Kapitel 3
Als Kim am nächsten Morgen in die Küche kam, saß Bradley bereits am Frühstückstisch.
„Guten Morgen“, sagte er grinsend.
„Guten Morgen“, erwiderte Kim, die sich besonders viel Mühe im Bad gegeben hatte, in der Hoffnung, ihm noch einmal über den Weg zu laufen.
„Ihr Onkel hat mir eben erzählt, dass Sie sich gestern Abend noch darum gekümmert haben, dass mein Auto abgeschleppt wird. Vielen Dank auch!“
„Kein Problem. Wo ist mein Onkel denn?“
„Der musste weg. Wir sind alleine. Wollen Sie sich nicht setzen?“, fragte er und deutete auf den üppig gedeckten Frühstückstisch.
Kim wurde nervös. Aber ihr fiel kein Grund ein, warum sie sein Angebot nicht annehmen sollte.
Sie ließ sich ihm gegenüber nieder und begann, sich ein Brötchen auf den Teller zu laden, es mit Butter und Marmelade zu bestreichen und vorsichtig hineinzubeißen.
„Nun ja, wegen gestern: Ich wollte mich noch einmal dafür entschuldigen, dass ich Sie so sehr in Gefahr gebracht habe. Das ist wirklich nicht meine Art. Ich bin für gewöhnlich ein sehr verantwortungsbewusster Autofahrer, und es kam bisher nie vor, dass ich alkoholisiert gefahren bin. Aber der Tag gestern war die reinste Katastrophe. Ich hatte ein wichtiges Meeting hier in der Nähe, das total schief gelaufen ist. Es könnte mich meine Karriere kosten. Und dann habe ich auch noch erfahren, dass meine Eltern sich scheiden lassen wollen.
Ich weiß nicht, ob Sie das nachvollziehen können, aber meine Eltern sind meine absoluten Vorbilder. In allen Lebensbereichen. Ich kenne kaum ein Paar, das sich gegenseitig so gut tut und sich so perfekt ergänzt. Dass das nun von heute auf morgen nicht mehr so sein soll und beide alleine sind, macht mir zu schaffen“, erklärte er.
Kim hörte aufmerksam zu und nickte zustimmend.
„Das kann ich gut nachvollziehen. Es ist nicht leicht, wenn etwas, das man sein Leben lang gewohnt ist, plötzlich auseinanderbricht“, bekräftigte sie und erinnerte sich an einen Vorfall in ihrer Kindheit.
„Haben Sie auch so etwas erlebt?“
„So ähnlich“, erwiderte Kim, wollte aber nicht näher darauf eingehen.
„Verstehe.“
Sie redeten noch eine Zeitlang weiter. Über das Haus, über die Stadt, über Onkel Peter, bis sie schließlich von einem Anruf unterbrochen wurden. Es war Rick, der sich Bradleys Auto näher angesehen hatte und mit der Reparatur erst beginnen konnte, wenn die Ersatzteile geliefert waren.
„Wie lange wird das denn dauern?“, fragte Kim weiter.
„Vielleicht ein paar Tage. Es ist Wochenende. Da kommt nichts. Wahrscheinlich Mitte nächster Woche. Ich muss dann allerdings auch noch die Zeit finden, um die Teile einzubauen. Da ist gestern Nacht wirklich einiges kaputt gegangen. Wie hat der Typ das bloß geschafft?“, fragte Rick, doch Kim wollte die Frage nicht beantworten. Es genügte, wenn Matt die Story kannte.
„Und es wird teuer werden. Wer bezahlt das?“, wollte er außerdem wissen.
„Die Kosten übernimmt er selbst“, antwortete sie, um Rick zu beruhigen.
„Gut. Mehr muss ich nicht wissen. Sag ihm, dass wir ihm einen Leihwagen zur Verfügung stellen können, falls er mobil sein muss.“
Rick legte auf, und Kim teilte Bradley mit, dass es noch dauern konnte. Sie erwartete, dass er aufgebracht oder verzweifelt sein würde, weil das wahrscheinlich seine Pläne durcheinander brachte. Doch er reagierte gelassen.
„Macht nichts. Es ist meine Schuld. Ich muss nun eben die Konsequenzen tragen. Wenn das heißt, dass ich erstmal nicht nach Hause komme, dann ist es einfach so. Vielleicht ist das auch ganz gut so…“
„Ganz gut so…?“
„Naja, ein paar Tage Auszeit könnten mir auch nicht schaden. Ich weiß nicht, wann ich in den vergangenen Jahren zum letzten Mal Urlaub gemacht habe. Richtig Urlaub, meine ich.“
Kim fing an zu lächeln.
„Da haben Sie sich ja einen idealen Ort ausgesucht, um Schiffbruch zu erleiden“, schmunzelte sie und begann, die Vorzüge von Sea Isle City aufzuzählen.
„Sie kennen sich anscheinend gut aus. Arbeiten Sie in der Tourismusbranche?“, wollte er wissen.
„In gewisser Weise ja. Ich bin die Rezeptionistin vom Sea Breeze-Hotel“, verriet sie grinsend.
„Das Sea Breeze Hotel. Alles klar, werde ich mir merken.“
Es kehrte Stille ein. Bradley kaute geräuschlos auf seinem Brötchen herum, während Kim fieberhaft überlegte, was sie als nächstes sagen sollte. Sie wollte sich unbedingt weiter mit ihm unterhalten, aber was erzählte man einem Fremden eigentlich?
„Wenn Sie mögen, kann ich Sie gerne ein wenig herumführen. Hier im Haus, am Strand oder auch im Ort“, schlug sie schließlich vor.
„Sehr gerne“, erwiderte Bradley freundlich.
Kim fing wieder an zu plappern. Über das Haus und ihren Onkel und über die Zeit, als es eine Pension war, die seinen Eltern und ihren Großeltern gehörte.
„Ich kenne mich ziemlich gut aus. Als Kind habe ich hier für ein paar Jahre gelebt. Damals als …, als mein Dad und ich plötzlich nur mehr zu zweit waren“, sagte sie und wurde plötzlich traurig.
„Was ist passiert?“
„Meine Mutter ist verstorben“, erklärte sie knapp.
„Und darf ich fragen, wie?“
Kim erinnerte sich nicht gerne an den schmerzlichen Tag, als sie zusammen mit dem Nachbarskind im Garten gesessen und ihr Vater einen Anruf aus dem Krankenhaus bekommen hatte.
Sie spürte noch heute die Panik, die in ihm aufstieg, als er den Hörer weggelegt und langsam durch das Wohnzimmer hinaus auf die Terrasse gekommen war.
Sie hielt inne, und Bradley akzeptierte, dass sie nicht mehr weiter darüber reden wollte.
„Zeigen Sie mir doch mal die anderen Räume hier im Haus. Ich bin echt neugierig“, wechselte er das Thema.
Er half Kim, den Tisch abzuräumen und folgte ihr durch den großen Flur ins Wohnzimmer, an das die großzügige Terrasse anschloss.
„Was für eine tolle Aussicht!“, schwärmte Bradley, als Kim die Flügeltüren aufriss und die Vorhänge zur Seite zog.
„Das finde ich auch! Wenn man sich auf das Sofa setzt, kann man direkt auf das Meer blicken“, sagte sie und setzte sich auf das weiche, weiße und mit Leinen bezogene Sofa.
Bradley tat es ihr nach und ließ sich neben sie fallen. Sie zuckte kurz zusammen, als sie seinen Arm an ihrem spürte.
Schnell sprang sie auf, zeigte ihm die Hollywoodschaukel auf der Veranda, den früheren Speisesaal und einen weiteren Aufenthaltsraum, den Onkel Peter inzwischen als Bibliothek nutzte.
Sie gingen die Treppe nach oben, und Kim öffnete die Türen zu weiteren Gästezimmern.
„Wir haben wirklich jede Menge Platz für viele, viele Gestrandete“, scherzte sie und lachte.
Bradley wurde auf eine weitere Treppe aufmerksam, die auf den Dachboden führte.
„Was ist denn dort oben?“
„Da ist mein Atelier“, verkündete Kim stolz.
„Ihr Atelier?“
Kim nickte und nahm die Treppe nach oben. Sie öffnete eine weiße Tür, worauf hin beide in einem großen, von Licht durchfluteten Raum landeten. An den Seiten lehnten mehrere Leinwände und fertig gestellte Bilder. Direkt vor dem großen Fenster, das einen Blick auf das Meer bot, stand Kims Staffelei.
“Das ist ja beeindruckend!“, staunte Bradley und schaute sich aufmerksam um.
„Sie malen also auch?“
„Ja, wann immer es die Zeit zulässt.“
Kim betrachtete Bradley eingehend, während er sich ein Bild nach dem anderen ansah. Sie überlegte.
„Darf ich vielleicht auch Sie malen?“, fragte sie schließlich. „Sie haben ein tolles Profil.“
Grinsend drehte Bradley sich wieder zu ihr.
„Mich malen? Ein Portrait vielleicht?“
„Ja. Ich male zumeist zwar Landschaften oder auch Stillleben. Aber Portraits sind meine geheime Leidenschaft. Vor allem, wenn ich so schöne Modelle habe…“, erklärte sie und zuckte dabei zusammen. Hatte sie gerade tatsächlich vor ihm zugegeben, dass sie ihn attraktiv fand? Bradley aber lächelte nur.
„Gerne können Sie mich malen. Jetzt gleich?“
Vorsichtig nickte Kim.
„Wenn es Ihnen nichts ausmacht und Sie Zeit haben?“
„Klar, ich wüsste nicht, wo ich jetzt dringend hin sollte“, scherzte er.
Kim baute alles auf und ließ Bradley auf einem Stuhl vor dem Fenster Platz nehmen. Das Licht fiel dort besonders gut auf sein Gesicht. Kim war wirklich froh, die Chance zu haben, so ein interessantes und schönes Modell vor sich zu haben.
Sie fing an, ihn zu skizzieren und je öfter sie ihn anguckte, desto mehr fiel ihr auf, wie traurig er wirkte. Immer wieder starrte er grübelnd auf das Meer, schloss seine Augen und versuchte zu lächeln, doch dann fielen seine Mundwinkel wie von selbst wieder ab.
„Es ist wirklich schön hier“, meinte er schließlich und guckte erneut auf das Meer.
„Ich war schon einmal hier. Müsste inzwischen zwanzig Jahre her gewesen sein.“
„Ach ja? Und was haben Sie hier gemacht?“
Doch Bradley antwortete darauf nicht. Stattdessen erwähnte er, wie unglücklich er in L.A. war.
„Diese Stadt ist so oberflächlich. Sind Sie schon mal dort gewesen? Da zählt es nur, wie du aussiehst, wie viel Sport du treibst und wie viel du verdienst. Ich hasse es dort“, erzählte er. Kim war erstaunt über seine plötzliche Offenheit. Bisher hatte er noch nicht allzu viel von sich erzählt. Sie hatte schon einige Stunden mit ihm verbracht, aber bis auf seinen Namen und dass er aus L.A. kam, wusste sie eigentlich noch nichts über ihn.
„Was hat Sie hier her verschlagen?“, bohrte sie nach, doch wieder erhielt sie keine Antwort.
Stattdessen fragte er sie, was damals mit ihrer Mutter passiert war.
Kim legte ihren Pinsel ab und musste tief durchatmen.
„Meine Mutter hatte ein Pferd. Einen wunderschönen, weißen Schimmel. Pearl hieß er. Sie hat es geliebt, mit ihm am Strand reiten zu gehen. Besonders morgens zum Sonnenaufgang. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie sie sich immer aus dem Bett geschlichen hat, um reiten zu gehen.
Eines Tages kam sie nicht von diesem Ausflug zurück. Ich saß im Garten und habe gespielt und meinen Dad gefragt, wann Mom zurückkommt. Er hat mich noch beruhigt und gesagt, dass sie unterwegs wahrscheinlich Freunde getroffen hat und bald wieder zurück sein würde. Doch dann kam ein Anruf. Passanten hatten sie bewusstlos am Strand gefunden. Pearl musste sich vor irgendetwas am Strand oder im Wasser erschreckt haben und ist zurückgewichen. Meine Mom konnte sich nicht mehr halten und ist runtergefallen. Direkt auf einen spitzen Felsen in einer der ruhigen Buchten.
Als der Krankenwagen kam, konnten sie nur noch den Tod feststellen.“
Kim blickte traurig nach draußen. Sie hatte die Geschichte schon so oft erzählt, trotzdem stimmte es sie nach wie vor traurig, wenn sie sich daran zurückerinnerte.
„Oh, das muss schrecklich gewesen sein. Tut mir Leid.“
„Mein Onkel hatte damals diese Pension. Sie bietet sowieso nur Platz für ein paar Gäste und hat nicht so viel Geld abgeworfen wie sein Hauptjob. Er hat meinem Dad daher vorgeschlagen, dass wir zu ihm ziehen und er die Pension aufgeben wird. Er hatte sie ohnehin nur weitergeführt, weil meine Großeltern es so wollten. Aber die waren zu dem Zeitpunkt bereits verstorben.
Wir haben damals in einem kleinen Haus ein paar Meilen von hier entfernt gewohnt. Anfangs war mein Dad dagegen, doch alles hat ihn dort ständig an meine Mom erinnert, und schließlich sind wir umgezogen, was eine wirklich gute Entscheidung war. Man konnte förmlich sehen, wie es meinem Dad mit jedem Monat besser ging. Und auch mir. Ich liebe Sea Isle City und bin froh, hier aufgewachsen zu sein.
Vor ein paar Monaten hatte mein Onkel jedoch einen Schlaganfall und mein Dad hat jemanden gesucht, der sich um ihn kümmern konnte. Ich habe schließlich meinen früheren Job gekündigt und bin hergekommen“, erzählte sie, in der Hoffnung, nun auch ein wenig mehr über ihn zu erfahren.
„Das sind wirklich harte Schicksalsschläge“, stimmte Bradley zu. Kim nickte und hoffte weiterhin, dass er auch etwas über sich Preis geben würde, doch er wechselte schnell das Thema.
„Ich will die Gastfreundschaft Ihres Onkels wirklich nicht überstrapazieren und werde mir daher noch heute eine Pension suchen.“
Verwundert fragte sich Kim, ob sie irgendetwas Falsches gesagt hatte.
„Aber wieso denn? Wir haben doch genügend Zimmer frei“, versuchte sie, ihn umzustimmen.
„Ich will Ihnen nur keinesfalls zur Last fallen.“
„Das tun Sie gewiss nicht.“
Kim wollte noch nicht, dass er ging. Irgendwas faszinierte sie an ihm. Sie wollte ihn zu gern weiter kennen lernen und mehr von ihm erfahren.
„Gut, dann nehme ich das Angebot mit Dank an.“
Er änderte seine Sitzposition, damit Kim weitermalen konnte.