Leseprobe aus “Christmas Dreaming”
Kapitel 1
Geister der Vergangenheit
Der dunkelblaue Passat raste die lange Straße durch den Wald und der Mondschein erhellte gespenstisch die Gesichter der Anwesenden. Ein Schatten lag auf dem Gesicht des Fahrers, der angestrengt versuchte, trotz des lauten Geschreis des Kindes hinter ihm, sich auf die Straße zu konzentrieren. Das Kind, sieben Jahre alt, schrie unterdessen weiter und sorgte für Stressfalten auf der Stirn der Mutter, die vorne neben dem Vater saß und vergeblich versuchte, es zu beruhigen.
Ihre langen, schwarzen Haare hingen wirr über ihre Schultern, während sie krampfhaft versuchte, sich von der angespannten Situation nicht beeinflussen zu lassen.
,,Mach etwas, damit sie endlich aufhört!“, schrie der Mann und zeigte entnervt auf seine Tochter, die mittlerweile Krokodilstränen vergoss und keine Anstalten machte, ruhiger zu werden.
„Ich versuche es ja!“, stieß die Frau hervor, ohne ihre Wut über die letzte Äußerung zu verbergen.
„Mein Gott, dann lass mich das machen!“, entgegnete der Vater, ehe er nach hinten griff, um dem Mädchen übers Knie zu streichen und sie zu beruhigen. Ein Moment der Unaufmerksamkeit, ein Moment der Unkonzentriertheit, und der Vater bemerkte die Kurve, die sich ihnen entgegenbot, zu spät. Die Mutter sah das kommende Unglück zuerst und schrie, packte den Vater am Arm und zeigte mit offenem Mund auf die Straße vor ihnen. Doch es war zu spät. Während der Ehemann noch versuchte, das Unheil abzuwenden, indem er mit voller Kraft auf die Bremse trat, kamen die Bäume am Wegesrand immer näher, wurden immer größer und zogen das kleine Auto mit seinen Insassen wie einen Magneten an. Schützend legte der Ehemann noch den Arm vors Gesicht seiner Frau, die panisch ihre Tochter anblickte. Tränen der Verzweiflung liefen ihr übers Gesicht, als das Auto an einer großen Fichte zerschellte und die Geräusche im Inneren verstummten.
,,Neiinnnnn“, schrie Mara und schreckte aus dem Schlaf hoch. Ein paar echte Tränen bahnten sich den Weg über ihre Wangen hinunter und verliefen in ihrem blauen T-Shirt, als sie verschlafen blinzelte und dann tief durchatmete. Du bist nicht schuld, redete Mara sich ein und unterdrückte ein leises Schluchzen. Ihre braunen, eigentlich lockigen Haare klebten verschwitzt an ihrem Nacken und sogar, als sie irgendwann mit etwas wackeligen Beinen aufstand, verfolgte sie noch immer der Traum in ihren Gedanken. Ein Traum ihrer lebhaften Erinnerung. Eine Erinnerung an den Tag, an dem ihre Eltern starben. Wohl eher der Tag, an dem ich meine Eltern umgebracht habe!, schoss es Mara durch den Kopf, doch sie versuchte krampfhaft, den Gedanken daran zu unterdrücken. Und so stand sie in ihrem Zimmer, das nur spärlich eingerichtet war und fast ausschließlich aus weißen Möbeln bestand, die das von der Seite einfallende Licht reflektierten und atmete gleichmäßig. Wie beiläufig strich sie mit ihrem Zeigefinger über die lange Narbe, die ihren Hals oberhalb des Schlüsselbeins zierte. Die Haut hob sich mittlerweile kaum noch von der Benachbarten ab, aber für Mara war sie wie ein stetiger Begleiter, eine immerwährende Erinnerung an die Nacht, die sie zum Waisenkind machte.
,,Hast du etwa geschlafen? Dafür ist doch die Nacht da und nicht der Tag…! “. Die energische Stimme ihrer Oma, die plötzlich im Zimmer stand, holte Mara aus den Gedanken. In ihrer Hand hielt Charlotte eine kleine Torte mit Schokoladenguss. Darauf brannten zwei Kerzen, die angenehmes Licht verbreiteten.
,,Alles Gute zu deinem achtundzwanzigsten Geburtstag, meine Süße!“, brachte sie im gleichen Atemzug hervor und umarmte Mara, die nur langsam die Situation begriff, mit ihrem freien Arm.
,,Ach, ich habe ja Geburtstag!“, platzte Mara hervor und lachte, als sie die brennenden Kerzen ausblies und ihre Oma genauer anguckte. Sie trug eine schwarze Hose und eine rosa Bluse, dazu passend ein rosa Halstuch, das ihren dünnen Hals verdeckte. Die Bluse hing schlaff an dem zierlichen Körper von Oma Charlotte, während die Hose vermutlich maßgeschneidert war. Mara konnte sich ein leises Seufzen nicht verkneifen, hatte ihre Oma doch schon immer auf das „gewisse Etwas“ geachtet, wie sie selbst sagte. Obwohl sie in der Nachkriegszeit aufwuchs, war Bescheidenheit für Charlotte ein Fremdwort und so gab sie ihre Rente am liebsten für Kleidung und Schmuck aus.
,,Danke, Oma“, sagte Mara freundlich, was die alte Frau mit einem müden Lächeln ihrerseits und einem Nicken quittierte.
„Wenn du nun schon hier wohnst, muss ich dir ja wohl wenigstens einen Kuchen kaufen“, bemerkte Charlotte nebenbei. Mara, die bis dahin an die gute Absicht ihrer Oma geglaubt hatte, traf der Kommentar ohne Vorwarnung und für wenige Sekunden war sie verletzt, ehe sie eine Locke hinters Ohr strich und mit einem Schulterzucken reagierte. Die ständigen Sticheleien, weil sie ihren Job verloren und wieder in das Haus von Charlotte Haus ziehen musste, machten ihr mittlerweile weniger aus und sie versuchte, kaum noch darauf zu reagieren.
„Warum zuckst du nur desinteressiert mit den Schultern?“, fragte die alte Frau und ihre grünen Augen flammten dabei erbost auf.
„Was erwartest du denn von mir? Ich will mich ungern an meinem Geburtstag streiten und habe deinen Standpunkt auch schon vor drei Jahren verstanden, als ich hier wieder einziehen musste. Du siehst doch, dass ich mich ständig überall bewerbe. Ich weiß wirklich nicht, was du von mir hören willst ...“, erwiderte Mara genervt und winkte eine weitere Bemerkung ihrer Oma ab, ehe die Diskussion zu einem Streit entfachen konnte. Und so öffnete sie nur die Tür und hielt sie der alten Dame auf. Entsetzt kam diese jedoch Maras Bitte nach und verschwand aus ihrem Zimmer, hinterließ aber eine penetrante Parfümspur, die Mara nicht einordnen konnte. Theatralisch hielt sie sich die Hand vor die Nase, dann atmete sie in einem Stoß aus und stellte mit einem Blick auf die Uhr erschrocken fest, dass es bereits sechzehn Uhr war und sie nur noch eine Stunde hatte, um zu duschen und sich fertig zu machen, ehe ihre Freundinnen Lilly und Susa kamen, um mit ihr zum Berliner Oktoberfest zu gehen. Der Gedanke daran ließ Mara lächeln und sie freute sich auf den Abend mit den Frauen, die sie bereits vor wenigen Jahren während ihres Marketing-Studiums kennengelernt hatte. Mara beeilte sich und schlüpfte in dem Moment in ihr blau-rotes Dirndl, als es klingelte und sie eilig das Zimmer verließ, um ihre Freunde freudestrahlend zu begrüßen.
- Ende der Leseprobe -