Stille kehrte ein, nachdem Professor Burger zu Ende übersetzt hatte … den letzten Absatz des letzten Pergaments.
Es war spät geworden.
Im Zelt des Wissenschaftlers saßen sie einander gegenüber, der Professor aus Berlin und der einstige Student aus Braunschweig, den der Irrsinn der Zeit in eine Uniform gesteckt und zum Soldaten gemacht hatte. Die Hitze des Tages war einer angenehmen Kühle gewichen, von draußen war das Zirpen der Grillen zu hören. Im Schein der Laterne, in dem er gelesen hatte und der unstete Schatten auf die schrägen Zeltwände warf, rollte Josef Burger das Manuskript wieder zusammen.
»Doria ist es also nicht gewesen, der den Text verfasst hat«, sagte Oberleutnant Hoffmann in die Stille, »denn offenbar starb er noch vor dem Kaiser … aber wer war es dann? Sein Freund der Erzbischof womöglich?«
Burger lächelte – nicht über die Aufmerksamkeit, mit der der Offizier den Bericht offenbar verfolgt hatte, sondern über dessen detektivischen, ein wenig kindlich wirkenden Eifer. »Auch das nicht«, widersprach er dennoch. »Nach allem, was wir gelesen haben – nach all den Einsichten, die uns der Text über Kaiser Friedrich gewährt hat, über die Dinge, die in seinem Kopf und in seinem Herzen vorgingen – bin ich geneigt anzunehmen, dass niemand anderer als der Herrscher selbst es gewesen ist, der uns diesen Bericht hinterlassen hat.«
»Er selbst? Aber …«
»Der Tod des Kaisers ist nicht darin enthalten«, gab Burger zu bedenken. »Friedrich könnte diese letzten Zeilen also noch von seinem Totenbett aus einem Schreiber diktiert haben, vielleicht auch einem seiner Söhne. Dafür würde auch sprechen, dass der Text gegen Ende ins Präsens wechselt, so, als handelte es sich um eine Beschreibung unmittelbarer Ereignisse, deren Ausgang noch ungewiss ist … während über den Tod des Kaisers nicht mehr berichtet wird.«
Hoffmann nickte und sah zu Boden. »Ist … Friedrich an jenem 13. Dezember gestorben?«, wollte er wissen, augenscheinlich betroffen, obwohl all diese Dinge längst geschehen waren, vor rund 700 Jahren …
»In der Tat.« Burger nickte. »Der kaisertreuen Überlieferung nach erteilte Erzbischof Berard ihm noch die Sterbesakramente, ehe er friedlich entschlief. Päpstliche Quellen hingegen berichten, der Kaiser hätte ein elendes, schmerzvolles Ende gefunden, das Ende eines Ketzers nämlich.«
»Und danach? Was ist dann passiert?«
»Trauer und Bestürzung auf Seiten der Kaiserlichen waren groß. Man trug den Leichnam des Kaisers in einem prächtigen Zug durch Apulien und brachte ihn schließlich nach Palermo, wo er feierlich beigesetzt wurde – im Dom, wo auch schon seine Eltern sowie seine erste Gemahlin Konstanze lagen. Doch viele Menschen wollten nicht wahrhaben, dass der Kaiser tatsächlich tot sein sollte – noch Jahre nach Friedrichs Tod tauchten immer wieder Männer auf, die behaupteten, der totgeglaubte Kaiser zu sein. Kein anderer Herrscher des Mittelalters erlebte derart viele Wiedergeburten.«
»Und die Söhne?«
»Versuchten nach Kräften, das Testament ihres Vaters zu vollstrecken, aber ihnen war kein Glück beschieden. Papst Innozenz starb zwar nur vier Jahre später, doch seine Nachfolger setzten seinen Vernichtungskampf gegen die Staufer fort. Friedrichs Sohn Enzio, den die Bologneser gefangen hatten, sah die Freiheit niemals wieder. Der junge Heinrich Carl Otto starb im Alter von nur fünfzehn Jahren, möglicherweise durch Mord. König Konrad wurde von der Malaria ereilt, während er versuchte, das Südreich seines Vaters gegen päpstliche Truppen zu verteidigen. Am längsten hielt sich Manfred, der über Sizilien herrschte, ehe er 1266 in der Schlacht von Benevent den Tod fand. Somit blieb nur noch Konrads Sohn Konradin, der es seinem Großvater gleichtun und im Alter von nur sechzehn Jahren die Herrschaft an sich bringen und den Ruhm der Staufer wiederherstellen wollte. Wie Manfred wurde auch er von Karl von Anjou vernichtend geschlagen und gefangen genommen – und schließlich auf dem Marktplatz von Neapel öffentlich hingerichtet. Mit ihm endete die staufische Linie.«
»Ich verstehe«, sagte Hoffmann leise und beinahe enttäuscht. »Also ist Friedrich am Ende gescheitert.«
»In vielerlei Hinsicht ja«, stimmte Professor Burger zu, »doch an diesem Ort hier scheint sein Geist fortzubestehen – oder zumindest das, was er hinterlassen wollte.«
Der Archäologe wandte sich um und blickte zum Beistelltisch, der die Seite des Zeltes einnahm und auf dem sowohl die acht Lederköcher als auch die jeweils mit ihnen gefundenen Gegenstände ausgebreitet waren.
»Das erste Fundament: puritas, die Reinheit der Jugend«, führte Burger aus, »mit dem Dolch, den Amir ibn Esat ihm einst schenkte. Das zweite Fundament: traditio, das Fortwirken des staufischen Erbes mit dem königlichen Siegelring als Symbol. Das dritte Fundament: auctoritas, das Kaisertum und seine Geltung betreffend … ich nehme an, dass dies einst Reitsporen gewesen sind, womöglich sogar jene, mit denen der Kaiser den armen Muhammed ibn Abbad traktierte – sie sollen wohl die Größe seines Reiches symbolisieren. Das vierte Fundament: constitutio, Friedrichs Bekenntnis zum geschriebenen Gesetz, mit einem Federkiel als greifbares Symbol. Weiter das fünfte Fundament, religio, Friedrichs Glauben und Gottesfurcht betreffend, die manch harter Probe ausgesetzt waren – beigelegt war ein lateinisches Kreuz mit Tatzen, das Symbol des Deutschritterordens. Außerdem der Schädel eines Menschen, der das sechste Fundament von Friedrichs Herrschaft repräsentiert: veritas, seine immerwährende Suche nach Wahrheit und wissenschaftlicher Erkenntnis. Das siebte Fundament: gens, die Familie oder Sippe, repräsentiert durch einen Schild, an dem der Zahn der Zeit genagt, dessen Wappen aber vermutlich einst den staufischen Löwen zeigte; und endlich malleus, der Hammer, von dem nur noch der von Rost zerfressene Kopf übrig ist, als Symbol für Friedrichs zuletzt so verzweifelten Kampf gegen das Papsttum und seine Verbündeten.«
Nachdenklich ließ der Professor seinen Blick über die ausgebreiteten Gegenstände schweifen und nickte dann. »Acht Symbole, acht Berichte, acht Fundamente«, fasste er zusammen. »Im letzten Kapitel seines Berichts hat Friedrich – wenn er selbst denn der Verfasser gewesen ist – es gesagt: Es ging ihm darum, etwas Bleibendes zu schaffen, der Nachwelt etwas zu hinterlassen, das fortbesteht – aus diesem Grund ließ er Castel del Monte errichten, als ein Denkmal seiner Herrschaft.«
»Also haben wir das Rätsel dieser Burg gelöst?«, fragte Hoffmann, einmal mehr mit den leuchtenden Augen eines Schuljungen.
»Diese Möglichkeit besteht.«
»Aber … das ist eine wissenschaftliche Sensation, oder nicht?«
»Das ist wahr«, gab Burger zu. »Dennoch bin ich mir nicht sicher, ob wir darüber berichten sollten.«
»Soll das ein Scherz sein?« Der Offizier schüttelte unwillig den Kopf. »Einen Orden wird man uns dafür verleihen!«
»Glauben Sie?« Burger schürzte die Lippen. »Dann sollten Sie vielleicht noch einmal über den Grund nachdenken, aus dem der Reichsmarschall diese Expedition durchführen ließ.«
»Um die Ursprünge des vielleicht größten deutschen Herrschers zu ergründen, der je gelebt hat!«, entgegnete Hoffmann wie aus der Pistole geschossen.
Burger nickte nur. »Ein Herrscher, der in seinem ganzen Leben nur ein paar Jahre in Deutschland verbracht hat«, gab er zu bedenken. »Der dem König der Franzosen in herzlicher Freundschaft zugetan war, der seinen Thron gar dem französischen Mut bei Bovines verdankte. Der die Juden unter seinen Schutz gestellt hat und sich auf sarazenische Leibwachen verließ. Der mit arabischen Gelehrten und Huren verkehrte und den Muselmanen erlaubt hat, auf seinem Boden ihre Minarette zu errichten. Der verbotenen Künsten und Wissenschaften frönte, der lieber Verhandlungen als Krieg führte und seine Siege lieber mit dem Wort als mit dem Schwert errang … offen gestanden bezweifle ich, dass sich ein solcher Kaiser zum deutschen Helden eignet.« Der Professor schnitt eine Grimasse. »Nicht einmal Goebbels könnte auf der Grundlage all dessen den Führer als das nächste Staunen der Welt verkaufen.«
»Was fällt Ihnen ein?« Hoffmanns Augen verengten sich. »Es steht Ihnen nicht zu, die Arbeit des Ministers für Reichspropaganda …«
In diesem Moment wurde die Plane des Zelteingangs beiseitegeschlagen. Einer von Hoffmanns Leuten erschien, wie er selbst in einer khakifarbenen Uniform und mit hochrotem Gesicht. »Herr Oberleutnant …«
»Ja doch, was ist?« Herrisch drehte sich Hoffmann zu seinem Untergebenen um.
Der Soldat stammelte, hatte Mühe, die passenden Worte zu finden. »Die … die Meldung kam gerade durch, Herr Oberleutnant! Es ist passiert …«
»Was, Müller? Was ist passiert?«
»Die Engländer … sie sind in Tarent gelandet!«
»In Tarent?« Hoffmann sprang auf. Dass er mit dem Kopf gegen die Laterne stieß, die von der Zeltdecke hing, bemerkte er nicht einmal. »Das ist nur hundertfünfzig Kilometer von hier …«
Damit war er auch schon hinaus.
Josef Burger seufzte tief, ob aus Furcht oder Erleichterung, wusste er selbst nicht zu sagen.
Langsam erhob er sich und trat ebenfalls hinaus vor das Zelt, das unterhalb der Burgmauer stand, auf der Kuppe des Hügels. Im weiter unten gelegenen Lager der Wehrmacht war hektische Betriebsamkeit ausgebrochen. Hoffmann brüllte heisere Befehle, während die Mannschaften in wilder Panik umherrannten und alles rasch zusammenpackten.
Es hatte begonnen.
Der Anfang vom Ende …
Mit trotziger Ruhe ließ Burger seinen Blick über die umliegenden Hügel schweifen. Unendlich weit schienen sie sich im blauen Mondlicht zu erstrecken. Die Vorstellung, dass es derselbe Mond war, der auch schon auf das Südreich Friedrichs herabgeleuchtet hatte, war befremdlich in diesem Augenblick – und doch war es dasselbe Land, waren es dieselben Hügel, dieselbe Burg, über die der Staufer Fredericus Secundus einst geboten hatte.
Doch so eigenartig der Gedanke war, hatte er auch etwas Tröstendes, schließlich war auch dieser Tage ein Reich dabei zu enden, das Geschrei von Hoffmann und seinen Männern nur ein erster Vorgeschmack auf das Chaos, das folgen würde. Aus den tausend angekündigten Jahren, die jenes »Dritte Reich« hatte währen sollen, würde nichts werden, in Blut und Elend würde Deutschlands Größenwahn untergehen – doch so wie es ein Vorher gegeben hatte, würde es auch ein Nachher geben.
Der Archäologe sah es mit Gleichmut.
Josef Burger mit Grauen.
Wann wohl, so fragte er sich, würde der Mensch damit aufhören, Erze aus dem Boden zu graben und daraus Waffen zu schmieden? Reiche zu erobern, die doch wieder vergingen? Ströme von Blut zu vergießen, um Macht zu behaupten, die so flüchtig und vergänglich war wie die menschliche Natur selbst?
»Wann, Falke?«, murmelte Burger leise und von einer Wehmut überkommen, die so groß und überwältigend war, dass sie sieben Jahrhunderte alt zu sein schien. »Wann wohl, Falke? Ich bitte dich, sag es mir …«
E N D E