Philofabeln – so haben sie die Kinder in meinen Kinderphilosophiekursen genannt – sind Nachdenkgeschichten.
Ich hatte für meine eigenen Kinder und die Kinder in meinen Philosophiekursen Geschichten geschrieben, denn die Materialien und Veröffentlichungen der klassischen didaktischen Literatur zu diesem Thema waren mir entweder zu einseitig rationalistisch oder zu belehrend, weswegen ich – z. B. in meinen Klett-Büchern – ein Philosophieren mit Bildern und Geschichten entwickelt habe, das auch Spaß machen sollte. Philofabeln – die Kinder wollten immer mehr davon – sind offene Geschichten ohne die berühmte »Moral von der Geschicht«, in der man abschließend und ein für alle Mal erfährt, wie und was man zu denken hat. Sie können daher als Denkanregung dienen, obwohl sie natürlich auch einfach als kuriose Geschichten gelesen werden können. Doch das wie immer sehr menschliche Verhalten der Fabeltiere kann auch dazu einladen, sich in die unterschiedlichen Lebenswelten dieser Geschichten hineinzudenken und sie in ihrer Gleichnishaftigkeit zu deuten.
Als ich mit meinen Innsbrucker Studenten einige dieser Fabeln didaktisch bearbeitet habe, erfuhr ich, dass sie auch für Erwachsene noch interessant sind. Schließlich kam ich zu der Überzeugung, dass ich sie in eine Rahmengeschichte einbetten sollte, die auch für ältere Leser noch anregend ist, einen möglichen Umgang mit diesen Fabeln verdeutlicht und meine eigenen philosophischen Positionen durchscheinen lässt. Außerdem wollte ich zeigen, dass Philosophie bis in den Lebensalltag hinein relevant ist und nicht elitär bleiben muss. Sie führt unsere Fragen zu vorläufigen Antworten, um uns dann mit neuen Fragen zu beschäftigen, durch die wir auch uns selbst immer besser kennenlernen. Die großen Fragen der Philosophie betreffen uns ganz existenziell, und doch ist es oft schwer, einen Zugang zu ihr zu finden. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Kinder und Jugendliche gern etwas selbst entdecken und dafür Raum und Gelegenheit brauchen. Werden Kinder oft einfach von rein intellektueller Neugier getrieben, so fragen Jugendliche häufig aus einem lebhaften Interesse nach Ichwerdung heraus. Für den Schweizer Entwicklungspsychologen Jean Piaget ist die Jugend gar das metaphysische Zeitalter par excellence. Jugendliche lösen sich von den Eltern und fragen – wie auch schon Kinder – nach dem Warum und Wozu des Selbstverständlichen und gewohnten Üblichen, um für sich eigene Wege zu finden. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man ihr Denken für gewöhnlich unterschätzt. Viele von ihnen können außerordentlich reife moralische Urteile fällen und sie auch begründen; sie wachsen an dem, was man ihnen zutraut. Und die intellektuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen lässt sich auf viele Weisen fördern. Eine der besten ist meiner Meinung nach ein Philosophieren, das Kindern und Jugendlichen eigenes Denken abverlangt und sie auf den Weg zu sich selbst führt.
Und ein solches Denken kann man schon mit Kindern beginnen, wenn man ihr bildhaftes Vorstellungsvermögen und ihre Fantasie anregt.
Für den englischen Philosophen John Locke ist das originelle und unverbrauchte Fragen der Kinder ein Anlass, dass sogar Erwachsene lernen können, die Dinge neu und anders zu sehen. Er schrieb schon 1692: »Die natürlichen, aller Schulweisheit fremden Einfälle wissbegieriger Kinder bringen oft Dinge aufs Tapet, die einem erwachsenen Mann zu denken geben. Und meines Erachtens ist oftmals mehr von den unerwarteten Fragen eines Kindes zu lernen als von den Unterhaltungen der Männer, die sich in ausgetretenen Geleisen bewegen, gemäß den Begriffen, die sie anderen entlehnt haben, und den Vorurteilen, die ihre Erziehung ihnen beigebracht hat.« Es geht also um ein gemeinsames Nachdenken mit Kindern und Jugendlichen, in dem diese sich ernst genommen fühlen und das auch für Erwachsene noch eine Bereicherung sein kann. Noch einmal John Locke: »Ich zweifle nicht daran, dass ein Hauptgrund, warum viele Kinder sich albernen Spielen ganz hingeben und all ihre Zeit ohne Nutzen für ihren Geist vertrödeln, darin liegt, dass sie die Erfahrung machten, dass ihr Wissensdrang gehemmt und ihre Fragen nicht beachtet wurden. Hätte man sie aber mit mehr Güte und Rücksichtnahme behandelt und ihre Fragen, wie es sich gehört, zu ihrer Befriedigung beantwortet, so hätte es ihnen ohne Zweifel mehr Vergnügen bereitet, zu lernen und ihre Kenntnisse zu verbessern ...« In der Tat darf man Kindern und Jugendlichen den Weg zu solchen Themen nicht versperren, indem man ihr Denken unterschätzt. Es ist meine Erfahrung beim Philosophieren mit Jugendlichen und hochbegabten Kindern, aber auch mit Kindern aus verschiedenen Kulturkreisen, dass solches auch auf sehr vergnügliche Weise und trotzdem ernsthaft geschehen kann. Philosophie ist dann kein System von erbaulichen Lebensweisheiten und erhabenen Gedanken, sondern kann aus eigener Denktätigkeit heraus problem- und handlungsorientiert erlebt werden, ohne dass damit Belehrung verknüpft sein muss.
Zwar hat Jean-Jacques Rousseau 1762 in seinem »Émile« Lockes Position, die er gründlich missversteht, kritisiert. Vernunft kann für ihn immer erst am Ende einer Entwicklung stehen, und auf dem Weg dahin brauchen Kinder klare Anweisungen: »Den Kindern mit Vernunftgründen kommen zu wollen, war Lockes Hauptmaxime, und heute ist sie große Mode. Indessen scheint mir ihr Erfolg nicht recht geeignet, ihr Vertrauen zu schenken. Ich für meine Person kenne nichts Dümmeres als diese Kinder, denen man so viel vorräsoniert hat ... Spricht man ... schon in ihrem zartesten Alter mit ihnen in einer Sprache, die sie nicht verstehen, gewöhnt man sie daran, sich mit Worten abzufinden, alles zu bemäkeln, was man ihnen sagt, sich für ebenso weise zu halten wie ihre Lehrer und streitsüchtig und trotzig zu werden ...«
Natürlich muss man eine altersangemessene Sprache finden und der jeweiligen kognitiven und psychischen Entwicklung einfühlsam Rechnung tragen, doch es geht eben gar nicht darum, Kindern – und Jugendlichen – etwas »vorzuräsonieren«. Hingegen geht es sehr wohl darum, sie auf den Weg des Denkens zu bringen und im gut sokratischen Sinn dabei Hilfestellung zu leisten. Wenn wir dabei durchaus nicht immer diejenigen sind, die auf alles eine Antwort haben müssen, kann ein partnerschaftliches gemeinsames Nachdenken sie herausfordern und einen neuen Kommunikationsstil prägen. Die Antworten der großen Philosophen können dabei, ganz wie Kant es sich vorgestellt hat, nur als Beispiel für mögliche Antworten und als weitere Anregung des eigenen Denkens genommen werden. Wenn wir über die großen Fragen – über die Generationen hinweg – miteinander im Gespräch bleiben, ergibt sich zudem die Chance einer besseren Einfühlung in das Denken des jeweils anderen. Es ist meine Überzeugung, dass sich durch mehrperspektivisches Denken neue Welten erschließen lassen, dass man selbstkritischer wird, den Dingen gerechter werden kann und in der Lage ist, besser zu verstehen und Vorurteile abzubauen, was nicht zuletzt in Zeiten der Globalisierung auch Aufgabe jeder interkulturellen Hermeneutik sein muss. Die Hinführung zu einem solchen Denken ist aber schon für Kinder und Jugendliche möglich. Sie kann auch auf unterhaltsame Art geschehen, und deshalb habe ich dieses Buch geschrieben.
Ich habe es meinen eigenen Kindern gewidmet, weil ich zu allererst durch sie erfahren habe, welche klugen und wesentlichen Fragen Kinder stellen können.
Unsere Geistesgeschichte ist ein großartiger Schatz, und das Wissen darum kann unser Leben reicher machen. Und so, wie es altersgerechte Vorführungen zur Musik, bildenden Kunst und Literatur gibt, sollte es auch Hinführungen zur Philosophie geben, schon für Kinder sollte eine Einübung in Nachdenklichkeit und eigenes Denken (am Beispiel des Denkens anderer) Pflicht sein.
Gabriele Münnix