Es war dunkel geworden. Kant hatte Phil und Feli mit freudigem Bellen begrüßt: Er hatte sie nun wohl als Hausgenossen akzeptiert. Phil junior hatte ihm sein Hundefutter gegeben und durfte mit ihm die Abendrunde machen.
Phil senior saß in einem Sessel und hörte Musik. Neben sich hatte er ein Glas Rotwein stehen. Er liebte Klaviermusik! Musik konnte die Seele heil machen. Wieso war das so? War es das Erlebnis von Harmonie? Musik war nicht einfach nur Geräusch. Sie war durch und durch geistig. Jemand hatte sie komponiert, der die Instrumente und ihre Möglichkeiten kennen musste, um sich dafür Musik auszudenken. Auch im Lesen von Noten und ihrer Umsetzung, in der Beherrschung von Instrumenten lag so viel Mühe und künstlerische Kraft.
Dass jemand sozusagen aus dem Nichts etwas Schönes, etwas Neues und Einzigartiges erschaffen konnte, das beeindruckte den großen Phil. Musik erfasst den ganzen Menschen, dachte er. Verstand und Gefühl kamen zusammen.
Dass eine bestimmte Folge von Tönen einen so mit Freude erfüllen konnte! Und gleichzeitig konnte man die Struktur erfassen, die der Komponist im Sinn gehabt hatte, die Art, wie er ein Thema aufbaut und wieder aufnimmt oder es immer neu abwandelt, aber stets so, dass man es noch wiedererkennt. Musik war durch und durch Kultur, und er konnte sie genießen und war gleichzeitig konzentriert und entspannt dabei. Verstand und Gefühl kamen zusammen!
In seiner eigenen Kultur, der des Denkens, war das leider nicht mehr der Fall.
Wie war es dahin gekommen? Warum durfte sich ein vernünftiger Mensch nicht von seinen Gefühlen für andere Menschen leiten lassen? Der Philosoph Kant hatte Menschen, die sich Gefühlen und Neigungen nicht verschlossen, kritisiert. Die waren für ihn etwas Niederes, weil er sie auch bei Tieren beobachtet hatte. Der moralisch gute Mensch musste deshalb seiner Vorstellung nach mit der Vernunft seine Gefühle und Neigungen kontrollieren und notfalls auch unterdrücken. Hier Gefühl und da Verstand. Ein tiefer Graben war dazwischen. Entweder war man vernünftig oder man war emotional. Verstand durfte nichts mit Gefühlen zu tun haben, sonst war er minderwertig.
Deshalb lag dem großen Phil besonders an Schopenhauer. Der war zwar zeit seines Lebens sehr pessimistisch gewesen, aber er hatte ein Gegenkonzept entwickelt.
›Meine Damen und Herren!‹, formulierte er in Gedanken, denn er sollte demnächst über diesen Philosophen sprechen. ›Der Begriff der Vernunft hat sich über die Jahrhunderte hinweg entwickelt und hat nicht immer das bedeutet, was wir heute darunter verstehen. Bei den Griechen hieß ›logos‹ auch noch so viel wie Wort, Rede, Sprache, Gedanke, Sinn und Weltgesetz, denn es ging um das, was unsere Welt durchdringt und zusammenhält. Doch im Verlauf der Geschichte des Denkens hat sich diese Vorstellung immer weiter verengt. Die Vorstellung einer rein logischen Vernunft hat zu einer Abwertung des Emotionalen, also von Gefühlen und Neigungen, geführt. Wenn wir heute davon sprechen, dass etwas vernünftig ist, geht es uns oft nur noch um eine Art technisches Zweckdenken, das heißt, dass Vernunft und Verstand oft nur noch als Mittel gesehen werden, um vorgegebene Zwecke zu erreichen. Zum Beispiel wirtschaftliche oder technische Zwecke.‹ Und ein Dialog war dann wertvoll, wenn in ihm logisch und zweckdienlich argumentiert wurde. Man konnte sich so in seinen denkerischen Elfenbeinturm zurückziehen und so tun, als gebe es einen wichtigen Teil des Lebens gar nicht.
›Deshalb, meine Damen und Herren, halte ich Arthur Schopenhauer für bedeutsam.
Ihm war es nämlich wichtig, dass hinter jedem Denken ein Wille, ein Interesse steht. Der Mensch ist eine Einheit, keine Zweiheit!‹
Die Trennung von Verstand und Gefühl war zwar analytisch interessant, aber sie hatte nichts mit dem Leben zu tun. Sie hatte zu grauenhafter Kälte geführt. Die schlimmsten Dinge hatte man tun können, weil sie zweckrational geboten schienen und man jegliches Gefühl ausblenden konnte!
Phil hatte das Regime der Nationalsozialisten in Deutschland nicht mehr bewusst erlebt. Bei Kriegsende war er zehn Jahre alt gewesen. Er hatte nur schlimme Erinnerungen an heulende Sirenen, an Bombennächte, brennende Häuser und an Hunger und Kälte.
Die ganze Kultur des Denkens hatte den Krieg nicht verhindert, das war die Katastrophe! Und Folter und Völkermord gingen in der Welt immer noch munter weiter. Schopenhauer hatte eine andere Moral gefordert als Kant. Keine vernünftigen Prinzipien, die für alle bindend waren und wie Gesetze befolgt werden sollten, sondern Einfühlung und Mitleid sollten die Menschen zu ihren Handlungen bewegen.
Der große Phil blickte auf das Buch, das vor ihm aufgeschlagen lag:
›Wenn nun aber meine Handlung ganz und gar des andern wegen geschehen soll, so muss sein Wohl und Weh unmittelbar mein Motiv sein ... Dies aber setzt voraus, dass ich bei seinem Weh als solchem geradezu mitleide, sein Weh fühle wie sonst nur meines und deshalb sein Wohl unmittelbar will wie sonst nur meines. Dies erfordert aber, dass ich auf irgendeine Weise mit ihm identifiziert sei ... Der hier analysierte Vorgang aber ist kein erträumter oder aus der Luft gegriffener, sondern ein ganz wirklicher, ja keineswegs seltener: Es ist das alltägliche Phänomen des Mitleids, d. h. der ganz unmittelbaren, von allen anderweitigen Rücksichten unabhängigen Teilnahme zunächst am Leiden eines anderen ...‹
Nur wenn man sich in andere Menschen hineinversetzte und ihre Gefühle wie die eigenen empfand, konnte man moralisch handeln. Das war für Schopenhauer nichtegoistisches Handeln. Es war nicht auf eigene Zwecke gerichtet, sondern hatte den anderen Menschen im Blick.
Wäre die Geschichte wohl anders verlaufen, wenn man weniger an Gesetze und Pflichten, sondern mehr an wirkliche, leidende Menschen gedacht hätte? Wenn man mit ihnen gefühlt hätte? Wenn man Gefühle nicht als minderwertig abqualifiziert hätte?
Aber Nietzsche hatte die Oberhand behalten: Unempfindlich gegen das eigene und anderes Leid musste man hart an sich arbeiten, um ›am Menschen wie an einem Kunstwerk zu gestalten‹. Nur so konnte nämlich Nietzsches Übermensch geboren werden. Und diese Vorstellung vom Übermenschen hatte leider einen verhängnisvollen Einfluss auf die deutsche Geschichte gehabt.
Immerhin musste man Kant zugutehalten, dass er nicht nur Selberdenken gefordert hatte, sondern auch, dass man sich ›jederzeit in einen jeden anderen hineindenken‹ müsse. Das war ungeheuerlich, wenn man das ernst nahm! Nicht nur in den Nachbarn oder die beste Freundin oder den eigenen Sohn, und nicht nur, wenn einem gerade danach war oder wenn es einem leichtfiel. Nein: jederzeit und in einen jeden anderen! Auch damit wäre schon viel gewonnen, dachte der große Phil.
Und trotzdem war es noch zu wenig. Man musste sich nicht nur hineindenken, sondern auch hineinfühlen. Und das war vielleicht für Männer besonders schwer zu akzeptieren, denn eine weitere verhängnisvolle Begriffstrennung hatte das Denken als männlich und das Fühlen als weiblich festgemacht. Als ob nicht auch Frauen denken und Männer fühlen könnten! Und in der Philosophie, die immer noch stark von Männern beherrscht wurde, galt nach wie vor das Thema Gefühl als eher unwichtig.
Hatte das mit dem großen Einfluss Kants zu tun? Ob Kant wohl jemals glücklich gewesen war?
Diese dumme Angst, unmännlich zu sein! So musste man vielleicht auf Philosophinnen warten, die sich trauten, das Thema zu bearbeiten. Oder taten sie es nicht, weil sie Angst hatten, dann nicht mehr als »richtige« Philosophinnen ernst genommen zu werden? Wie stark lassen wir uns doch von der öffentlichen Meinung beherrschen, dachte er.
Schopenhauer hatte den Mut gehabt, auf die Bedeutung des Fühlens hinzuweisen.
Emotionale Bildung, dachte der große Phil. Bei allen Verdiensten der Aufklärung – schließlich war kritisches Denken nach wie vor unerlässlich – war es doch langsam Zeit für eine Kultur der Gefühle, die die Kultur des Denkens ergänzen musste.
Und das hieß nicht einfach Gefühlsduselei oder Gefühlschaos.
Bei einer Kultur der Gefühle ging es um durchgeistigtes Fühlen, und das hatte Struktur. Schließlich war beim Innewerden von Gefühlen, egal ob bei sich oder anderen, immer auch Erkennen beiteiligt. Scham, Reue, Begeisterung, Liebe, Güte, Zorn, Kummer, immer musste man sie als diese speziellen Gefühle kennen und erkennen und musste auch wissen, welche Anlässe diese Gefühle auslösen konnten. Erst dann konnte man eigene Gefühle und die anderer Menschen als solche, in ihrer besonderen Eigenart, wahrnehmen und verstehen. Und da man das eigene Erleben als Vergleichsmöglichkeit hatte, wurde einem bewusst, dass man sich selbst im anderen wiederfand, wenn man sich in ihn hineindachte und -fühlte.
Schließlich konnte man den Kummer des anderen nur erfassen, wenn man selber Kummer kannte, und Freude nur mitempfinden, weil sie einem selbst nicht unbekannt war. Man wusste, wie das war, und man konnte es mitfühlen! Die Einheit von Verstand und Gefühl! Im asiatischen Raum war die Trennung nicht so scharf, dort gab es zum Beispiel eine Kultur der Meditation. Und im Buddhismus gab es das Prinzip des unbedingten Wohlwollens gegenüber jedermann. Und die Verpflichtung zur Dankbarkeit. Wieso hatte sich das europäische Denken so anders als das asiatische entwickelt, fragte sich Phil und überließ sich wieder der Musik.
Eine Bildung der Gefühle! Konnte das Harmonieerlebnis von Musik zu einer solchen Kultivierung beitragen? Es gab Versuche mit sozial schwierigen Kindern, die angeleitet wurden, gruppenweise zu musizieren. So lernten sie, aufeinander zu hören und miteinander zu spielen, und konnten stolz auf das Ergebnis ihrer Bemühungen sein. Wie viele Kinder hungerten nach Zuwendung und Anerkennung! Und wenn sie die nicht bekamen, wurden sie aggressiv oder taten«cool«, obwohl es ihnen an Geborgenheit fehlte.
Phil hatte zwar immer nur mit älteren Schülern zu tun gehabt, aber auch dort hatte er bemerkt, dass viele Eltern zu wenig Zeit für ihre Kinder hatten.
Wer hörte ihnen schon intensiv zu! Es gab nur noch wenige Kinder, die durch eine einfühlsame Begleitung im Elternhaus ein gesundes Ichbewusstsein entwickelten und gleichzeitig – vielleicht auch gerade deshalb – offen für die Probleme anderer sein konnten. Er konnte – wie seine Kollegen – diese Kinder in der Schule sofort benennen. Und sie waren bei Weitem die Ausnahme. Auch die weltweit ansteigende Bereitschaft zur Gewalt hing damit zusammen, dachte er. Und die vielen kaputten Ehen. Und es gab immer mehr verhaltensauffällige Schüler pro Schulklasse.
Die technisierte Gesellschaft brachte immer mehr Zwänge mit sich, und eben auch Zeitzwänge, die zu Lasten der Kinder gingen. Die Kinder kamen zu kurz! Sie wurden mit völlig idiotischen Kindersendungen und Werbespots überschüttet, aber ihre wirklichen Bedürfnisse interessierten keinen. Und dann mussten sie sich unter allen Umständen, egal ob positiv oder negativ, die Aufmerksamkeit holen, die ihnen nicht zuteilgeworden war. Wer sich von anderen verstanden fühlte, hatte das nicht nötig. Eine Kultur der Gefühle! Wie blind manche Eltern doch waren. Sie glaubten, ihren Kindern alles zu bieten, wenn sie sie mit teurem Spielzeug und Mode und Animation überschütteten.
Dabei waren das doch nur aufgenötigte Bedürfnisse. Werbung und Konsumindustrie ließen die Eltern glauben, dass sie nur das Beste für ihre Kinder taten. Doch dabei verloren Eltern und Kinder zunehmend das Gefühl für ihre eigenen, wirklichen Bedürfnisse und wurden sich immer fremder. Das war erschreckend. Wie konnte es sein, dass viele Eltern keine Ahnung von den wirklichen Bedürfnissen ihrer Kinder hatten? Und sich auch gar nicht dafür interessierten? Und viele Kinder sich auch nicht die Mühe machten, ihre Eltern zu verstehen? Und schlimmer: auch gar kein Gefühl für das entwickelten, was ihnen wirklich guttat? Und woher sollten sie es auch lernen, wenn sie es nicht am eigenen Leib erlebten, wie es ist, wenn sich jemand verständnisvoll einfühlt? Hier war wirklich ein Stück Menschlichkeit bedroht. Er musste unbedingt noch mehr bei Schopenhauer lesen.