Kapitel 2
Aber auch heute war ihr Mr. Right nicht unter den Neuankömmlingen dabei, weswegen sie ihre Tasche packte und sich bei ihrer Kollegin verabschiedete.
„Und? Was hast du heute noch geplant?“, wollte Sarah wissen.
„Nichts Besonderes. Ich werde mit meinem Onkel zu Abend essen und vielleicht noch etwas an meinem neuen Bild arbeiten“, sagte sie.
„Schade. Kein Date?“, fragte Sarah enttäuscht.
Sarah war seit knapp zwanzig Jahren verheiratet und hatte nie woanders gelebt als in Sea Isle City. Sie war zufrieden und glücklich mit ihren zwei Kindern und dem Ehemann, den sie nach wie vor liebte. Trotzdem hätte ihr Leben etwas mehr Drama vertragen können. Daher hoffte sie, durch Kim irgendwie an dieses Drama zu gelangen.
„Nein, heute nicht“, musste Kim sie ein weiteres Mal enttäuschen.
„Gut, dann genieße deinen Feierabend!“
Kim stieg in ihr Auto und überlegte sich während der kurzen Fahrt, was sie heute kochen konnte. Curry? Gab es Montag schon.
Suppe? Nein. Es war Juli. Viel zu warm …
Spaghetti Bolognese? Das könnte gehen. Da war noch ein Rest Sauce im Gefrierfach.
Als sie gerade darüber nachdachte, ob die Portion noch für zwei Leute reichen würde, wurde ihr plötzlich die Vorfahrt genommen, und sie konnte gerade noch im letzten Moment ausweichen.
„Vollidiot!“, schrie sie den Fahrer des anderen Wagens an. Doch dann sah sie, dass das andere Auto die Kontrolle verlor, in eine Bande fuhr und schließlich im Straßengraben landete.
Schnell hielt sie an, um nach dem Fahrer zu schauen.
„Oh Gott!“, entfuhr es ihr, als sie sah, dass er verletzt war. An seinem Kopf entdeckte sie Blut.
„Hallo? Hören Sie mich? - Augenblick, ich hole Hilfe!“, rief sie und kramte nach ihrem Handy. Doch dann meldete sich der Fahrer plötzlich. Er guckte schmerzverzerrt in Kims Richtung.
„Nein, nein. Nicht nötig. Ich bin nicht verletzt“, brachte er schwerfällig hervor.
Kim roch sofort die starke Alkoholfahne, die von ihm ausging.
„Ich ruhe mich nur kurz aus, dann fahre ich weiter. Rufen Sie nicht die Polizei, bitte!“, flehte er sie an.
Kim schüttelte den Kopf.
„Nein. Ich kann Sie hier unmöglich stehen lassen. Sie kommen mit dem Auto auf keinen Fall noch irgendwo hin.“ Sie deutete auf das verbeulte Metall.
Dann betrachtete sie den Fahrer genauer. Ein Mann Mitte Dreißig. Ziemlich attraktiv. Er trug ein weißes Hemd, auf das allmählich immer mehr von seinem Blut tropfte, sowie eine schwarze Anzughose. Seine dunkelbraunen Haare fielen ihm in die Stirn und waren von Blut verklebt.
„Nein. Es geht wirklich, und bitte, keine Polizei. Hören Sie, ich habe getrunken. Es ist doch nichts passiert. Zumindest Ihnen nicht, oder? Falls Ihr Auto einen Schaden bekommen haben sollte, bezahle ich ihn“, flehte er Kim an.
Kim seufzte. Er hatte Recht. Ihr war nichts passiert. Aber sie konnte ihn unmöglich einfach so liegen lassen und schon gar nicht weiter fahren lassen. Wer weiß, wie der nächste Unfall ausgehen würde?
„Okay. Ich rufe nicht die Polizei. Aber ich lasse Sie heute nicht mehr fahren.“
Sie öffnete die Beifahrertür und schnallte ihn ab. Dann stützte sie ihn und brachte ihn zu ihrem Auto.
„Ich fahre Sie jetzt zu meinem Onkel. Der wird wissen, was zu tun ist“, erklärte sie ihm, als sie ihn auf den Beifahrersitz hievte.
Der Mann protestierte nicht. Er war still und wirkte irgendwie weggetreten.
„Okay“, antwortete er schließlich.
„Alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte Kim unsicher nach, als sie die Türen verschlossen hatte und losfahren wollte.
„Ja. Ich bin nur sehr müde. Wahrscheinlich habe ich deswegen nicht aufgepasst. Naja … und der Alkohol“, erklärte er.
„Verstehe.“
Onkel Peter eilte Kim sofort zu Hilfe, um den Fremden aus dem Auto ins Haus zu bekommen. Er bot ihm das Gästezimmer an, nachdem er erfuhr, dass er nur auf der Durchreise war und eigentlich aus L.A. kam.
„Ich habe auch mal einen Unfall unter Alkoholkonsum verursacht. Ich weiß, wie schlimm die Konsequenzen im Anschluss sein können. Wir werden die Polizei nicht informieren“, versprach er dem Fremden, nachdem Kim noch einmal vorschlug, vielleicht doch lieber Hilfe zu holen.
„Onkel Peter, meinst du nicht doch, dass wir irgendjemandem Bescheid sagen sollen? Oder ihn ins Krankenhaus bringen?“
„Nein. Versorg‘ bitte seine Wunde am Kopf und am Arm. Wir sorgen dafür, dass sein Auto abgeschleppt und repariert wird, und dann soll er wieder fahren. Glaub mir, wem einmal ein Unfall unter Alkoholeinfluss passiert ist, und wer so haarscharf davon kommt, wird nicht noch einmal fahren.“
„Na gut.“
Zwar fühlte sich Kim etwas unwohl bei dem Gedanken, aber sie wollte ihrem Onkel jetzt auch nicht widersprechen. Er würde schon wissen, was das Richtige war.
Sie holte den Verbandskasten aus dem Badezimmer und klopfte an die Tür des Gästezimmers.
„Ja?“, hörte sie den Fremden von innen rufen.
„Hey. Ich habe hier etwas Verbandszeug“, sagte sie und hielt das kleine Köfferchen hoch.
„Super. Das ist sehr nett von Ihnen.“
Der Fremde hatte seine Blutung mit einem Lappen gestoppt, den Kim ihm vorhin im Auto gereicht hatte.
„Das ist langsam echt durch.“
Kim sah das rote Tuch, das zuvor hellgrau gewesen war und holte schnell einen Eimer, in dem er das Tuch entsorgen konnte.
Sie öffnete den Verbandskasten, schnitt Pflaster zurecht und säuberte alles gründlich, bevor sie alles ordentlich anbrachte.
„Vielen Dank!“
Der Fremde lächelte zum ersten Mal und sah Kim einen viel zu langen Moment in die Augen.
Ihr blieb fast das Herz stehen, als sie bemerkte, WIE attraktiv er war. Seine grünen Augen leuchteten förmlich. Sie betrachtete sein schönes, ebenmäßiges Gesicht und den gepflegten Drei-Tage-Bart. Seine dunklen Haare waren leicht durcheinander, was ihn jedoch nicht weniger gutaussehend machte. Er hätte auch einer Rom-Com entsprungen sein können, in der er den gutaussehenden Banker oder einen erfolgreichen Anwalt spielte.
Dann stand er auf und auch Kim bewegte sich vom Bett herunter. Er überragte sie um knapp einen Kopf und musste ungefähr Eins Neunzig gewesen sein.
Es fiel ihr schwer, überhaupt ein Wort heraus zu bringen. Er hatte sie gerade völlig aus dem Konzept gebracht.
„Ich heiße übrigens Bradley“, sagte er schließlich und lächelte sie an.
„Äh…“, stammelte sie und konnte sich plötzlich nicht mehr an ihren eigenen Namen erinnern.
„Und Sie?“, fragte er erwartungsvoll.
Kim überlegte fieberhaft.
„Kim! Ich heiße Kim!“, prustete sie geradezu heraus, als es ihr wieder einfiel.
„Freut mich, Kim. Und sagen Sie Ihrem Onkel, dass ich ihm wirklich sehr dankbar bin.“
Er fing an, die Knöpfe an seinem Hemd aufzuknöpfen. Kims Pulsschlag beschleunigte sich. Wollte er sich jetzt etwa ausziehen? Hatte er etwa auch gemerkt, dass es gerade heftig zwischen den beiden gefunkt hatte? Würde er sie gleich packen, sobald er sein Hemd zur Seite gelegt hatte, um sie heftig zu küssen und aufs Bett zu werfen?
„Hätten Sie vielleicht ein paar Wechselklamotten für mich? Mein Hemd ist voll Blut“, sagte er schließlich und Kim kam wieder zu sich.
„Ja. Klar. Natürlich. Bin sofort wieder da.“
Mit hochrotem Kopf verließ sie das Zimmer. Natürlich wollte er nur das blutverschmierte Hemd loswerden. Was auch sonst? Sie öffnete einen der Wandschränke im Flur, holte ein graues T-Shirt hervor und hoffte, dass es die richtige Größe sein würde.
Als sie zurückkam und Bradley mit freiem Oberkörper da stand, war es endgültig um sie geschehen.
„Oh Gott“, murmelte sie, jedoch etwas zu laut, denn er hatte sie gehört.
„Habe ich am Rücken etwa auch noch eine Verletzung?“, fragte er, und versuchte sich in der verspiegelten Schranktür zu betrachten.
„Nein, nein. Mir ist gerade nur eingefallen, dass…“, stotterte sie und versuchte krampfhaft, sich etwas zu überlegen. „…dass Ihr Auto da noch steht“, fiel ihr auf einmal ein.
„Oh. Ja, stimmt. Darum sollte ich mich wohl bald kümmern. Sonst entdeckt es noch die Polizei. „Könnten Sie vielleicht…?“, fragte er und drehte sich um, nachdem er das Shirt angezogen hatte.
„Was denn?“, fragte Kim und hoffte, dass er sie um etwas bat, das damit zu tun hatte, seinen trainierten Körper zu berühren.
„Könnten Sie vielleicht jemanden kontaktieren? Ich meine, bezüglich meines Autos.“
Und wieder einmal landete Kim auf dem unsanften Boden der Tatsachen.
„Oh ja. Klar. Natürlich. Ich kenne da jemanden. Ich werde ihn sofort anrufen.“
Kim nutzte die Gelegenheit und verließ das Gästezimmer.
Sie atmete zweimal tief durch.
„Bleib ruhig! Da steht gerade nur einer der schönsten Männer, die du je gesehen hast, in deinem Haus. Also keine Panik!“, flüsterte sie sich zu, als sie nach draußen ging, um in ihrem Auto nach der Tasche zu suchen, in der ihr Handy war.
Sie wählte die Nummer von Ricks Arbeits-Handy und erreichte Matt, einen seiner Mitarbeiter.
„Hey Matt. Kannst du mir einen Gefallen tun? Hier ist jemand, der vorhin gegen die Leitplanke gefahren ist. Sein Auto liegt noch im Straßengraben. Kannst du dich darum kümmern?“
„Im Straßengraben? Was ist denn passiert?“
„Er hat wohl die Kontrolle verloren, als er mir die Vorfahrt nahm und ausweichen musste.“
„Mein Gott! Wie konnte das denn überhaupt passieren?“
„Ein, zwei Gläser Wein, oder vielleicht auch mehr…?“, druckste Kim herum. Es brachte nichts, ihn anzulügen. Matt bekam immer alles heraus.
„Und du willst nicht die Polizei rufen?“
„Nein. Er ist jetzt hier bei uns. Mein Onkel hat ihm angeboten, im Gästezimmer zu übernachten.“
„Was? Er verursacht fast einen Unfall, bei dem du hättest draufgehen können und dann lässt ihn dein Onkel bei euch übernachten? Macht er ihm morgen früh auch noch Frühstück, oder was?“
„Nein - Hör zu, du weißt doch, wie sehr es das Leben von meinem Onkel beeinflusst hat, als er damals unter Alkoholeinfluss gefahren ist. Es ist ja nichts Schlimmes passiert und wir wollen Beide nicht, dass das Ganze für ihn schwerwiegende Konsequenzen hat. Kannst du dich also bitte darum kümmern? Ja oder nein?“
Kim wusste, dass Matt ihr keinen Gefallen abschlagen konnte. Er war seit Jahren mit einer ihrer besten Freundinnen aus der Schulzeit verheiratet, und sie hatten schon immer ein gutes Verhältnis zueinander. Sie hörte, wie Matt seufzte.
„Wo steht das Auto?“ Kim nannte ihm die Adresse und legte danach auf. Sie berichtete ihrem Onkel davon und schaute noch ein letztes Mal bei Bradley vorbei, um ihn darüber zu informieren.
Doch den hatten die Ereignisse anscheinend so erschöpft, dass er eingeschlafen war.