4.


Hochebene Murge, südlich von Andria

Oktober 1224

Friedrich hatte Sizilien den Rücken gekehrt.

Es war, als hätte die Insel, die er einst so geliebt hatte und die in vielfacher Hinsicht seine eigentliche Heimat war, durch den Tod seiner geliebten Konstanze ihre Unschuld verloren und wäre für ihn verdorben. An ihrer Stelle wurde nun Apulien zu des Kaisers neuer Heimat, und nicht nur, weil es frei war von belastenden Erinnerungen; von Städten wie Melfi oder Foggia aus, das er zu seinem Hauptsitz erkor, konnte er ungehindert in das nördliche Reich aufbrechen, ohne die Unwägbarkeiten einer Überfahrt. Zudem waren die ausgedehnten Wälder Apuliens voller Jagdwild und damit wie geschaffen für meines Herren liebsten Zeitvertreib, die Falkenjagd.

Manches Mal durfte ich ihn dabei begleiten, wenn auch nicht an diesem Herbsttag, der die Schönheit der apulischen Landschaft in den herrlichsten Farben pries: Feigen- und Mandelbäume zeigten sich in leuchtenden Tönen von Gelb bis Rötlich, Kiefern und Pinien wurden vom weicher werdenden Licht des Herbstes in sanftes Moosgrün getaucht. Wälder und Hügel erstreckten sich, so weit das Auge reichte, und über allem spannte sich ein azurblauer Himmel, dessen Anblick meinen Herrn mit einem Glücksgefühl erfüllte, wie er es schon sehr lange nicht mehr verspürt hatte.

»Fürwahr«, rief er aus, während er sein Pferd auf einem von der Sonne beschienenen Hügel zügelte, auf der Faust einen prächtigen Habicht aus der königlichen Falknerei, und den Blick über das weite Umland schweifen ließ, »der Allmächtige hat Apulien wohl nicht gekannt, sonst hätte er sein auserwähltes Volk hierhergeschickt.«

»Vorsicht«, ermahnte ihn sein alter Freund Parceval Doria, während er sein schnaubendes Tier an Friedrichs Seite lenkte. »Der Schritt von der Zufriedenheit zur Verblendung ist nur ein kleiner, wie dein Freund der Erzbischof wohl sagen würde.«

»Der gute Berard.« Friedrich lächelte. »Was würde ich nur ohne ihn tun? Doch was weiß ein alter Mann wie er schon von den Sehnsüchten, die mich erfüllen?«

Parceval sah ihn von der Seite an. Von allen, mit denen sich Friedrich zu jener Zeit umgab, gehörte der Freund aus Genua zu jenen, die ihn am längsten kannten, und keiner war ihm so vertraut und kannte ihn so gut wie er. Jene Tage, in denen sie damals gemeinsam ausgeharrt und nur mit Mühe den Nachstellungen des Feindes entkommen waren, hatten die beiden einander nahegebracht und eine tiefe Verbindung geschaffen. Wann immer es eine heikle Mission zu erfüllen gab – wie etwa die Entfernung des Piraten Alaman da Costa aus seinen Ämtern –, griff Friedrich gern auf seinen alten Freund zurück, und wie sein Namensvorbild aus der Sage lohnte Parceval es ihm mit unverbrüchlicher Treue.

Im Palast, wo die Wände oftmals Ohren hatten, konnten die beiden selten offen sprechen. Hier draußen im Wald hingegen gab es keine Höflinge, die sie belauschten, keine päpstlichen Spione, die alles Gesagte (und bisweilen sogar das Ungesagte) umgehend nach Rom berichteten.

Hier in der Natur sprach nicht der Kaiser zum Vasallen.

Sondern der Freund zum Freund …

»Sehnsüchte?«, fragte Parceval, die Brauen unter der Krempe des Jagdhutes hochgezogen. »Mit Verlaub, welche Sehnsüchte sollten dich noch plagen? Du hast alles erreicht, was du wolltest, die Kaiserkrone ruht auf deinem Haupt, und das Volk liebt dich. Deine Herrschaft über das Land festigt sich von Tag zu Tag, deine Justiziare sprechen in deinem Namen Recht, und du hast endlich Zeit, zur Beizjagd auszureiten. Und wann immer dich ein gewisses … Verlangen überkommt, können die schönsten Maiden des Reiches es kaum erwarten, sich dir hinzugeben.«

»So siehst du mich?« Friedrich warf dem Freund, wie er selbst waidgrün gekleidet, einen fragenden Blick zu.

»Mit Verlaub – wie könnte ich dich sonst sehen? Hast du nicht alles erreicht, was du wolltest?«

Friedrich lächelte dünn. Dann wandte er sich dem Habicht zu, der auf dem Handschuh an seinem Arm saß, und entfernte die lederne Haube vom Haupt des Tieres.

»Du willst wissen, wonach es mich verlangt?«, fragte er – und hob den Arm, um den Vogel aufsteigen zu lassen. Der Habicht spreizte die Flügel und sprang hoch in die Luft, und schon im nächsten Augenblick schoss er steil in die Höhe und in den blauen Himmel. »Danach verlangt es mich«, bekräftigte Friedrich, während er dem Vogel nachsah.

»Du willst fliegen?« Parceval zog die Stirn kraus.

»Ich will frei sein«, verbesserte der Kaiser kopfschüttelnd. »Wie herrlich muss das sein, unbehelligt und ohne Schranken in den Himmel aufzusteigen, wo es keine Grenzen gibt …«

»… und keine Höflinge und Berater«, fügte Parceval feixend hinzu. »Dennoch ist es letztlich nur eine Täuschung – am Ende muss der Vogel doch wieder auf den Arm seines Herrn zurückkehren, ob es ihm nun gefällt oder nicht.«

»Das ist wahr.« Friedrich nickte. Ihm war klar, dass sich der Freund nur einen Scherz erlaubt hatte, jedoch regte ihn der Vergleich zum Nachdenken an. »Der Vogel wähnt sich nur als Jäger – in Wahrheit ist es sein Herr, der mit ihm zur Jagd ausreitet und dem am Ende die Beute gehört. Aber ist es nicht stets so im Leben? Ist unser aller Freiheit nicht nur eine Illusion? Ein Bildnis, mit dem wir uns selbst betrügen?«

»Sag, geht es dir gut?« In Parceval Dorias Zügen zeigte sich ehrliche Besorgnis. »Und bist du dir sicher, dass wir noch von der Falknerei sprechen?«

Erneut rang sich Friedrich ein mageres Lächeln ab. »Du kennst mich zu lange und zu gut, mein Freund.«

»Was ist los?«, verlangte Parceval zu wissen und richtete sich im Sattel auf, sich für schlechte Neuigkeiten wappnend. »Du weißt, dass du dich mir anvertrauen kannst, was immer es auch …«

»Hast du es noch nicht gehört?«, fiel Friedrich ihm ins Wort. »Ich soll mich erneut vermählen.«

»Wer sagt das?«

»Sie alle sagen es.« Friedrich machte eine ebenso unwirsche wie unbestimmte Bewegung mit der freien Hand. »Meine Berater – die, deren Meinung ich schätze, ebenso wie jene, die dem Kronrat nur angehören, weil die Vernunft es gebietet.«

»Auch Berard?«, wollte Parceval wissen.

»Er vor allen anderen.« Friedrich nickte. »Und Bruder Hermann ebenso. Sie sagen, es sei nicht gut, wenn ein Herrscher ohne Weib wäre. Und obendrein ist der Deutschritter auf seiner Suche nach einer geeigneten Verbindung bereits fündig geworden, die Absprachen wurden längst getroffen.«

»Darüber solltest du froh sein«, meinte Parceval überzeugt, »denn der Erzbischof und Bruder Hermann meinen es gut mit dir.«

»Mit mir? Oder mit dem Reich?«

»Ist da ein Unterschied?«

Friedrich biss sich auf die Lippen. Derart nachdenklich, ja beinahe zaudernd hatte Parceval Doria den Freund noch nicht erlebt, der Anblick bestürzte ihn.

»Ich will nicht, mein guter Parceval. Will nicht erneut ein Weib ehelichen, das ich weder kenne noch begehre.«

»Wenn ich mich recht entsinne, hast du auch deine erste Gemahlin weder gekannt noch begehrt – und sie dennoch lieben gelernt.«

»So sehr, dass es mir das Herz aus der Brust gerissen hat, als sie starb«, bestätigte Friedrich nickend. »Noch einmal könnte ich es nicht ertragen.«

»So heirate sie, aber liebe sie nicht«, schlug Doria achselzuckend vor. »Ist das nicht stets die Art, wie derlei Ehen geschlossen werden? Und ist es nicht ganz ähnlich wie in der Falknerei?«

»Erkläre das«, verlangte Friedrich, den der Vergleich zwar nicht überzeugte, jedoch amüsierte.

»Nun, auch in der Falknerei geht es darum, Vertrauen zu gewinnen«, erklärte Parceval bereitwillig, »in diesem Fall das des Vogels, und ihn glauben zu machen, dass er noch immer frei sei und für sich selbst jage – doch in Wahrheit steht er längst in deinen Diensten. Der Herr bekommt die Beute, der Falke im Gegenzug Schutz und Futter. Es ist eine Verbindung zu beiderseitigem Nutzen.«

»Das … ist wahr«, kam Friedrich nicht umhin zuzugeben.

»Und falls sie dir ganz und gar nicht gefällt, kannst du ihr anstelle einer Krone ja eine lederne Haube über den Kopf ziehen«, schlug der Freund vorlaut vor.

»Parceval Doria«, setzte Friedrich an, um ihn abermals zu tadeln, »du bist und bleibst ein …«

In diesem Moment erklang der Ruf des Habichts, der Beute geschlagen hatte.

»Das kam von dort drüben«, entschied Parceval, drehte sein Pferd herum und trieb es den Hügel hinab. Friedrich setzte ihm nach, und hintereinander jagten sie durch das sich herbstlich verfärbende Grün, bis sie den nahen Waldrand erreichten. Eine sanft ansteigende Wiese erstreckte sich dort, an deren Fuß der Habicht flatterte, während er mit beiden Klauen etwas am Boden festhielt, das von graubrauner Farbe war und lange Ohren hatte.

»Fürwahr«, rief Parceval Doria erfreut, wobei er aus dem Sattel sprang und seinen Dolch zückte, »das sieht mir ganz nach Hasenbraten aus!«

Auch Friedrich stieg aus dem Sattel, und gemeinsam näherten sie sich dem Habicht, der nicht die Eleganz eines Gerfalken haben mochte, jedoch ein wackerer und zuverlässiger Jäger war. Mit einem Stück rohen Fleisches, das er aus seinem Gürtelbeutel holte, lockte Friedrich den Vogel zurück auf seinen Arm, sodass sich Parceval der Beute annehmen konnte. Als er sich wieder aufrichtete, entdeckte Friedrich jedoch etwas, das er zuvor noch nicht bemerkt hatte.

Vor ihnen erhob sich ein langgestreckter Hügel.

Wie ein schlafender Lindwurm lag er da, sich mächtig aus dem Dickicht des Waldes erhebend. Hier und dort brach der sanfte Abhang in schroffem Karstgestein ab, auf dem Rücken erhob sich, den Zacken eines Drachen gleich, die Ruine eines alten Wachturmes, der noch von den Byzantinern stammen mochte.

Friedrich vermochte selbst nicht zu sagen, wieso, aber der Ort faszinierte ihn. Den Habicht auf dem Arm, konnte er nicht anders, als den Hügel hinaufzusteigen, so, als würde er von etwas unwiderstehlich angelockt.

»Friedrich?«, rief Parceval ihm verblüfft hinterher. »Wo willst du hin?«

Doch der Kaiser antwortete nicht. Sein Ziel war die Hügelkuppe, auf der sich die Ruine erhob. Er konnte sich nicht erinnern, sie schon einmal zuvor gesehen oder je davon gehört zu haben, aber er fühlte sich unwiderstehlich davon angezogen. Es war ein sagenhafter Ort wie aus alten Liedern, Friedrich blieb erst stehen, als er den Hügelgrat erklommen hatte.

Staunend sah er sich um und genoss den weiten Ausblick, der sich ihm bot, über die Hügel im Süden und die Wälder im Norden, und fern im Osten, im Dunst nur zu erahnen, das tiefblaue Meer.

»Dieser Ort ist einzigartig«, eröffnete Friedrich seinem Freund Parceval. »So, als ob der Geist einer großen Vergangenheit hier noch lebendig wäre.«

»Wenn du es sagst«, stieß Parceval Doria hervor, der mit heiserem Keuchen ebenfalls oben anlangte, an einem Strick den erlegten Hasen über der Schulter.

»Eines Tages werde ich hier eine Burg errichten«, erklärte Friedrich feierlich, wobei er den Blick weiter in die Ferne schweifen ließ. Seine Trübsal war verschwunden, der Zauber des Ortes hatte sie verjagt. Ohnehin neigte mein Herr nicht zur Melancholie; im Gegenteil verfügte er über die seltene Gabe, nach der Art des Epikur den Augenblick zu leben und ihn mit vollen Sinnen zu genießen, eine Eigenschaft, die ihm noch manchen Vorwurf eintragen sollte. In diesem Moment jedoch erfüllte sie ihn mit einer Ahnung reinen Glücks.

»Eine Burg?« Doria deutete auf die Ruine. »Du willst das alte Ding da wieder aufbauen?«

»Nein, mein Freund.« Friedrich schüttelte den Kopf, während er an dem verfallenen Gemäuer emporsah, den Blick dabei jedoch in die Ferne gerichtet, so, als nehme er etwas ganz anderes an dieser Stelle wahr. »Ich will eine neue Burg errichten, eine Festung, die ihresgleichen sucht. Schon seit geraumer Zeit trage ich eine Idee in meinem Kopf herum, die …«

»Eine Idee für eine Burg? Wirst du jetzt auch noch Baumeister? Willst du das nicht doch lieber Meister Bartholomeo überlassen?«

»Etwas ganz Besonderes soll sie sein«, fuhr Friedrich fort, den Einwurf überhörend, »von einer Vollkommenheit, die Geschichte und Geometrie im Gleichgewicht vereint, ein Bollwerk meiner Macht und Herrschaft.«

»Klingt vielversprechend«, gab Parceval feixend zu, »im Augenblick allerdings scheint mir die Zubereitung eines Hasenbratens die verlockendere Vorstellung zu sein.«

»Mein Freund, du wirst es sehen«, sagte Friedrich. Nur mit Mühe riss er sich vom Anblick des Bauwerks los, den seine Vorstellungskraft in die milde Herbstluft gezeichnet hatte. »Ich werde diese Burg errichten, einer steinernen Krone gleich wird sie über mein Apulien wachen.«

»Ich bezweifle es nicht«, gab Parceval Doria unumwunden zu. »Würde mir ein anderer so etwas erzählen, würde ich wohl darüber lachen. Aber dich, mein Kaiser und König, hat der Allmächtige mit den vielfältigsten Gaben bedacht, sodass ich keinen Augenblick zweifle, dass sich auch ein Baumeister in dir verbirgt. Selbst das Unmögliche, mein Freund, scheint dir noch mühelos zu gelingen.«

Und Parceval sollte recht behalten.

Denn zwar sollten sechzehn Sommer ins Land gehen, bis Friedrich auf seinen alten Plan zurückkam, doch schließlich beauftragte er den Justiziar Richard von Montefuscolo, nach seinen Plänen eine Burg zu errichten, die er nach der unweit entfernten, der Gottesmutter gewidmeten Kirche castrum Sancta Maria de monte nannte und die Symbol und Abbild seiner Herrschaft werden sollte.

Formvollendet und unvergänglich.

Eine Krone aus Stein.