Kapitel 1
Kim stand hinter der Theke des „Atlantic Diners“, als plötzlich ihr Handy klingelte. Es war ihr Vater, der ihr mitteilte, dass Onkel Peter einen Schlaganfall hatte und dringend Hilfe im Haus benötigte.
„Aber Dad, wie stellst du dir das vor? Soll ich jeden Morgen vor meiner Schicht rüberfahren und nach ihm sehen? Könnt ihr keine Pflegekraft engagieren?“, fragte Kim fassungslos, weil er ernsthaft vorschlug, dass sie dies übernehmen sollte.
„Ich habe hier einen Job und meine Wohnung. Ich kann nicht einfach zu Onkel Peter ziehen“, protestierte sie, als er meinte, dass sie doch bei ihm unterkommen könne.
Sie legte auf, weil ihr Boss Harry sie bereits schief anguckte.
„Schon gut. Ich telefoniere nicht mehr“, rief sie ihm zu und ließ das Handy schnell in ihrer mintgrünen Schürze verschwinden.
Kim zog ihren Zopfgummi vom Handgelenk ab und band sich die dunkelbraunen Haare zu einem hohen Pferdeschwanz zusammen, ehe sie ihren kleinen Notizblock in die Hand nahm, um sich um die Bestellung der Neuankömmlinge zu kümmern.
Sie hatte Harry schon vor Monaten vorgeschlagen, dass er die Papierblöcke gegen etwas Elektronisches austauschen sollte, aber er meinte, dass es so authentischer wäre.
„Eine große Cola light und ein Wasser?“, fragte sie und notierte sich beides auf ihrem Block.
„Und die Vorspeisenplatte“, fügte der Mann, der eine New York Yankees Baseballcap trug, hinzu. Offensichtlich ein Tourist aus Europa.
„Und die Vorspeisenplatte“, wiederholte Kim und notierte sich das ebenfalls.
Als sie an den Tresen gehen wollte, um dort die Bestellung in die Kasse einzugeben, übersah sie ihre Kollegin Bonny und stieß mit ihr zusammen.
„Oh Gott. Es tut mir so leid“, sagte Bonny, die Kim mit einem halb aufgegessenen Teller Pommes so ungeschickt traf, dass nicht nur ihre Schürze, sondern auch ihr rosafarbenes Kleid mit Ketchup-Flecken bedeckt war.
„Kein Problem“, erwiderte Kim, lächelte freundlich und verfluchte Bonny innerlich.
Wie oft war ihr das schon in den letzten Wochen passiert? Fünf Mal? Und trotzdem hielt Bonny es nicht für wichtig, zu gucken, wenn sie um die Ecke bog.
„Ich bin so ungeschickt“, murmelte sie und versuchte, mit einer Papierserviette noch irgendetwas zu retten, doch es war zwecklos.
„Ich gehe mich umziehen“, sagte Kim genervt und verschwand nach hinten in den Aufenthaltsraum.
Sie warf die schmutzige Schürze auf den Boden und zog sich das Kleid über den Kopf.
Sie hatte diese Uniform schon immer verabscheut, aber Harry hielt auch das für authentisch.
Ihr Blick wanderte über die Bilder an der Wand, welche Casinos aus Atlantic City und Strände aus der Umgebung zeigten. Darunter auch Sea Isle City.
Sie versuchte sich daran zu erinnern, wann sie das letzte Mal in der kleinen Ortschaft gewesen war, die so berühmt ist für seine anfängerfreundlichen Wellen.
Es musste inzwischen fast 20 Jahre her sein, dass sie als kleines Kind mit einem Bodyboard von der Terrasse ihres Onkels an den Strand gelaufen war, um sich dort ins Wasser zu stürzen.
Unbemerkt fing sie an zu lächeln. Das waren schöne Zeiten. Nur sie, ihr Onkel und Dad.
Als sie noch zur Schule ging, hatte sie in dem riesigen Haus ihres Onkels gewohnt, das er wiederum von ihren Großeltern geerbt hatte. Sie hatten eine kleine Pension daraus gemacht, doch Onkel Peter hat es nach dem Tod seiner Eltern in ein schönes Zuhause für ihn, Kim und ihren Dad verwandelt.
Nach dem Abschluss war sie nach New York City gegangen, in der Hoffnung, eine steile Karriere als Künstlerin hinzulegen, allerdings war es immer nur bei Gelegenheitsjob geblieben. Ihr Vater war inzwischen ans andere Endes des Landes gezogen. Nur ihr Onkel war im großen Haus zurück geblieben und tatsächlich brach es ihr gerade das Herz, dass er niemanden hatte, der sich um ihn kümmerte.
„Harry? Ich kündige!“, schrie sie ihrem Boss zu, als der gerade die Tür aufriss.
„Was? Warum?“, fragte er entgeistert.
„Mein Onkel ist krank. Ich muss mich um ihn kümmern.“
„Kann das denn kein anderer übernehmen? Ich brauche dich hier.“
„Es gibt keine anderen Verwandten mehr. Du findest sicherlich schnell eine neue Kellnerin.“
Mit diesen Worten war Kim vor genau acht Monaten aus dem Diner in Atlantic City gestürmt, um ihre Sachen zu packen und in ihren kleinen, alten Ford Fiesta zu werfen.
Sea Isle City lag nur eine kurze Autofahrt entfernt, doch trotzdem hatte es sich für sie damals so angefühlt, als ob sie ihr altes Leben weit hinter sich lassen würde, um woanders komplett neu anzufangen.
Heute konnte Kim über den Gedanken nur lachen. Es hatte sich nämlich tatsächlich nicht allzu viel verändert.
Sie hatte einen Job als Rezeptionistin in einer kleinen Pension gefunden und keine steile Karriere als Künstlerin hingelegt. Bei ihrem Onkel hatte sie ihr altes Kinderzimmer bezogen, das sich seit damals kaum verändert hatte und den Großteil ihrer Freunde behalten.
Ihre beste Freundin Marge traf sie nach wie vor regelmäßig, um sich gegenseitig über Neuigkeiten zu informieren.
Doch zumindest hatte der Umzug dafür gesorgt, dass ihr Exfreund Marc nicht mehr unerwartet im Diner auftauchte, um Kim um eine weitere Chance zu bitten.
Dafür gab es neue Verehrer. Rick Sanders, der Besitzer der hiesigen Autowerkstatt. Schon am Tag ihrer Ankunft hatte er sie entdeckt und sich als Ziel gesetzt, Kim herumzubekommen. Sie hatte sich geschmeichelt gefühlt, bis sie von Mrs. White, ihrer jetzigen Chefin und Besitzerin der Pension Sea Breeze, erfahren hatte, dass er der örtliche Casanova war und in jeder Saison zahlreiche Touristinnen vernaschte. Dort arbeitete er nämlich zusätzlich im Surf-Shop und zeigte den jungen Frauen nicht nur die besten Surfspots, sondern auch, an welchem Teil des Strandes sie am ungestörtesten waren. Und zwar mit ihm…
Schnell hatte Kim ihm daher deutlich gemacht, dass sie keine weitere Kerbe in seinem Bettpfosten sein würde, was sie für ihn wiederum natürlich noch interessanter gemacht hatte.
Doch inzwischen waren die beiden gute Freunde und Kim verbrachte gerne Zeit mit ihm, nachdem sie sich an seine vielen Sprüche und Anmachversuche gewöhnt hatte.
Er war es damals auch, der sie der örtlichen Theatergruppe vorgestellt hatte, wo sie inzwischen regelmäßig mitarbeitete. Heute war sie für die Bühnenbilder verantwortlich, half bei der Dekoration und fungierte hin und wieder auch als Souffleuse.
Nach einer der Vorstellungen war sie noch etwas länger geblieben und wurde schließlich von Tom, dem Besitzer der hiesigen Galerie angesprochen. Ihm waren sofort die neuen Werke am Bühnenrand aufgefallen, und er hatte Kim bereits am nächsten Tag im Haus ihres Onkels besucht. Dort hatte sie sich im obersten Stockwerk ein Atelier eingerichtet und verbrachte dort jede freie Minute.
Tom war so begeistert von ihren Bildern, dass er sofort ein paar mitnahm, um sie in seiner Galerie auszustellen. Bisher blieb der Erfolg zwar aus, was Tom jedoch nicht daran hinderte, weiter an sie zu glauben.
Ihrem Onkel ging es inzwischen wieder etwas besser. Kim hätte also zurück nach Atlantic City gehen können und ihn alleine lassen, doch wozu?
Sie wohnte kostenlos im Haus ihres Onkels und half zum Ausgleich im Haushalt mit. Sie machte Besorgungen, kümmerte sich um das Anwesen und beauftragte Handwerker für anfallende Reparaturen, die sie nicht alleine schaffte. Das alles machte sie jedoch gerne. Sie war gern in der Nähe ihres Onkels, mit dem sie sich von Tag zu Tag besser verstand. Außerdem hatte sie inzwischen Gefallen daran gefunden, Mitglied der Gemeinde zu sein. Noch vor wenigen Monaten hätte sie sich nicht vorstellen können, in einer so kleinen Stadt zu wohnen, in der jeder jeden kannte und über alles Bescheid wusste.
Doch heute liebte sie es, sich in der Mittagspause mit den anderen Angestellten in der Pension zu treffen und den neuesten Tratsch zu erfahren. Sie liebte es, in den Laden um die Ecke zu gehen und sich alles anschreiben lassen zu können, weil der Besitzer genau wusste, wo er sie finden konnte. Sie liebte die wöchentlichen Theaterproben, die morgendlichen Yoga Einheiten mit ihrer Nachbarin und die Aufregung, die in der Stadt herrschte, wenn eines der vielen Feste anstand.
Sie liebte sogar ihren Job an der Rezeption, was zum Großteil an ihren lieben Kollegen lag, zu einem gewissen Teil aber auch an den vielen Fremden, die sie Tag für Tag traf.
Denn auch wenn Kim inzwischen großen Gefallen am Leben in der Kleinstadt gefunden hatte, beunruhigte sie nach wie vor ein Gedanke: Sie kannte jeden Mann in ihrem Alter in dieser Stadt. Und keiner dieser Männer erschien auch nur ansatzweise passend für sie.
Sie hatte es versucht. Oft. Doch nach zehn gescheiterten, ersten Dates mit den Junggesellen dieser Stadt, war sie dazu übergegangen, das Ganze erst einmal auf Eis zu legen. Seitdem hoffte sie darauf, dass ihr Mr. Right irgendwann durch die Eingangstür des Sea Breeze kommen würde und bei ihr eincheckte.