Kapitel 8
Als sie am nächsten Morgen mit Hals- und Rückenschmerzen aufwachte und sich verwundert umsah, war Bradley bereits verschwunden. Auch im Haus war er nicht zu finden, und sie beschlich das ungute Gefühl, dass er abgereist war. Nach der letzten Nacht wusste sie schließlich, dass er keine Geldsorgen hatte und eigentlich nicht auf die Reparatur seines Autos warten musste. Er konnte sich einfach ein neues kaufen und musste hier nicht seine Zeit verschwenden. Und vielleicht war das ja am Abend zuvor auch eine Art Abschied für ihn gewesen. Er hatte sich ihr gegenüber geöffnet, hatte etwas Zeit mit ihr verbracht, nur um dann für immer zu gehen.
Niedergeschlagen kehrte Kim zurück in ihr Zimmer und ließ sich aufs Bett fallen.
Sollte es das wirklich gewesen sein? Nach den Momenten auf der Veranda hatte sie tatsächlich gedacht, dass sich zwischen ihnen mehr entwickeln könnte. Sie hatte das Gefühl gehabt, dass es jetzt endlich passieren würde. Dass er sich ihr gegenüber öffnete und merken würde, dass ihre Begegnung mehr Bedeutung hatte als ein paar kostenlose Übernachtungen, während sein Auto in der Werkstatt war.
Kims Blick fiel auf ihren Kalender und plötzlich sprang sie auf. Sie hatte ihrer Kollegin Nelly versprochen, für sie einzuspringen und ihre Schicht zu übernehmen. Schnell machte sie sich fertig und eilte ins Hotel.
Als sie die Gästeliste kontrollierte, stach ihr auf einmal ein Name ins Auge: Bradley! Bradley Johnson. Konnte das sein? War das tatsächlich Bradley?
„Sam? Hast du gesehen, wie der Gast um sechs Uhr morgens ausgesehen hat?“, fragte sie eine ihrer Kolleginnen.
„Um sechs Uhr? Ja, klar. Der kam ohne Ankündigung. Richtig nervig sowas. Kein Zimmer war fertig zu diesem Zeitpunkt, und ich wollte ihn eigentlich schon wieder wegschicken, damit er zu einer vernünftigen Uhrzeit wiederkommt. Aber er sah so kaputt aus. Völlig durch den Wind. Da habe ich Mitleid bekommen und ihm eine der Suiten angeboten. Er sah nämlich recht wohlhabend aus. Schicke Schuhe, teurer Anzug und so. Dem war der Preis wahrscheinlich sowieso egal.“
„Dunkle Haare? Etwa Mitte Dreißig?“
„Richtig. Kennst du ihn etwa?“
Sam war wahrscheinlich die einzige Person in der Stadt, die noch nichts von Bradley gehört hatte. Alle anderen wussten bereits über den gutaussehenden Fremden Bescheid.
„Ja, es ist der Mann, der bei meinem Onkel im Haus gewohnt hat.“
„Tatsächlich? Und da musste er so plötzlich weg? Wieso das denn?“
Kim zuckte mit den Schultern. Eigentlich hatte sie das Gefühl, dass er sich gestern noch recht wohl bei ihr gefühlt hatte. Warum er dann so plötzlich abgereist war, konnte sie sich nicht erklären. Aber sie war froh, dass er sich zumindest dieses Hotel ausgesucht hatte und sie ihn weiterhin sehen konnte.
Und tatsächlich. Nur wenige Stunden später tauchte Bradley an der Rezeption auf. Er wirkte frisch und erholt und lächelte sie an.
„Hey, guten Morgen!“, sagte sie und war ehrlich erfreut, ihn zu sehen.
„Guten Morgen“, erwiderte er.
„Wieso bist du denn so plötzlich gefahren?“, wollte sie wissen.
„Deswegen möchte ich mich bei dir entschuldigen. Ich bin kurz eingenickt und habe noch versucht, dich so sanft wie möglich zu wecken, damit du nicht auf der Veranda schlafen musst. Die Holz-Liegen waren zum Schlafen nämlich recht unbequem. Du hast aber so fest und friedlich geschlafen, dass ich es einfach nicht übers Herz bringen konnte, dich auf eine andere Weise zu wecken und bin schließlich in mein Zimmer gegangen. Aber kaum lag ich in meinem Bett, war ich plötzlich hellwach. Ich habe daraufhin meine Sachen gepackt und mich davongeschlichen. Ich hoffte, wenigstens hier noch ein paar Stunden Schlaf zu bekommen. Das hat dann auch geklappt. Ich habe geschlafen wie ein Murmeltier“, erklärte er zufrieden.
„Das freut mich. Die Betten in den Suiten sind auch besonders bequem“, erwiderte Kim freundlich.
„Stimmt, und auch das Zimmer mit dem tollen Ausblick ist sehr schön. Das Frühstück durfte ich heute Morgen auch schon genießen. Also…, nichts gegen deine Pancakes und das frische Brot deines Onkels, aber das hier… ist einfach besser. Sorry“, sagte er und guckte Kim entschuldigend an.
„So fluffig wie Tim, unser Chefkoch, bekomme ich die Pancakes leider immer noch nicht hin. Ich frage ihn zwar immer wieder nach Tipps, aber ich glaube, er hat da noch eine Geheimzutat, die er mir nicht verraten will.“
Die beiden plauderten noch ein wenig, bis Bradley ihr von seinen Plänen für den heutigen Tag erzählte. Er hatte vor, sich ein Boot zu mieten und fragte Kim schließlich, ob sie mitkommen wolle.
Überwältigt von diesem Angebot, sagte sie sofort zu. „Ich muss zwar noch bis mittags hierbleiben, aber dann habe ich Zeit.“
„Wunderbar. Dann kümmere ich mich um die Snacks.“
Kims Laune hatte sich nach dem Gespräch mit Bradley sofort gebessert. Sie konnte es kaum erwarten, gleich mit ihm rauszufahren und den freien Nachmittag mit ihm zu verbringen.
Vielleicht hatte er ja doch gemerkt, dass etwas zwischen ihnen war und wollte auf diesem Wege herausfinden, was es war?
Nach der Arbeit flitzte Kim schnell nach Hause, um sich umzuziehen und klopfte schließlich an Bradleys Tür, um ihm Bescheid zu geben, dass sie fertig war. Als er sie in ihrem hellblauen Sommerkleid sah, war er für einen Moment sprachlos.
„Wow! Du siehst … fantastisch aus“, kommentierte er ihr Kleid, das an der Taille etwas enger war und genau die richtigen Stellen ihres Körpers betonte.
„Danke“, erwiderte sie grinsend und hakte sich bei ihm unter, um gemeinsam zum Hafen zu spazieren. Er hatte einen Picknickkorb besorgt, der prall gefüllt war. Baguette mit Dips, Weintrauben, Erdbeeren, Wein und Schokolade. Darüber hinaus zwei Flaschen von Kims Lieblingslimonade.
Sie fuhren über das Wasser, genossen den Fahrtwind und die herrliche Aussicht und hielten schließlich an einem einsamen Strand an.
Bradley hatte sogar an eine Decke gedacht, die er im warmen Sand ausbreitete und darauf den Picknickkorb drapierte.
„Du hast ja tatsächlich an alles gedacht“, sagte Kim beeindruckt, als Bradley sogar noch einen Sonnenschirm hervorkramte.
„Ich hatte ja auch lange genug Zeit.“
Grinsend ließ er sich neben Kim auf der Decke fallen und öffnete die Flasche Wein, die er mitgebracht hatte. Er schenkte sich und Kim ein und stieß mit ihr an.
„Auf Sea Isle City“, sagte er glücklich.
„Auf Sea Isle City.“
Beide nahmen einen großen Schluck und machten sich anschließend über das Essen her.
Mit vollgeschlagenen Bäuchen legten sie sich hin und blickten schweigend auf das Wasser.
„Es ist wirklich ein schöner Ort hier“, meinte Bradley schließlich und schaute Kim dabei an.
Ihre Blicke trafen sich, und nun kam ihr alles vor wie in Zeitlupe. Mit seinen Händen stützte sich Bradley am Boden ab und beugte sich zu Kim hinüber. Sein Gesicht kam ganz langsam näher. Sie nahm seinen Geruch wahr. Sein Aftershave und den Duft seines Shampoos. Er kam noch näher. Sie sah die braunen Flecken in seinen grünen Augen. Konnte die feinen Härchen seiner Augenbrauen auf seiner Nase erkennen und die langen, dichten Wimpern.
Und dann spürte sie seine weichen Lippen auf ihren. Sie küssten sich innig, und für einen Moment vergaß sie alles um sich herum. Sie vergaß, dass sie heute Morgen verwirrt aufgewacht war und Bradley nicht mehr da war. Sie vergaß, dass er, wann immer sie ihn nach etwas aus der Vergangenheit fragte, auswich und das Thema wechselte. Aber als er ihre Lippen berührte, wusste sie, dass sie zusammengehörten…
Atemlos lösten sich beide nach einem langen, tiefen Kuss wieder voneinander. Bradley hielt Kims Gesicht in seinen Händen und fing an zu grinsen.
„Das war schön“, sagte er, woraufhin Kim eifrig nickte.
Sie ließ sich in seine Arme fallen, und beide blieben eng umschlungen auf der Decke liegen, bis sie von einer Gruppe Teenager überrascht wurden, die am Strand ebenfalls ein Picknick machen wollten.
Sie hatten Lautsprecherboxen dabei, welche die Ruhe mit einem Mal zerstörten.
„Möchtest du, dass wir woanders hingehen?“, fragte Bradley.
Kim wollte sich nicht aus seiner Umarmung lösen. Andererseits wollte sie mit ihm alleine sein, weswegen sie schließlich zustimmte.
Sie fuhren mit dem Boot wieder hinaus und hielten schließlich vor einer kleinen Bucht, wo Bradley den Motor abstellte und den Anker auswarf.
„Sieht doch ganz nett aus hier“, sagte er und deutete auf das kristallklare Wasser unter ihnen.
„Ja, es ist wirklich wunderschön.“
Sie breiteten die Decke nun auf dem Deck aus und ließen sich dort nieder.
Wieder zog Bradley sie in seine Arme und fing an zu erzählen. Über sich und seine Vergangenheit.
„Ich war schon einmal hier. Vor langer Zeit. Eigentlich ist es so lange her, dass ich mich gar nicht mehr daran erinnern dürfte, aber irgendwie spüre ich es. Es fühlt sich einfach an wie mein Zuhause“, begann er und Kim guckte ihn verwirrt an.
„Ich wurde als Baby adoptiert. Meine leibliche Mutter war gerade einmal sechzehn Jahre alt, als sie mit mir schwanger wurde. Ich habe absolut nicht in ihr Leben gepasst. Daher hat sie mich zur Adoption freigegeben und Eltern für mich ausgesucht. Beide sind bereits über Vierzig gewesen, als sie sich kennenlernten und dementsprechend war es schwierig gewesen, auf natürlichem Weg noch ein Kind zu bekommen. Aber meine leibliche Mutter hat wohl gespürt, dass sie die Richtigen für mich sind. So war es dann auch. Ich hatte eine tolle Kindheit und Jugend. Sie haben mir alle Chancen gegeben, die ich gebraucht habe, um später ein erfolgreiches Leben führen zu können, und ich weiß, dass sie die besten Eltern sind, die ich mir hätte wünschen können. Aber irgendetwas hat mir immer gefehlt. Meine Eltern sind sehr wohlhabend und dementsprechend bin ich auch aufgewachsen. Doch meine leibliche Mutter kommt aus Sea Isle City und ist Tochter eines gewöhnlichen Angestellten gewesen. Sie hatten nicht viel Geld und haben ein einfaches Leben geführt. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass das auch für mich das Richtige gewesen wäre.
Denk nun aber bitte nicht, dass ich mich irgendwie beschweren möchte. Ich bin meinen Eltern wirklich dankbar, dass sie mir das alles ermöglicht haben, aber manchmal glaube ich, dass ich mit weniger Geld glücklicher gewesen wäre. Da steckt so viel Druck dahinter, wenn man die allerbeste Bildung genießt, die das Land zu bieten hat. Da muss man Ergebnisse und Erfolge liefern, und irgendwann bricht das alles über einem zusammen.
Als du mich damals betrunken aus meinem Auto geholt hast, war das eigentlich kein Unfall. Ich wollte mir absichtlich das Leben nehmen“, gestand er und schloss die Augen. Er konnte und wollte nicht sehen, wie Kim darauf reagierte. Sie war natürlich geschockt und entsetzt.
Er hatte versucht, sich umzubringen?
„Aber… warum denn das?“, war das Einzige, was sie hervorbrachte.
„Weil…, weil mir alles einfach zu viel wurde“, stammelte er.
Kim wusste nicht, was sie sagen sollte. Was wurde ihm zu viel? Das Geld? Der Erfolg? Die liebenden Eltern, die sich so gut um ihn gekümmert hatten?
Dann nahm Bradley plötzlich ihre Hand in seine.
„Ich kann dir aber versichern, dass es inzwischen nicht mehr so ist. Ich bin froh, dass du mich gefunden und gerettet hast. Es war wie ein Neuanfang, als ich am nächsten Morgen im Haus deines Onkels aufgewacht bin und auf das Meer geblickt habe. Hier fühle ich mich angenommen. Als ob ein Teil meines Körpers schon immer hier sein wollte und an einem anderen Ort der Welt nicht glücklich werden konnte“, erklärte er.
„Ich habe mir in den letzten Tagen viele Gedanken gemacht. Ich glaube nicht, dass ich noch einmal zurück nach L.A. gehen und dort mein altes Leben fortführen werde.“
Kim spürte, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann. Wollte er damit etwa sagen, dass er hier bleiben wollte. Bei ihr?
„Du willst also dableiben?“
Er nickte und drückte ihre Hand.
„Ja, das würde ich sehr gerne.“
Sie fuhren wieder zurück und verabschiedeten sich mit einem langen Kuss.
Kim spürte tausend Schmetterlinge in ihrem Bauch, als sie die Treppen hoch ins Haus ging, war gleichzeitig aber auch völlig verwirrt. Wieso hatte er versucht, sich umzubringen? Warum wollte er nicht mehr zurück nach L.A. gehen? Was genau war passiert? Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass ein gestandener Mann wie er, beschlossen hatte, sein Leben zu beenden, nur weil er dem Druck nicht mehr standhalten konnte. Da musste doch mehr dahinter stecken.