übersetzung noch einer näheren Erläuterung – und sie beließen es nicht bei dieser abweisenden Geste. Je näher der junge Staufer und die Seinen dem Mauerring kamen, desto deutlicher konnten sie die Gestalten erkennen, die sich auf den Wehrgängen drängten: Stadtwachen in ledernen Röcken und Hauben, mit Rossschindern bewaffnet – und vermutlich auch mit Armbrüsten, ihrer Ächtung zum Trotz.

»Fürwahr«, stieß Parceval hervor, »die Konstanzer haben wohl bereits entschieden, auf wessen Seite sie im Kampf um die Krone stehen – und es ist offensichtlich nicht die unsere.«

»Wir werden sehen«, sagte Friedrich nur.

Rund zweihundert Schritte vor dem Tor hob er die Hand und gebot dem Tross zu halten. Anselm von Justingen sowie Bischof Arnold und Abt Ulrich scherten aus dem Zug aus und schlossen zu ihm auf.

»Lasst mich zu ihnen sprechen, mein König«, bat Herr Anselm und lenkte sein Ross noch weiter nach vorn, wobei er weder Anstalten machte, sein Schwert zu ziehen noch den Schild zu heben. Die Kirchenherren Arnold und Ulrich blieben an seiner Seite und taten es ihm gleich. Nichts sollte ihnen von Seiten der Konstanzer als Geste der Aggression oder auch nur des Argwohns ausgelegt werden.

Auf der von Zinnen gekrönten Plattform des Torturmes regte sich nun etwas. Ein kräftiger Mann erschien, auf dessen Haupt eine haubenförmige Mitra ruhte. »Vor Euch steht Konrad aus Tegerfelden, Bischof von Konstanz, einer freien Stadt des Reiches. Wer seid Ihr, und was ist Euer Begehr?«

»Anselm, Herr von Justingen«, stellte der Ritter sich vor, »Ich entbiete Euch meinen Gruß, Exzellenz – und ich denke, Ihr wisst sehr gut, wer wir sind und was wir begehren, sonst würdet Ihr uns nicht hier und auf solche Weise erwarten. Vor Euren Toren steht Friedrich von Hohenstaufen, Sohn Kaiser Heinrichs, des sechsten seines Namens, und sein rechtmäßiger Erbe, König von Sizilien, von den Fürsten gewählt zum König der Deutschen und Römer und dazu bestimmt, der neue Kaiser zu werden.«

»Ich höre Eure Worte, Herr Anselm«, gab Bischof Konrad zurück, »doch haben wir schon einen Kaiser, wie Ihr fraglos wisst. Und wisset auch, dass er in diesem Moment von Norden mit einem mächtigen Heer heranzieht!«

»Dessen sind wir uns bewusst, Bruder in Christus«, ergriff nun der Abt von St. Gallen das Wort. »Darum sind wir hier und erbitten Zuflucht in deinen Mauern.«

»Bruder Ulrich«, rief der Bischof herab, der den Abt aufgrund der nachbarschaftlichen Nähe von Angesicht kannte, »es überrascht mich, Euch unter diesen Aufrührern zu sehen, einen rechtschaffenen Diener der Kirche!«

»Gerade weil ich ein rechtschaffener Diener der Kirche bin, stehe ich auf der Seite des jungen Herrn Friedrich«, entgegnete Ulrich mit der den Benediktinern eigenen Beharrlichkeit.

»Wie kann Verrat am Kaiser rechtschaffen sein?«

»Verrat wäre es, wenn Otto von den Welfen noch Kaiser wäre«, erklärte der Ordensmann bereitwillig, »doch der Heilige Vater hat ihn abberufen und mit der furchtbarsten Strafe belegt, die einen Christen ereilen kann!«

»Der Kaiser wurde mit dem Bann belegt?« Konrads Stimme war vom lauten Rufen bereits angegriffen, doch verriet sie ehrliche Überraschung. Ganz offenbar war die Kunde von der Exkommunikation und Absetzung des Kaisers noch nicht bis an die Ufer des Sees gedrungen. Und die Diener, die Otto vorausgeschickt hatte, um ihm das Lager zu bereiten, hatten es aus nachvollziehbaren Gründen wohl auch nicht erzählt …

»Das ändert alles, nicht wahr?«, fragte Ritter Anselm mit einer Spur von Genugtuung hinauf.

»Es könnte alles ändern«, räumte der Bischof ein. »Doch welchen Beweis bekomme ich für das, was ihr behauptet?«

»Den will ich Euch geben!«

Berard von Castacca ließ die Zügel schnalzen und trieb sein Pferd zu den anderen. »Berard, Erzbischof von Bari«, rief er zum Turm empor, sich des Lateinischen bedienend, mit dem Kirchenmänner aller Länder sich stets und überall zu verständigen vermögen. »Ich bürge mit meinem Amt und Namen für die Wahrheit dessen, was soeben gesagt wurde. Doch wenn Ihr noch eines weiteren Beweises bedürft, Bruder im Herrn, so will ich Wort für Wort vorlesen, wie Seine Heiligkeit selbst in dieser Angelegenheit befunden hat.«

Damit zog er eine Schriftrolle hervor, die er unter dem Umhang getragen hatte, um sie vor Nässe und Wind zu schützen, entrollte sie und trug dann mit lauter Stimme die Bannschrift vor, mit der Papst Innozenz den Ausschluss Ottos von Braunschweig aus der Gemeinschaft der Gläubigen begründet und seine Absetzung als Kaiser beschlossen hatte. Und obwohl es nicht so geschrieben stand, war doch jeder Tadel an Otto, jede Schmähung seiner herrschsüchtigen und auf die Mehrung der eigenen Macht bedachten Politik ein Lobpreis Friedrichs, der nach päpstlichem Willen der neue Kaiser des Reiches werden sollte.

Der Fall lag eindeutig, nach irdischem ebenso wie nach himmlischem Recht. Dass Bischof Konrad trotzdem nicht sofort den Befehl gab, die Tore zu öffnen, mochte weniger an verbliebenen Zweifeln liegen als an dem gewaltigen Heer, das sich von Norden der Stadt näherte.

Wer vermochte zu sagen, wie Otto reagieren würde, wenn Konstanz Friedrich in die Stadt einziehen ließ? Fraglos würde der Welfe zornig werden, und ob nun gebannt oder nicht, unter den Fürsten hatte sein Wort noch immer Gewicht. Was, wenn er die Stadt angreifen oder gar belagern ließ …?

Der Bischof zögerte abermals, und es verstrichen weitere wertvolle Augenblicke.

Zeit, die Friedrich und die Seinen nicht mehr hatten.

»Zusätzliche Eile ist geboten«, raunte Parceval Doria ihm über die Schulter zu. »Soeben sind Späher eingetroffen, die berichten, dass sich eine Gruppe von rund zweihundert Rittern von Ottos Hauptheer gelöst hat und auf dem Weg hierher ist, und wie es heißt, führt der Welfe selbst sie an. Wenn nicht bald etwas geschieht, mein Freund, so wird nichts mehr von uns übrig bleiben, das die Konstanzer noch in ihre Stadt einlassen könnten.«

Friedrich hörte die warnenden Worte. Und wie schon manches Mal in seinem jungen Leben – und wie es auch später noch oft der Fall sein sollte – tat er etwas, das er sich im Nachhinein selbst nicht recht erklären konnte. Vielleicht waren es seine mächtigen Vorväter, die ihn lenkten, vielleicht die Vorsehung oder der Allmächtige selbst, oder vielleicht folgte er auch nur seinem Bauch, der ihm sagte, dass er handeln musste, jene Instinkte, die in den Straßen Palermos geschult worden waren.

Jäh trieb er sein Pferd an und lenkte es noch vor Berard und seine anderen Berater, sodass er allein vor dem Graben und der halb eingeholten Zugbrücke stand, derart dicht vor den Mauern, dass jeder auch nur halbwegs gezielte Armbrustbolzen ihn tödlich getroffen aus dem Sattel hätte sinken lassen.

»Herr, was tut Ihr?«, ächzte Anselm entsetzt und wollte hinterher, um den jungen König mit dem Schild zu schirmen, doch Berard hielt ihn zurück, seinerseits einem Impuls folgend, der ebenso einem spontanen Gefühl wie einer himmlischen Eingebung entspringen mochte.

»Hochwürdiger Bischof und Bürger der Stadt Konstanz, hört mich an«, rief Friedrich in fließendem Latein, »vor Euch steht Friedrich Roger, König von Sizilien und gewählter König auch der deutschen Lande, zum Kaiser erwählt durch den Allmächtigen selbst und die deutschen Fürsten, mit dem Segen der heiligen Kirche! Ich weiß, dass ihr euch fürchtet, und ihr habt dafür mein Verständnis und mein Mitgefühl – doch lasst nicht zu, dass Angst Euch korrumpiert und Ihr Schuld auf Eure Seelen ladet, indem Ihr den unterstützt, von dessen Haupt aus eigener Verschuldung nicht nur alle Huld, sondern auch die Krone des Reiches genommen wurde! Öffnet das Tor und wandelt mit mir auf dem Pfad der Rechtmäßigkeit und der guten Ordnung!«, fügte er hinzu – und als wäre mit der Natur selbst eine Vereinbarung getroffen, riss in diesem Moment die graue Wolkendecke auf und ein Bündel gleißenden Sonnenlichts fiel herab, das das Umland in grauer Dunkelheit ließ, den jungen Staufer jedoch in ein helles, überirdisches Licht tauchte, so als wollte der Himmel selbst seine Worte bekräftigen.

Irgendwo auf den Wehrgängen begann jemand zu rufen, ein lautes »Fredericus vivat!«, und im Nu fielen weitere Wachen und Bürger der Stadt in den Ruf ein, sodass er innerhalb von Augenblicken zu einem Chor anschwoll. Und schließlich erhob sich auf der gesamten Südmauer ein lauter Jubel, der von Friedrichs eigenem Gefolge lautstark beantwortet wurde.

»Fredericus vivat«, scholl es allenthalben, »Fredericus vivat …!«

Nur noch einen Moment lang stand Bischof Konrad unbewegt auf seinem Turm. Dann wandte er sich zu den Seinen um und gab eine Reihe von Befehlen – und schon kurz darauf begann sich die Zugbrücke zu senken, und die Stadt öffnete ihre Tore.

Ein gewinnendes Lächeln huschte über Friedrichs wohlgeformte, von nassem rotem Haar umwehte Züge, als seine Begleiter zu ihm aufschlossen und sie gemeinsam die Brücke passierten. Die Hufe ihrer Rösser donnerten auf den Bohlen, Trommelschlägen gleich.

Nur wenig später ertönte Freudengeläut, das in der klaren, vom Gewitter gereinigten Luft nicht nur über der Stadt, sondern über dem ganzen Umland zu vernehmen war und noch weit auf den See hinausscholl.

An diesem Septembertag gewann mein Herr Friedrich ein ganzes Reich.

Wäre er nur wenig später vor den Toren von Konstanz eingetroffen, wären sie ihm verschlossen geblieben – so wie Otto von Braunschweig, der schließlich mit zweihundert Getreuen vor dem Südtor eintraf, jedoch vergeblich Einlass begehrte. Für ihn, den vom Papst Gebannten, wurde es nicht mehr geöffnet.

Es war der Anfang vom Ende seiner Herrschaft.