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S tille.
Schließlich löse ich den Blick von den Händen in meinem Schoß und schaue hoch, direkt in Iras Augen, die mich forschend mustern.
»Ja«, sagt sie gedehnt. »Möglich wäre das schon. Wie kommst du darauf, dass das der Fall sein könnte?«
»Das spielt keine Rolle«, entgegne ich.
»Michaela, wenn du mir nicht vertraust, kann ich dir nicht helfen.«
»Ich kann es dir nicht sagen. Es würde meine Mutter –« Ich stocke, zucke hilflos mit den Schultern. »Dann gehe ich wohl besser wieder.« Ich mache Anstalten, mich zu erheben.
»Nein, bleib hier. Bitte.« Ira steht auf. »Du kannst im Gästezimmer schlafen. Morgen sehen wir dann weiter.«
»Danke«, sage ich mit Tränen in den Augen.
»Versteh mich nicht falsch«, sagt sie. »Das ist jetzt kein Freibrief. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass du dich der Polizei stellen und für deine Taten geradestehen musst.«
Ich nicke, flüstere. »Ich will nur endlich wissen, was damals am See wirklich passiert ist.«
»Wir können versuchen das mittels Hypnose herauszufinden«, sagt Ira. »Aber ich kann nicht versprechen, dass es gleich beim ersten Mal gelingt. Es kann auch sein, dass es so tief in dir verborgen ist, dass wir den Zugang gar nicht finden. Und falls doch«, sie macht eine Pause, »es besteht durchaus die Möglichkeit, dass dir nicht gefällt, was dabei an die Oberfläche gespült wird.«
»Das nehme ich in Kauf«, sage ich, obwohl es mich unwillkürlich fröstelt.
Ira zeigt mir das Gästezimmer, ein schmaler Raum mit einem ebensolchen Bett und einem Kleiderschrank aus Kiefernholz. Nicht wirklich gemütlich, aber zumindest ein Ort, an dem ich mich für diese eine Nacht sicher fühlen kann. Sie drückt mir Bettwäsche in die Hand, zeigt mir, wo das Bad ist und wünscht mir eine gute Nacht.
»Ich danke dir sehr«, sage ich, als sie das Zimmer verlassen will.
»Wahrscheinlich mache ich einen großen Fehler.« Sie verzieht den Mund zu einem angedeuteten Lächeln. »Du hast, wie schon gesagt, Glück, dass du mich an meine verstorbene Tochter erinnerst.«
Sie zieht die Tür hinter sich zu. Der Wunsch, sie möge bei mir bleiben, bis ich eingeschlafen bin, ist plötzlich da. Ich bin tatsächlich kurz versucht, ihr hinterherzulaufen und sie wie ein kleines Kind darum zu bitten. Aber ich bin eine erwachsene Frau. Also beziehe ich das Bett, gehe anschließend ins Badezimmer, putze mir die Zähne und schlüpfe kurze Zeit später unter die Decke.
Kaum liege ich im Bett, ist meine Müdigkeit verflogen. Bestimmt werde ich die ganze Nacht kein Auge zu tun. Ein Gedanke hat sich in meinem Kopf festgesetzt, lässt sich nicht wegdrängen. Die Pistole, die Robert damals in dem Unfallwagen gefunden hat. Wie ist sie dahin gekommen? War es meine Pistole? Hatte ich sie damals bei mir? Über diesen Gedanken dämmere ich weg.
Es ist mitten in der Nacht, als ich aufstehe, mich anziehe und Iras Wohnung verlasse. Der Himmel ist sternenklar, die Luft eisig. Eiskrusten überziehen die parkenden Autos wie dicker Zuckerguss. Die Straßenlampen malen helle Lichtkreise auf das Pflaster der Bürgersteige. Ich steige in mein Auto und fahre los. Auf leeren Straßen gleitet der Wagen geräuschlos durch die Nacht. Den Weg vom Parkplatz zum See finde ich im Schein der Sterne ohne Probleme.
Das kalte Licht des Mondes ergießt sich über die dunkle Wasseroberfläche des Sees. Sie ist glatt wie ein Spiegel. Die Stille ist so umfassend, dass ich glaube, meinen eigenen Herzschlag zu hören. Rechts stehen die beiden Zelte. Sie sind leer. Auch die Räder sind weg. Niemand ist da. Meine Augen suchen die Umgebung ab. Höre ich da ein Lachen? Nein, das ist der Wind, der leise durch die kahlen Äste streift.
Jetzt erreicht er auch mich. Er streicht über mich hinweg, so sanft wie eine Liebkosung. Eine Gänsehaut kriecht mir über den Körper.
Und plötzlich, wie aus dem Nichts, nehmen sie Gestalt vor meinen Augen an. Juli, Maike, Paul und Erik. Lautlos verteilen sie sich um mich herum, nehmen ihre Plätze ein. Wie Schauspielerinnen und Schauspieler, die auf der Bühne darauf warten, dass die Saalbeleuchtung erlischt und sich der Vorhang hebt. Spot an und das Spiel kann beginnen.
Maike tritt vor, in der Hand eine Pistole. Ihr Gesicht ist tränenüberströmt. Der erste lautlose Schuss trifft Paul, der zweite Juli, der dritte Erik. Starr vor Entsetzen sehe ich zu. Blut tränkt den Boden dunkel.
Jetzt hat Maike mich entdeckt, sie steigt über die toten Körper hinweg, kommt auf mich zu.
»Ich habe auf dich gewartet«, sagt sie. »Drei Tage und drei Nächte habe ich gewartet und jede einzelne Sekunde davon gehofft, dass du zurückkommst und mich holst.«
»Ich … Ich …«, stammele ich.
»Du hast es versprochen.«
Sie hebt die Waffe, zielt nun auf mich. Ich sinke in die Knie, verberge mein Gesicht in den Händen. »Es tut leid«, flüstere ich. »Verzeih mir.«
»Du wirst sterben. Wie Paul und die anderen. Sie waren es nicht wert.«
Ich spüre den Lauf der Pistole hart auf meinem Hinterkopf.
»Nein, bitte nicht«, schreie ich.
Und fahre schweißgebadet hoch.
Wo bin ich? Mein Herz klopft zum Zerspringen. Einzelne Traumsequenzen geistern noch durch meinen Kopf, verschwimmen und lösen sich schließlich auf. Erst allmählich wird mir klar, dass ich einen Albtraum hatte. Mit einem erleichterten Seufzer sinke ich auf das Kopfkissen zurück.
Was für ein verwirrender, verstörender Traum.
Mit einem Mal bin ich hellwach. Ich springe aus dem Bett. Wo ist die Notiz, die ich in Alexanders Wohnung gefunden habe? Ich greife nach meiner Hose, stelle irritiert fest, dass es nicht meine ist. Stimmt. Ich habe mich bei Mutter ja umgezogen. Der Zettel mit den unverständlichen Kürzeln befindet sich also dort. Ich lasse mich auf die Bettkante sinken. An ein M erinnere ich mich. M wie Maike? Der erste Buchstabe ist ein I, fällt mir, der zweite ein M. IMDT, jetzt habe ich es. Dahinter ein Fragezeichen. Und plötzlich weiß ich auch, was die Buchstabenfolge bedeutet: Ist Maike die Täterin?
Hat tatsächlich Maike ihre Freunde ermordet? Aber warum? In meinem Kopf überstürzen sich die Fragen. Ich versuche mir die Szene aus dem Traum ins Gedächtnis zurückzurufen, aber ich bekomme sie nicht richtig zu fassen.
Konzentrier dich! Was ist damals passiert? Mein Mund wird ganz trocken vor Aufregung. Ich bin kurz davor, die Wahrheit herauszufinden, das kann ich spüren. An schlafen ist nicht mehr zu denken. Vorsichtig öffne ich die Tür und schleiche barfuß in die Küche. Aus dem Kühlschrank nehme ich mir eine Flasche Wasser und tappe in mein Zimmer zurück.
Ich trinke einen großen Schluck und schließe die Augen. Mir schwirrt der Kopf.
Ein Gedanke blitzt plötzlich auf. Ich will ihn wegschieben, aber er drängt sich mit aller Macht ganz nach vorne in mein Bewusstsein.
Es könnte auch ganz anders gewesen sein. Das M in Alexanders Notiz könnte genauso gut für Michaela stehen.