Kapitel 7
Rick und Kim gingen bereits seit Kims Anfangszeit in Sea Isle City regelmäßig ins Kino, wo entweder ein alter Klassiker oder ein neuer Film gezeigt wurde. Es war ihre kleine Tradition, dass sie sich abwechselnd einluden, Unmengen an Popcorn verdrückten und sich danach noch in einem Diner einen Milkshake gönnten, um über den Film zu plaudern.
Kim mochte diese Abende sehr, auch wenn Rick sie anfangs immer als Date verstanden hatte und nach jedem Abend auf einen Abschiedskuss von Kim hoffte.
Doch inzwischen hatte sie ihm klarmachen können, dass das nicht passieren würde. Niemals.
Heute jedoch war Rick ihr gegenüber anders. Er hatte öfter als sonst versucht, sie zu berühren. Er hatte ihr längere Blicke als nötig zugeworfen und darauf bestanden, alles zu bezahlen.
„Aber ich bin dran. Du hast letztes Mal alles bezahlt“, hatte sie mehrmals wiederholt, als er sein Portemonnaie an der Kinokasse und im Diner zücken wollte.
„Ich weiß. Aber heute will ich dich einladen. Du hast so viel durchgemacht in den letzten Tagen. Da wollte ich dir etwas Gutes tun.“
„So viel durchgemacht in den letzten Tagen?“, wiederholte sie verwirrt. „Was habe ich denn durchgemacht?“
„Naja …, die Sache mit Bradley und dem Unfall. Man merkt, dass du völlig durch den Wind bist und dich das Ganze wohl mehr mitgenommen hat, als du zugeben willst.“
Jetzt musste Kim lachen.
„Was ist? War es nicht der Unfall?“
Kim konnte unmöglich vor Rick zugeben, dass sie sich Hals über Kopf in Bradley verknallt hatte und überlegte sich etwas anderes.
„Daran ist nicht der Unfall schuld, auch wenn ich vielleicht so wirke. Das hat andere Gründe...“
„Welche sind das denn?“
Kim druckste herum.
„Es ist … das Leben… Einfach alles. Ich denke momentan viel nach. Unter anderem darüber, wie ich die nächsten Jahre gestalten möchte“, log sie. Sie wusste aber, dass sie ihn damit zum Schweigen bringen konnte, denn Rick war keiner, der gerne über so etwas wie die Zukunft nachdachte. Er lebte von Tag zu Tag, machte sich keine Gedanken über eine mögliche Altersvorsorge, über ein Haus für seine zukünftige Familie oder ähnliches. Er machte in der Werkstatt gerade so viel, dass er seine Rechnungen bezahlen konnte und arbeitete für einen lächerlich geringen Stundenlohn als Surflehrer. Das allerdings eher, um sich an möglichst viele Touristinnen heranmachen zu können und nicht, weil er das Geld zurücklegen wollte.
„Okay, ich verstehe“, erwiderte er daher knapp und ließ das Thema fallen.
„Trotzdem bestehe ich darauf, dass ich dich heute einlade. Du bist dann das nächste Mal dran. Und wenn du Glück hast, auch das übernächste Mal“, scherzte er, wieder gut gelaunt. Eigentlich hatte er sie heute nur eingeladen, weil er unbedingt wollte, dass es wie ein Date wirkte. Dass Bradley aufgetaucht war und er sie zum ersten Mal seit langem mit einem anderen Mann sah, hatte sich eigenartig angefühlt. Zwar hatte er viele andere Frauen, die er auch regelmäßig gegeneinander austauschte, doch die kamen alle nicht an Kim heran. Das war alles nur oberflächlich. Kim wollte er wirklich. Mit ihr konnte er sich mehr vorstellen. Heute hatte er sich von seiner allerbesten Seite gezeigt und trotzdem schien es nichts bei ihr geändert zu haben. Vielleicht musste er ein weiteres Mal mutig sein und ihr noch mal zeigen, was sie ihm bedeutete.
Er brachte sie nach Hause und hielt sie zurück, als sie sich abgeschnallt und die Beifahrertür geöffnet hatte.
„Warte“, bat er und zog sie an der Schulter zu sich.
Er hielt ihr Gesicht mit beiden Händen fest und küsste sie. Kim schubste ihn jedoch sofort von sich.
„Was soll das?“, fuhr sie ihn an. „Ich habe dir doch immer wieder gesagt, dass da nichts zwischen uns laufen wird!“ Sie war richtig wütend.
„Aber wieso denn nicht?“, fragte Rick verzweifelt.
„Ich spüre da einfach nichts. Und ich glaube auch nicht, dass ich jemals mehr als freundschaftliche Gefühle für dich entwickeln werde“, warf sie ihm an den Kopf und merkte sofort, wie sehr ihn das verletzte. Sie blieb daher sitzen und versuchte, sich wieder zu beruhigen.
„Hör mal. Ich mag dich wirklich als Freund. Ich verbringe gerne Zeit mit dir und habe mich auch schon an deine blöden Sprüche gewöhnt. Mir würden die wirklich fehlen, wenn wir uns nicht mehr sehen könnten. Aber für mehr reicht es einfach nicht. Zumindest bei mir“, erklärte sie ihm.
„Alles klar. Das muss ich wohl akzeptieren“, erwiderte Rick und ließ sie schließlich gehen.
Er glaubte ihr nicht ganz. Schließlich hatten sie immer so viel Spaß miteinander und sie willigte jedes Mal ein, wenn er sie fragte, ob sie etwas unternehmen wollen. Es musste einen anderen Grund haben.
Er beobachtete, wie Kim auf das Haus ihres Onkels zusteuerte und auf der Veranda stehen blieb. Sie redete mit jemandem. Sie lachte und wirkte plötzlich ganz anders. Rick versuchte zu erkennen, mit wem sie sich unterhielt und erkannte ihn schließlich: Bradley.
Er musste der Grund sein, warum Kim ihn ein weiteres Mal abblitzen ließ. Da war er sich inzwischen sicher …
„Hey, wieso bist du denn noch wach?“, fragte Kim, als sie Bradley entdeckte, der gedankenverloren in den dunklen Nachthimmel starrte.
„Ach … ich konnte nicht schlafen. Und bevor ich die ganze Zeit an die weiße Zimmerdecke starre, dachte ich, dass es bestimmt spannender ist, wenn ich die Sterne beobachte.“
Kim nickte. Das konnte sie gut verstehen. Wie oft hatte sie sich in den letzten Monaten nachts rausgeschlichen, um dem Meeresrauschen zu lauschen und dabei in den Nachthimmel zu blicken.
Sie setzte sich neben ihn auf eine der Holz-Liegen und guckte ebenfalls nach oben. Es war eine sternklare Nacht, und der Himmel hatte etwas Beruhigendes für sie. All die Anspannung, die sie eben noch wegen Rick gespürt hatte, war verflogen und sie wurde allmählich träge.
„Es hat so etwas Entspannendes, hier zu liegen, in den Sternenhimmel zu gucken und dabei das Meer zu hören“, sagte Bradley schließlich. Wieder nickte Kim.
„Das finde ich auch.“
Wenn sie bisher mit Bradley alleine gewesen war, hatte sie immer darauf gehofft, dass er sich öffnete und ihr von seiner Vergangenheit erzählte. Doch heute war es nicht so. Heute fand sie es einfach nur schön, in seiner Gegenwart zu sein und mit ihm gemeinsam in die Nacht zu blicken.
„Ich war mal für ein paar Monate in Australien. Da ist der Sternenhimmel etwas ganz anderes.“
Kim horchte auf. Passierte es jetzt etwa doch? Erzählte er ihr etwas Persönliches?
„Australien? Was hast du denn dort gemacht?“, fragte sie nach.
„Das Übliche. Herumreisen und zu sich selbst finden. Was viele nach dem Abschluss so machen. Ich habe dort für ein paar Wochen auf einer Farm mit angepackt. Mitten im Outback. Mitten im Nirgendwo. Man hat gearbeitet, so lange es hell war. Wenn die Sonne untergegangen ist, hat man sich in seine kleine Hütte zurückgezogen und ein paar Bier getrunken oder etwas geraucht. Und dann saß man da mit den anderen Kollegen vor der Hütte, mitten im Nirgendwo … Wir haben unzählige Stunden damit verbracht, nur nach oben zu schauen und die Sternschnuppen zu zählen. Das war echt das Beste an diesem Trip. Ich kann dir nicht einmal sagen, wieso. Es hatte immer so etwas Friedliches. Dort war die Welt in Ordnung. Man ist morgens mit dem ersten Hahnenkrähen aufgewacht, hat gearbeitet bis es dunkel wurde und anschließend seinen Feierabend genossen. Am Wochenende hat man zusammen mit der Familie gegrillt oder ist in die Stadt gefahren, um dort in einem Pub etwas zu trinken. Und dann ging die Woche wieder von vorne los. Kein Vergleich zu dem hektischen Leben, das ich jetzt führe.“ Er hielt kurz inne. „Das ich geführt habe“, korrigierte er sich schnell.
Kim hatte Fragen über Fragen. Sie wollte wissen, wieso sein Leben so hektisch ist oder war. Sie wollte wissen, was er machte und warum er es machte. Sie wollte ihn jedoch nicht in seinem Redefluss unterbrechen, also blieb sie still. Er fing an zu seufzen.
„Hach…, das waren tolle Zeiten. Ich habe ziemlich viel Kohle verdient, zumindest für meine Verhältnisse damals, und dann habe ich alles fürs Reisen auf den Kopf gehauen. Ich habe sehr viel erlebt in dieser Zeit. Ich war tauchen mit Delfinen am Great Barrier Reef, habe mich nachts gegen Dingos auf Magnetic Island verteidigt und mir eine der günstigsten Karten für die Opera in Sydney gekauft, wo ich dann sturzbetrunken wieder herausgekommen bin. Es waren wirklich die kleinen Dinge, die mich damals glücklich machten.
Und heute muss es die größte Villa in der Nachbarschaft, das teuerste Auto und der luxuriöseste Urlaub sein. Letztes Jahr war ich auf einer Privatinsel. Kannst du dir das vorstellen? Eine ganze Insel nur für dich! Ein Butler ist jeden Morgen mit seinem Boot zur Insel gekommen und hat dir den Hintern gepudert. Man musste nichts tun, außer faul in der Sonne zu liegen.
Eine Zeitlang glaubte ich wirklich, dass es das wäre. Dass mich das zum glücklichsten Menschen überhaupt macht, wenn ich mir so etwas leisten kann. Trotzdem: Ich habe dort kein einziges Mal so herzlich gelacht wie mit meinen Kollegen auf der Farm in Australien.“ Nun verstummte er.
Kim wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte schon immer ein sehr einfaches Leben geführt. Mit ihrem Dad hatte sie als Kind Urlaub in Florida gemacht, und es war immer ein Highlight, wenn sie dort in einen Freizeitpark gefahren sind. Danach konnte sie sich glücklich schätzen, wenn es überhaupt einmal für zwei Wochen Urlaub am Stück gereicht hatte. Meist war sie dann überhaupt nicht weggefahren. Sie konnte sich auch gar nicht vorstellen, so viel Geld zu haben wie Bradley gerade schilderte.
„Aber - tut mir Leid - Ich erzähle nur von mir…“, sagte er schließlich. „Was ist deine schönste Erinnerung?“
Kim musste jedoch gar nicht lange überlegen. „Die Zeit, in der meine Mutter noch gelebt hat“, antwortete sie, und sofort stiegen ihr Tränen in die Augen. Sie schwieg für einen Moment und erinnerte sich an ihren dritten Geburtstag, den sie nur noch so klar vor Augen hatte, weil ihr Onkel Videoaufnahmen davon aufbewahrt hatte.
„Wir waren alle hier. Mein Vater, meine Mutter und mein Onkel. Sogar meine Großeltern haben noch gelebt. Damals war das Haus hier noch eine Pension und gut besucht. Meine Eltern haben eine kleine Geburtstagsparty ausgerichtet, und wir haben am Strand ein Picknick gemacht. Zwischendurch kamen auch ein paar Nachbarn vorbei, aber mir ging es die ganze Zeit nur darum, dass meine Familie zusammen war. Ich habe eine wunderschöne Puppe geschenkt bekommen, die ich heute noch habe und es gab Erdbeertiramisu. Eine Spezialität von meiner Mutter. Das hat sie immer gemacht, wenn sie irgendwo eingeladen war.“
Kim erinnerte sich wieder an die Videos, die sie so oft schon bei ihrem Onkel gesehen hatte und wurde sentimental. Sie verstummte und Tränen liefen ihr über die Wangen.
Plötzlich spürte sie eine Hand auf ihrer. Verwundert guckte sie Bradley an, der sie aufmunternd anlächelte und schließlich wieder seinen Blick nach oben richtete, um zu den Sternen zu schauen.
Kim tat es ihm gleich. Dann schloss sie die Augen. Sie genoss die Nähe und Wärme, die von Bradleys Hand ausging und das wohlige Gefühl, das er in ihr auslöste, bis sie schließlich einschlief.