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IN DEN SEILEN
Wenn wir die Lankies nur halb so erfolgreich bekämpfen würden, wie wir uns gegenseitig vernichten, würde die Flotte jetzt eine große Kampfgruppe zusammenstellen und geschlossen zum System Sirius A transitieren, um die Scheiße aus den Lankies rauszuprügeln und die Leute zu retten, die wir zurückgelassen haben. Stattdessen sind die einzigen Leute, die sofort zur Tat schreiten, die Schreibtischhengste der Flotte.
Schon während der Transition in der Alcubierre-Blase zurück zur Erde beansprucht das Flottenkommando unsere gesamte Kommunikationsbandbreite, um mit den Überlebenden der Kampfgruppe Sieben-Zwei Videokonferenzen abzuhalten. Ich spreche mit einer endlosen Prozession von Majoren, Obristen und Generälen und zu allem Überfluss auch noch mit unzähligen Zivilangehörigen des NAC und des Verteidigungsministeriums. Weil ich der einzige überlebende Gefechtscontroller der aus zwei Regimentern bestehenden Bodentruppen bin, sind die Datenspeichermodule in meinem Kampfanzug von besonderem Interesse für das Oberkommando. Deshalb entsenden sie auch einen Nachrichtenoffizier der Flotte im Rang eines Captains mit einer Militärpolizei-Eskorte. Sie sollen den Raumanzug sicherstellen und die Daten auslesen – als ob ich wirklich so blöd wäre, den Computerspeicher versehentlich mit gestreamten Netzwerknachrichten zu überschreiben oder die aufgezeichneten Daten an die gesamte Mannschaft der NASSAU zu übermitteln.
Nach dem dritten aufeinanderfolgenden Tag dieser Videokonferenzen tue ich etwas, was ich noch nie zuvor in meiner Laufbahn getan habe – ich mache blau und begebe mich ins Krankenrevier. Es braucht auch nicht viel, um den Psychoklempner zu bewegen, mir Beruhigungsmittel und Schlaftabletten zu verabreichen. Und dann verbringe ich die letzten drei Tage unserer Rückreise zur Erde in süßem medikamenteninduziertem Schlummer auf einem Klappbett im Schubfach 2204L.
»Achtung: Alle Mann auf Ankunft an Independence Station vorbereiten. Geschätzte Ankunftszeit einhundertzwanzig Minuten.«
»Independence Station?«, wiederholt Staff Sergeant West und sieht mich mit einer gerunzelten Augenbraue an. »Das ist doch die kommerzielle Zivilstation. Was ist denn mit dem alten Gateway?«
»Keine Ahnung«, sage ich und nehme einen Schluck Kaffee. »Vielleicht ist sie endlich in den Nordatlantik gestürzt. Jedes Mal, wenn wir dort eingetroffen sind, hat sie einen noch heruntergekommeneren Eindruck gemacht.«
»Du kennst ja die Flotte. Sie fahren die Ausrüstung auf Verschleiß, und wenn sie dann versagt, flicken sie den Kram wieder mit Sekundenkleber zusammen und lassen sie noch etwas länger laufen.«
Sergeant West ist einer der Soldaten, der zusammen mit mir den Untergang von Banshee Zwei-Fünf überlebt hat. In den letzten paar Tagen haben wir viel Zeit im Unteroffiziersklub verbracht und die Ereignisse im System Sirius A verarbeitet, indem wir über ganz andere Dinge gesprochen haben. Das ist die Taktik, mit der Soldaten der kämpfenden Truppe einem mentalen Trauma vorbeugen.
Die Änderung des Tagesablaufs in Verbindung mit dem Umstand, dass unsere Kommunikation mit dem System eingeschränkt wurde, seit wir vor einer Woche die Alcubierre-Blase verlassen hatten, mutet wie ein Vorbote kommenden Unheils an. Als ich Sergeant West diese Sorge mitteile, zuckt er nur die Achseln.
»Du bist doch schon lange genug dabei, Grayson. Man soll keine böse Absicht unterstellen, wenn man es auch mit schlechter Planung erklären kann.«
Als wir schließlich an Independence Station andocken, werden wir von einem Begrüßungskomitee in Empfang genommen, das aus zwei Nachrichtendienstoffizieren und Militärpolizei zu bestehen scheint. Seltsamerweise sind aber auch Personen in Zivilkleidung dabei, und ich muss zweimal hinsehen, um sie als Agenten des NAC-Heimatschutzes zu identifizieren. Wir werden in getrennte Räume gebracht und dann noch einmal in kleinere Gruppen aufgeteilt. Schließlich sitze ich mit einem verdrießlich dreinblickenden Captain des Nachrichtendienstes in einem kleinen Büro mit Textiltapete.
»Staff Sergeant Grayson«, liest er vom Datenpad in seinen Händen ab. »Tut mir leid wegen der MANITOBA. Sie haben bestimmt viele Freunde auf diesem Schiff verloren.«
Ich hatte zwar noch nicht viele Freunde auf der MANITOBA, weil ich erst kürzlich auf sie versetzt worden war, aber ich nicke trotzdem.
»Das war auch nicht das erste Schiff, das Sie verloren haben, wie ich sehe. Im Jahr 2113 war es die VERSAILLES. Es zieht Sie doch immer wieder zu den Lankies hin, oder?«
»Kann man so nicht sagen, Captain. Ich würde ihnen gern aus dem Weg gehen, wenn sie mich in Ruhe ließen.«
»Ja, sie werden allmählich lästig.« Er fährt mit dem Zeigefinger auf dem Bildschirm des Datenpads herum. »Sie waren an der Oberfläche, als das Saatschiff auftauchte. Hatten Sie die Flash-Mitteilung mit dem Befehl erhalten, dass alle Einheiten am Boden bleiben und in die Defensive gehen sollten?«
»Daran erinnere ich mich nicht, Sir. Wissen Sie, es ging etwas hektisch zu, als die Atomwaffen im hohen Orbit explodierten.«
»Laut Ihrem Anzug-Computer haben Sie sie aber erhalten. Dann haben Sie entgegen diesem Befehl dem Zugführer geraten, das Landungsschiff der Einheit anzufordern und zum Träger zurückzukehren.«
»Sehen Sie das?« Ich deute auf die Rangabzeichen meiner Uniform – ein Winkel mit einem Bogen auf jeder Schulter. »Das bedeutet ›Staff Sergeant‹. Die Zugführer hatten jeweils einen Stern. Das bedeutet ›Second Lieutenant‹. Die nehmen keine Befehle von Staff Sergeants entgegen.«
Der Nachrichtendienst-Captain sieht mich für einen Moment ausdruckslos an wie ein Biologe, der eine fremdartige Probe beobachtet, die sich auf einer Nadel windet. Dann legt er das Datenpad vor sich auf den Schreibtisch und lehnt sich auf dem Stuhl zurück.
»Sie sind ein Gefechtscontroller. Damit sind Sie das Bindeglied zur Flotte auf dem Boden. Jeder Zugführer, der auch nur halbwegs bei Verstand ist, wird Ihren Rat befolgen. Sie sind nur deshalb noch am Leben, weil Sie befehlswidrig gehandelt haben und weil der CAG Ihres Schiffs damit gedroht hat, ein Schiff der Kampfgruppe mit Atomraketen zu beschießen. Das reicht nach meinem Dafürhalten schon aus, um jedes Besatzungsmitglied über dem Rang eines Corporals auf diesen vier Landungsschiffen vors Kriegsgericht zu stellen.«
Ich sehe den Captain für einen Moment ungläubig an. Dann brennt irgendeine Sicherung bei mir durch.
»Wollen Sie uns ernsthaft belangen, weil wir lebendig von diesem Planeten weggekommen sind? Sie machen wohl Witze.«
»Dies ist durchaus nicht der Fall, Sergeant. Ich habe kein Problem damit, dass Sie überlebt haben. Ich habe aber ein Problem damit, dass Sie Befehle missachtet haben.«
»Scheiß drauf«, sage ich und verschränke die Arme vor der Brust. »Ich habe nichts mehr mit Ihnen zu besprechen. Stellen Sie mir entweder einen JAG-Anwalt, oder gehen Sie mir aus den Augen.«
»Sie brauchen keinen Rechtsbeistand. Es sind noch keine Anschuldigungen gegen Sie erhoben worden.«
»Dann tun Sie das und lassen mich von der Militärpolizei in die Brigg werfen, oder hören Sie auf, meine verdammte Zeit zu verschwenden.«
Der Captain greift wieder zu seinem Datenpad und tippt eifrig auf dem Bildschirm herum. Ich muss an mich halten, um mich nicht über den Schreibtisch zu beugen und ihm das verdammte Ding aus den Händen zu reißen. Man sucht im Moment nach einer Möglichkeit, irgendjemandem ein Ei an die Schiene zu nageln. Sie brauchen ein Bauernopfer, um den Eindruck zu vermeiden, die Militärführung sei ein Haufen Fahrkarten schießender Schreibtisch-Karrierepiloten, der sie immer schon war. Wir verlieren den Kampf ums Überleben unserer Spezies, und die Verantwortlichen wollen noch immer das Fußvolk über die Klinge springen lassen, um ihre eigene Karriere zu retten.
»Sie sind unverzichtbar für die Flotte, Staff Sergeant Grayson. Wir haben nicht genug Gefechtscontroller, um Sie für ein paar Monate in Leavenworth einzubuchten, während das Corps darüber befindet, was mit Ihnen geschehen soll. Seien Sie aber versichert, dass dieses Vorkommnis in Ihrer Personalakte vermerkt wird und dass wir auf die Angelegenheit zurückkommen werden, sobald die Lage sich etwas beruhigt hat.«
Ich schüttle den Kopf und lache gackernd.
»Wir sind gerade von den Lankies in den Arsch getreten worden, sieben Lichtjahre von hier entfernt. So, wie die Aussichten für unsere Mannschaft stehen, mache ich mir im Moment nicht allzu große Sorgen wegen eines beschissenen Kriegsgerichts, Captain.«
Die Flotte hat eine informelle Bezeichnung für Matrosen, die die Zerstörung ihres Schiffs überlebt haben: HLW – »hüllenlose Waisen«. Diese bedauernswerten Geschöpfe werden normalerweise von einem Personaldurchgangsbereich zum nächsten weitergereicht, während die Flotte versucht, eine neue Heimat für sie zu finden. Diejenigen von uns, die das Desaster über Sirius A-d überlebt haben, werden allerdings nicht wie HLW behandelt, obwohl wir welche sind. Stattdessen schränkt man unsere Bewegungsfreiheit ein und behandelt uns mit wohlwollender Gleichgültigkeit, sodass wir uns beinahe schon wie SRA-Kriegsgefangene fühlen. Man hat uns in einem abgetrennten Bereich von Independence Station untergebracht und verwehrt uns den Zugang zum MilNet. Eine Abteilung Militärpolizei schirmt uns vor den anderen Soldaten und Matrosen ab, die sich in der Station aufhalten. Die Woche nach unserer Ankunft ist durch einen anschwellenden Strom aus Personal und Ausrüstung gekennzeichnet, bis Independence schließlich wie eine etwas sauberere und neuere Version der chronisch überfüllten Gateway Station aussieht. Ich bin schon lange genug in der Flotte, um zu wissen, dass die Militärführung mit unserer Kommunikationssperre verhindern will, dass die Nachricht von unserer vernichtenden Niederlage sich jetzt schon in den Streitkräften herumspricht. Die massive Truppenkonzentration an einem der drei großen Orbitaldrehkreuze des NAC ist nämlich ein klares Indiz dafür, dass wir uns auf einen Großeinsatz vorbereiten und dass das Oberkommando nun alle Reserven gegen die Lankies mobilisiert.
Und nach anderthalb Wochen mit noch mehr Nachbesprechungen, ausgiebigem Schlaf, medizinischen Untersuchungen und langen Phasen geisttötender Langeweile ist die Flotte schließlich zu einem Entschluss gelangt, wie sie mit mir verfahren will.
»Staff Sergeant Grayson«, sagt der Lieutenant, als er den Lagerraum betritt, der uns als provisorische Messe dient. Ich lege mein Schinken-Käse-Sandwich weg und erhebe mich, um ihm meinen Gruß zu entbieten.
»Weitermachen, Sergeant«, sagt er und setzt sich mir gegenüber an den Tisch. Er trägt das standardmäßige schwarze Barett der Flotte, und sein Einheitsabzeichen weist ihn als einen Schreibtischhengst aus der Logistik- und Personalabteilung aus. Ausnahmsweise kein Nachrichtendienstoffizier, wie ich sie in dieser Woche sonst ausschließlich gesehen habe.
»Ja, Sir«, sage ich und schiebe mein Sandwich beiseite. »Wie ist die Lage?«
»Der Urlaub ist vorbei. Die Flotte benötigt wieder Ihre Dienste, falls Sie bereit sind.«
»Natürlich, Sir.«
Er holt ein Datenpad hervor, tippt auf dem Bildschirm herum und dreht das Gerät dann zu mir hin, damit ich einen Blick auf das Display werfen kann.
»Sie werden sich morgen um 1300 Zulu auf der NACS MIDWAY melden. Sie ist im Moment noch nach Independence Station unterwegs.«
»Die MIDWAY?« Ich suche in meiner mentalen Datenbank nach Informationen. »Ist sie denn nicht schon vor ein paar Jahren außer Dienst gestellt worden?«
»Sie wurde in Reserve gehalten und letzte Woche wieder in den aktiven Flottendienst übernommen. Die Wartungscrew überführt sie jetzt vom strategischen Flottenliegeplatz.«
»Wahnsinn«, sage ich. »Die Flotte kratzt die letzten Reserven zusammen. Die Schiffe der Pacific-Klasse sind doch schon verdammte achtzig Jahre alt. Ich dachte, sie wären inzwischen alle verschrottet.«
»Alle außer der MIDWAY und der IWO JIMA«, sagt der Lieutenant. Er legt das Datenpad weg und erhebt sich vom Stuhl. »Die Flotte hat zu wenig Schiffe, Sarge. Die Pacifics sind zwar alt, aber sie sind große Pötte.
»Was ist mit meiner Ausrüstung? Der Insektenanzug ist zusammen mit dem anderen Kram auf der MANITOBA verbrannt.«
»Fragen Sie den Magazinverwalter auf der MIDWAY. Sie werden dort ohne Zweifel eine neue Ausrüstung erhalten.«
Als man mich mit dem Insektenanzug ausstattete, musste ich mich eigens zum Zentrum für Spezialeinsätze der Flotte auf Luna begeben. Dort verbrachte ich dann drei Tage mit der Anpassung des Systems und eine Woche mit Praxistests. Ich weiß über jeden Zweifel erhaben, dass die Magazin-Muckel auf diesem Abwrackwerft-Kandidaten keinen neuen Anzug auf Lager haben. Das bedeutet, dass ich mit unzureichender Ausrüstung gegen die Lankies ins Gefecht geschickt werde – noch dazu auf einem Schiff, das nur in letzter Minute vermeiden konnte, Bekanntschaft mit den Plasma-Schneidbrennern der Abwrackwerft zu machen. Aber den Sachbearbeiter vor mir ficht das alles nicht an; und selbst wenn, wäre er auch nicht in der Lage, etwas daran zu ändern. Also grüße ich nur und schaue ihm nach, als er den Lagerraum verlässt.
Als eine zivile Station verfügt Independence über gewisse Annehmlichkeiten, die das spartanische Gateway nicht zu bieten hat. Die meisten öffentlichen Bereiche haben Sichtfenster mit mehreren zolldicken Polykarbonat-Scheiben, die einen schönen Ausblick auf die Erde bieten. Auf Gateway sieht man die Erde zwar über externe Kameraübertragungen, aber es geht doch nichts darüber, den Planeten mit eigenen Augen zu sehen. Es gibt auch eine kleine Lounge in unserem Quarantänebereich, wo ich bis zum Eintreffen der MIDWAY einen Großteil meiner Freizeit verbringe. Ich sitze da und beobachte den Orbitalverkehr und die wirbelnden Wolkenmuster in der Atmosphäre. Irgendwo dort unten, unter der Wolkendecke, geht Mom im PRC Boston-7 ihren Verrichtungen nach und wärmt ihre GNV-Ration auf, während sie die Netzwerk-Shows schaut. Luna befindet sich auf der anderen Seite der Station außerhalb meines Blickfelds, aber ich weiß, dass Halley in diesem Moment in einem Unterrichtsraum oder einem Landungsschiff-Cockpit ist und der nächsten Kohorte von Weltraumbusfahrern beibringt, wie man eine Wasp fliegt. Die einzigen zwei Menschen, an denen mir wirklich etwas liegt, sind mir jetzt näher als während der meisten Zeit meiner fünfjährigen Dienstzeit. Wegen meiner eingeschränkten Bewegungsfreiheit und der Kommunikationssperre könnten sie aber auch genauso gut sechzig Lichtjahre und ein halbes Dutzend Alcubierre-Sprünge entfernt sein.
Zum ersten Mal während meiner Dienstzeit beim Militär will ich die Erde nicht mehr verlassen.