Sie hieß Victoria, die Siegreiche.
Und auch wenn ihr Name dies nahelegte, war sie keine Frau, sondern eine Stadt, ein Bollwerk, das Kaiser Friedrich vor den Mauern von Parma hatte errichten lassen.
Noch im Sommer des Vorjahres war Friedrich nach Parma gezogen, an der Spitze eines gewaltigen Heeres, dem sich vor Cremona auch noch das seines Sohnes König Enzio angeschlossen hatte. Schnell hatte sich jedoch gezeigt, dass auch dies vereinte Heer bei aller Größe nicht ausreichen würde, um die stark befestigten Mauern der Stadt zu erstürmen und die Verräter aus ihren Schlupfwinkeln zu treiben.
Also tat mein Herr, was jeder Heerführer an seiner Stelle getan hätte: Er ließ die Zufahrtswege nach Parma besetzen und umgab die Stadt mit einem Belagerungsring, wissend, dass er sich damit auf ein Wagnis mit unabsehbarem Ausgang einließ.
Schon eine Burg zu belagern war ein Unterfangen, das große Anstrengung und Disziplin erforderte und zudem einen langen Atem. All dies stand meinem Herrn zu jener Zeit nicht zur Verfügung – und dabei war Parma keine bloße Zitadelle, sondern eine große und stark befestigte Stadt.
Dennoch begann Friedrich wie immer mit großem Eifer, was er sich vorgenommen hatte.
Das Lager, das für eine lange Belagerung gerüstet sein sollte, ließ er mit Mauern aus Holz umgeben und mit Gräben für die Versorgung mit Wasser versehen; und als es Winter wurde und noch längst kein Ende der Belagerung absehbar war, befahl er, die Zelte des Lagers durch hölzerne Baracken zu ersetzen.
Auf diese Weise entstand eine ganze Stadt aus Palisaden, Zelten, Mauern und Buden, mit einem hölzernen Palast als Zentrum. Dieser diente dem Kaiser und seinen engsten Vertrauten als Bleibe, beherbergte jedoch auch einen Teil der Hofkanzlei, damit Friedrich trotz der Belagerung Parmas seinen Regierungsgeschäften nachgehen konnte.
Das Südreich hatte er in der Obhut Petrus de Vineas zurückgelassen, der Norden hingegen bedurfte seiner beständigen Aufmerksamkeit. Zwar war Gegenkönig Heinrich Raspe schon bald nach seiner widerrechtlichen Wahl einer Verwundung erlegen, die er bei einem Scharmützel mit kaisertreuen Rittern davongetragen hatte, doch die Lombarden gaben auch weiterhin keine Ruhe, und die päpstlichen Agitatoren wiegelten nach wie vor den Adel gegen den Kaiser auf. Innerhalb weniger Monate war Friedrich vom Jäger zum Gejagten geworden und konnte nur noch auf die Schritte seiner Gegner reagieren – daran, selbst das Heft des Handelns zu ergreifen und gegen Lyon zu marschieren, war längst nicht mehr zu denken.
Entsprechend setzte der Kaiser alles daran, in der Lagerstadt vor den Toren Parmas seine Herrschaft in aller Pracht zu entfalten – so hatte er neben seinem Hofstaat, der kaiserlichen Münzpräge und einem Teil der wertvollen Bibliothek sogar seinen Elefanten und weitere exotische Tiere dabei. Neben dem hölzernen Palast erhob sich eine eigens errichtete Kirche mit einem Marktplatz davor, und die Straßen, die durch die Gassen der Baracken dorthin führten, wurden von Läden gesäumt, in denen Waren des täglichen Bedarfs feilgeboten wurden. Auch Küchen gab es, Bäckereien sowie eine Schmiede, sodass man mit Fug und Recht von einer Stadt sprechen konnte – und von Siegesgewissheit getragen, hatte Friedrich ihr den Namen Victoria gegeben: War Parma erst unterworfen und dem Erdboden gleichgemacht, sollte Victoria an seine Stelle treten, als des Kaisers eigene Stadt und als Symbol dafür, dass seine Macht letztlich über alle Widersacher triumphierte. Er hatte eigens seine Sterndeuter befragt, hatte sich von ihnen den günstigsten Termin für die Gründung einer neuen Stadt voraussagen lassen …
Am Ende war alles eitel.
Als die Sonne am Morgen des 18. Februar über der Lagerstadt heraufzog, ahnte noch niemand, am wenigsten der Kaiser selbst, wie bitter dieser Tag enden sollte.
Der Winter war hart gewesen. In Parma war ob der kaiserlichen Blockade eine Hungersnot ausgebrochen, die dergestalt wütete, dass man des Nachts das Wehklagen der Bürger hören konnte und am Tag die Totenglocken kaum einmal verstummten. In Victoria gab es derlei Mangel nicht, doch kroch die Kälte in die Buden und Baracken und setzte den Kaiserlichen ebenfalls zu, sodass sie auf einen raschen Anbruch des Frühjahrs hofften – und an jenem 18. Februar schien sich diese Hoffnung zu erfüllen.
»Was für ein wunderbarer Tag, Vater«, sagte der junge Manfred mit Blick auf den strahlend blauen Himmel, der sich über dem Lager wölbte und erstmals seit Wochen die wärmenden Strahlen der Sonne durchließ. »Wollen wir nicht zusammen ausreiten und den Falken ein wenig Freiheit gönnen?«
»Das ist eine gute Idee«, pflichtete Parceval Doria bei. »Viel zu lang hast du hier in deinem Palast aus Holz gesessen und über düsteren Gedanken gebrütet – hör auf den Jungen und gönne dir etwas Freude!«
Der Kaiser wiegte nachdenklich das einst so rote und nun ergraute Haupt. Es stimmte, er hatte lange keine Zerstreuung mehr gehabt, und schon der Gedanke, zusammen mit Manfred hinauszureiten und in den Niederungen des Flusses Taro die Falken aufsteigen zu lassen, erfüllte sein Herz mit Freude. Schließlich liebte Manfred die Beizjagd ebenso wie er selbst – eine Prachtausgabe des Buches, das sie gemeinsam darüber verfasst hatten, lagerte in der kaiserlichen Bibliothek von Victoria.
Doch durfte der Herrscher dem Drängen seines Sohnes nachgeben? Sich, wenn auch nur für wenige Stunden, von seinen Pflichten abwenden und dem Müßiggang hingeben, wo doch allerorten Aufstand herrschte, den es zu bekämpfen galt, und wo überall Verräter lauern mochten?
»Geh nur«, ermunterte ihn der gute Parceval. »Es verspricht ein ruhiger Tag zu werden. Die Sonne lacht am Himmel, und die Parmeser werden auch heute damit beschäftigt sein, ihre Toten zu begraben. Hier verpasst du nichts, mein Freund – doch dort draußen entgeht dir womöglich reiche Beute!«
Diesem Argument konnte sich mein Herr nicht entziehen, und da auch der junge Manfred weiter auf ihn eindrang, gab er schließlich nach. In aller Eile wurde die Jagd vorbereitet, und schon wenig später verließen der Kaiser und sein Sohn in Begleitung einiger Leibwachen sowie eines kaiserlichen Falkners die Lagerstadt, um im nahen Sumpfland ihre Vögel zur Jagd aufsteigen zu lassen.
Auf dem Rücken seines schneeweißen Pferdes, den Falken auf der Hand und in Gesellschaft seines Sohnes fand Friedrich zum ersten Mal nach langer Zeit wieder ein wenig innere Ruhe. Der Papst, der ihn vernichten wollte, der unselige Krieg, selbst das nahe Parma schienen in diesem Augenblick weit entfernt zu sein und nicht von Bedeutung. Nur das Hier und Jetzt zählte: die Sonne, die warm vom Himmel schien und diesen Tag zum ersten des neuen Frühjahrs machte; die herrlichen Vögel, die sich aufgeregt flatternd emporschwangen, um nachher wieder bereitwillig und treu zurückzukehren; und das vertrauliche Gespräch mit Manfred.
»Darf ich dich etwas fragen, Vater«, erkundigte sich der Junge, im sechzehnten Jahr seines Lebens stehend, aber noch längst nicht von der Reife, die Friedrich in jenem Alter besessen hatte. Etwas Kindliches wohnte noch immer sowohl seinem Körper als auch seiner Seele inne, seine zarten, ebenmäßigen Züge waren durch und durch die seiner schönen Mutter. Vielleicht war dies der Grund, warum Friedrich zu ihm eine Nähe verspürte, die er bei seinen anderen Söhnen stets entbehrt hatte.
»Natürlich.« Sie waren abgestiegen und hatten ihre Pferde an einen schmalen Bachlauf geführt, um sie saufen zu lassen. »Was willst du von mir wissen, Sohn?«
»Es geht um Parceval«, rückte Manfred heraus. »Er hat einmal gesagt, dass die Beizjagd für dich mehr ist als nur Jagd oder Zerstreuung, dass du den Falkner mit dem Herrscher vergleichst.«
Friedrich musste lächeln, das erste wirkliche Lächeln seit langer Zeit. »Mein Freund Doria redet viel. Besonders dann, wenn er Wein getrunken hat.«
»Aber es ist wahr, oder?«
»Nun, es ist augenfällig, dass zwischen Falkner und Herrscher gewisse Ähnlichkeiten bestehen – auch ein Falkner sorgt schließlich für sein Tier, so, wie es ein guter Herrscher für seine Untertanen tun sollte.«
»Aber wenn sich seine Untertanen gegen ihn erheben, was dann?«, fragte Manfred und zeigte damit, dass er in Wahrheit nicht über die Beizjagd sprechen wollte, sondern über andere Dinge, die ihn ungleich mehr belasteten …
»Es ist schändlich, dass dich solche Gedanken plagen, dass du dich überhaupt mit ihnen befassen musst«, erwiderte sein Vater deshalb bitter, »denn so sollte es nicht sein. Es sind wahrlich dunkle Zeiten, wenn die Ordnung, die der Allmächtige selbst geschaffen hat, von seinen Dienern auf Erden eingerissen wird.«
Ein Schwarm Krähen zog in diesem Augenblick unter lautem Geschrei am Himmel vorbei. Der Kaiser nahm seinem Jagdfalken die Haube ab und ließ ihn aufsteigen. Mit majestätischem Flügelschlag stieg der Falke auf und fuhr mitten hinein in den Schwarm der schwarzen Vögel.
»Manchmal«, sagte Friedrich dazu, »wünschte ich mir, wie dieser Falke zu sein, frei von den Fesseln, die mich auf Erden halten.«
»Vielleicht«, meinte Manfred nachdenklich, »sollte der ideale Herrscher weniger ein Falkner sein als ein Falke.«
»Damit magst du recht haben, Sohn«, stimmte der Kaiser zu und lachte, sanft und wohlwollend.
Gemeinsam setzten sie die Jagd fort und verbrachten zusammen einen glücklichen Tag – bis um die zehnte Stunde die Tiere seltsam unruhig wurden. Die Pferde schnaubten und schlugen mit den Hufen, Krähen zogen in Schwärmen gen Westen, und die Falken schlugen auf den Handschuhen unruhig mit den Flügeln. Weder der Schutz der ledernen Hauben noch die Erfahrung des Falkners vermochte sie zu beruhigen.
Da war in der Luft plötzlich ein bitterer Geruch wahrzunehmen, und ein ferner Laut erklang, hell und metallisch …
»Imperadur?«, fragte Omar ibn Rashad, der Hauptmann der Leibwache.
»Ich höre es«, versicherte Friedrich.
»Das sind die Glocken von Victoria!«, entfuhr es Manfred. »Etwas muss dort geschehen sein!«