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EIN LOGISTISCHES DILEMMA
»Ich will, dass dieser General in die Brigg kommt. Dann soll er vor ein Kriegsgericht gestellt werden. Und wenn man dort so vernünftig ist, ihn an die Wand zu stellen, will ich hinter dem Erschießungskommando stehen und ihm zum Abschied noch einmal zuwinken.«
Sergeant Fallon spricht nicht mit erhobener Stimme, aber ich kenne sie doch gut genug, um zu wissen, dass sie vor Wut kocht.
»Das könnte etwas schwierig werden«, meint Colonel Campbell über die Videoverbindung von der INDIANAPOLIS. »Er ist der ranghöchste Offizier dieser desolaten Kampfgruppe. Und wenn man ihm an den Kragen geht, müssen wir auch gegen die willigen Vollstrecker vorgehen, die seine Befehle ausgeführt haben.«
»Das klingt ja fast so, als ob Sie ihm die Stange halten wollten«, erwidert Sergeant Fallon. »Wir haben hier unten neununddreißig Tote und siebzig Verwundete. Wir haben eine Dragonfly, einen Shrike und vier Wasps verloren, und diese Bruchpiloten haben tausend Granaten in eine zivile Siedlung reingeballert. Wenn die Häuser hier unten nicht wie verdammte Bunker gebaut wären, könnten wir dieser Bilanz wohl noch fünfzig bis hundert Zivilisten hinzufügen. Der Idiot, der diesen Angriff befohlen hat, muss über die Planke gehen, Colonel.«
»Sehen Sie, Sarge, ich hätte damit grundsätzlich kein Problem. Aber ich kann schlecht meinen Waffenmeister rüberschicken, um dem General Handschellen anzulegen«, gibt Colonel Campbell zu bedenken. »Was schlagen Sie also vor?«
»Sagen Sie ihnen, dass sie keine Lebensmittel- und Wasserlieferungen von der Kolonie mehr bekommen, wenn sie den General nicht seines Kommandos entheben und ihn bis zur Kriegsgerichtsverhandlung in die Brigg stecken.«
»Darauf werden sie wahrscheinlich nicht eingehen, Sarge.«
»Sie werden schon darauf eingehen, wenn ihre Wasserrecycler trocken laufen«, sagt Sergeant Fallon nüchtern.
»Ist Ihre Show da unten. Ich werde das an die Kampfgruppe weiterleiten.«
»Haben sie Sie auch schon auf dem Kieker, Colonel?«, frage ich.
»O ja. Sie verhalten sich zwar nicht aggressiv, aber die ganze Kampfgruppe schwirrt mit voll aufgedrehten Aktivsensoren in der Gegend rum. Selbst mit diesem Stealth-Schiff muss ich Abstand halten.«
»Wie ist Ihre Versorgungslage?«
»Nun, dies ist ein Orbitalkampfschiff und kein Tiefraum-Schlachtschiff. Wir haben noch genügend Wasser und Nahrungsmittel für ein paar Wochen. Aber ich möchte trotzdem sobald wie möglich einen Termin zum Bunkern von Wasser und zum Austausch der Besatzung vereinbaren. Das Schiff ist nicht für monatelange Einsätze vorgesehen, und ich will nicht, dass meine Leute noch einen Lagerkoller bekommen.«
»Völlig klar, Colonel«, sagt Sergeant Fallon. »Und wenn Sie sich einige Zeit freinehmen können, würde ich Sie liebend gern auf einen Drink einladen. Die Einheimischen hier produzieren einen Selbstgebrannten, bei dem es einem die Schuhe auszieht, und Eis für ›on the rocks‹ gibt es hier sowieso genug.«
»Hört sich ziemlich gut an, Sarge«, schwärmt Colonel Campbell. »Ich werde auf Ihr Angebot zurückkommen, sobald wir die Situation hier im Orbit im Griff haben und ich die Abschussrohre für meine Atomraketen wieder verplomben kann. INDY Actual Ende.«
Der Besprechungsraum im Erdgeschoss des Verwaltungszentrums versprüht den Charme einer Militärkantine, ist aber ansprechender ausgestattet. Ein holografisches Panel nimmt die ganze Wand hinter dem Kopfende des Konferenztischs ein. Da die Kolonie erst seit Kurzem existiert, ist die ganze Kommunikationsausrüstung auf dem neuesten Stand – sogar noch moderner als das Gerät im GLZ der auch brandneuen INDIANAPOLIS. Sergeant Fallon hat den Raum schon für eine Weile mit Beschlag belegt. Sie wollte hier mit den Kapitänen der INDIANAPOLIS und der GARY I. GORDON sprechen, ohne befürchten zu müssen, abgehört zu werden.
»Ist nicht gerade eine eindrucksvolle Armada«, sage ich. »Ein Orbitalkampfschiff und ein alter Frachter. Diese Flotteneinheiten sind uns bewaffnungsmäßig noch immer fünfzig zu eins überlegen.«
»Ja, aber Gott sei Dank hat die INDIANAPOLIS Atomraketen«, sagt sie. »Die sind im Moment das Einzige, was uns die Flotte vom Leib hält. Das und die Tatsache, dass der Kapitän, der zu uns übergelaufen ist, das einzige Schiff mit Stealth-Fähigkeiten der Kampfgruppe hat.«
Es klopft an der Tür, und einer der Kolonialverwalter steckt den Kopf in den Besprechungsraum.
»Sergeant Fallon, da möchte Sie jemand sprechen.«
»Militär oder Zivilist?«
»Äh, Zivilist, Ma’am. Sie ist die Leiterin unserer wissenschaftlichen Mission.«
»Na gut, schicken Sie sie rein.«
Die Frau, die nun den Raum betritt, ist dunkelhaarig, schlank und fast so groß wie ich. Und sie wirkt ziemlich verärgert. Sie geht zielstrebig auf den Konferenztisch zu, an dem Sergeant Fallon und ich nebeneinandersitzen, und dann nimmt sie direkt uns gegenüber am Tisch Platz.
»Sie erwarten hoffentlich nicht von mir, dass ich Sie um Erlaubnis bitte, mich setzen zu dürfen«, sagt sie. »Ich bin es nicht gewohnt, das Militär um Erlaubnis für die Nutzung unserer eigenen Einrichtungen zu bitten, und ich werde jetzt auch bestimmt nicht damit anfangen.«
Sergeant Fallon runzelt eine Augenbraue und lächelt kaum merklich.
»Und Sie sind?«
»Dr. Stewart«, sagt die Frau. »Ich bin die Leiterin der wissenschaftlichen Abteilung hier in der Kolonie.«
»Ich bin Briana Fallon. Haben Sie auch einen Vornamen, oder hatten Ihre Eltern Sie im Vorgriff auf Ihre akademische Laufbahn gleich ›Doktor‹ genannt?«
Dr. Stewart erwidert Sergeant Fallons klitzekleines Lächeln.
»Ich heiße Janet«, sagt sie. »Sie müssen mir verzeihen, dass ich Sie nicht mit Ihrem offiziellen Dienstgrad anspreche. Ich kenne mich mit den militärischen Rangabzeichen nicht so aus.«
»Darauf dürfte es jetzt auch nicht mehr ankommen«, sagt Sergeant Fallon. »Unsere neue Befehlskette hier unten ist sowieso etwas unorthodox. Aber wenn Sie schon fragen, ich bin ein Master Sergeant. Und dieser Kamerad neben mir ist Staff Sergeant Grayson.«
»Andrew«, sage ich. Dr. Stewart nickt mir zu.
»Und wie können wir Ihnen nun helfen?«, fragt Sergeant Fallon.
»Nun.« Dr. Stewart faltet die Hände auf dem Tisch und lächelt knapp. »Sie kommen gleich zur Sache. Solche Menschen mag ich.«
Sie blickt auf den großen Holobildschirm an der anderen Seite des Raums, doch der zeigt nur das graue Stand-by-Bild.
»Sie könnten mir und auch sich selbst einen großen Gefallen tun, indem Sie diese Truppenverstärkungen, die Sie in die Siedlung gestopft haben, sobald wie möglich wieder nach Hause schicken. Vorzugsweise noch vor Wintereinbruch.«
Sergeant Fallon schüttelt schnaubend den Kopf.
»Ich würde nichts lieber tun. Doch nur für den Fall, dass man euch Wissenschaftler nicht auf dem Laufenden gehalten hat – die Flotte hat das Alcubierre-Netzwerk abgeschaltet und die Ausgangs-Gradienten vermint. Ich befürchte, wir müssen uns auf absehbare Zeit hier miteinander arrangieren.«
»Dann will ich hoffen, dass ihr auch genug zum Futtern für ein paar Jahre mitgebracht habt. Ich weiß, dass die Schreibtischhengste im Verwaltungsbüro nicht gerade Mathegenies sind. Also sind sie wahrscheinlich noch nicht darauf gekommen, aber wir haben nicht annähernd genügend Nahrungsmittel auf diesem Mond, um uns selbst und ein paar Tausend Logisgäste zu ernähren.«
»Ich dachte, Sie würden Ihre eigenen Nahrungsmittel anbauen«, sage ich.
»Zum größten Teil. Trotzdem müssen wir uns manche Dinge noch von der Heimat liefern lassen. Mit unserer Normalbevölkerung könnten wir für eine längere Zeit über die Runden kommen, wenn wir die Vorräte rationieren, aber nicht mit der momentanen Belegschaft. Einfach ausgedrückt, wir haben eine Versorgungskapazität für x Leute, und im Moment haben wir x mal zwei Leute auf diesem Mond.«
»Können wir die Kapazitäten denn nicht erhöhen? Indem wir zum Beispiel noch ein paar Treibhäuser errichten?«, frage ich.
»Ich wünschte, das wäre so einfach«, erwidert Dr. Stewart. »Wir haben hier keine Anlagen, um die Fertigmodule für die Treibhäuser zu produzieren. Und selbst wenn wir sie hätten, ist die Anbausaison hier unten ziemlich kurz, und wir nähern uns auch schon fast ihrem Ende.«
»Der Träger hat reichlich Nahrungsmittel und Vorräte in seinen Magazinen, aber wir pflegen im Moment nicht gerade eine herzliche Beziehung mit dem Rest der Flotte. Sobald wir einen Waffenstillstand mit den Flotteneinheiten vereinbart haben und Gespräche aufnehmen, können wir unsere Vorräte zusammenlegen«, sagt Sergeant Fallon. »Mit dem Bestand Ihrer Nahrungsmitteldepots und den Reserven der Kampfgruppe werden wir wohl bis zur nächsten Anbausaison durchhalten können. Mehr kann ich im Moment aber nicht bieten. Ich kann schließlich nicht tausend meiner Leute sagen, sie sollen Selbstmord begehen, nur um die Bevölkerungszahl zu reduzieren.«
»Nein, natürlich nicht.« Dr. Stewart lächelt knapp.
»Überhaupt werden wir nur unter der Voraussetzung bis zur nächsten Anbausaison durchhalten, dass die Lankies uns keinen Besuch abstatten«, sage ich. »Falls sie nämlich hier auftauchen, dürfte die Versorgungslage noch unsere geringste Sorge sein.«
»Sie haben bisher kein Interesse an diesem System gezeigt«, sagt Dr. Stewart. »Es gibt hier schließlich auch nicht viel zu holen. Zwei kleine Monde, von denen der eine zu heiß und der andere zu kalt für eine großflächige Kolonisierung ist. Und wenn es auf diesem Mond kein Eis gäbe, wären wir hier wahrscheinlich auch nicht präsent. Dieser Ort ist zu öde und zu weit von zu Hause entfernt.«
»Dann wollen wir hoffen, dass sie bezüglich der Wertermittlung für dieses Grundstück mit Ihnen konform gehen«, sage ich. »Falls sie nämlich eines Morgens in der Umlaufbahn stehen, werden wir ein paar Wochen später nur noch Kompost sein.«
»Sie meinen, dass die Truppenverstärkung keinen Unterschied machen würde?«
»Nein, langfristig nicht.«
»Und wieso sind sie dann überhaupt hier?«
»Damit sie weit von der Erde und von allen anderen Orten entfernt sind, an denen sie vielleicht Ärger machen würden«, antwortet Sergeant Fallon für mich. »Wir sind nämlich ein Haufen Quertreiber und Störenfriede mit einem ausgeprägten Hang zur Insubordination. Euer kleiner Mond ist jetzt mehr oder weniger eine Strafkolonie.«
Dr. Stewart zeigt wieder ihr verschmitztes kleines Lächeln.
»Entzückend. Entweder von den Lankies getötet werden oder langsam verhungern. Unter diesen Umständen hat es wohl nicht mehr viel Sinn, meinen Lebenslauf noch mal zu aktualisieren.«
»Willkommen beim Schlussakt der Spezies«, sage ich. »Wenigstens haben wir Plätze im Ring.«
»Na schön.« Dr. Stewart faltet die Hände im Schoß und wirft wieder einen Blick auf das Stand-by-Bild des Holobildschirms. »Es liegt mir nicht, auf dem Hintern zu sitzen und darauf zu warten, dass die Uhr abläuft. Ich kann zwar weder mit einem Gewehr umgehen noch ein Landungsschiff fliegen, aber ich habe eine wissenschaftliche Forschungseinrichtung voller schlauer Leute. Können wir irgendetwas tun, um unsere Lage zu verbessern? Haben Sie da etwa einen Plan?«
Sergeant Fallon lächelt.
»Dieser Begriff impliziert einen Organisationsgrad, den ich jetzt noch nicht für uns reklamieren will. Im Moment befinden wir uns noch im Stadium der Improvisation.«