150367.jpg

Edith und Annie waren bereits in der Küche, als Hanny für ihre Verhältnisse ziemlich spät, nämlich um acht Uhr, mit der noch schläfrigen Nancy und dem soeben vor der Haustür eingesammelten Geschenk Nummer einundzwanzig im Schlepptau aufkreuzte.

Annie saß am Tisch, trank zur Abwechslung mal Kaffee und butterte sich eine Scheibe Toast. Edith pulte mit einem Messer im Toaster herum.

»Du bist also doch geblieben«, stellte Hanny fest. Sie hatte am Vorabend massiven Druck gemacht, dass man nach Alkoholgenuss nicht Auto fahren sollte, kaum dass Annie den Cocktailshaker aus dem Schrank geholt hatte.

»Nein. Ich bin kurz nach Hause gefahren, nur um dich zu ärgern, und bin dann nach fünf Minuten in denselben Klamotten wiedergekommen«, entgegnete Edith sarkastisch und schaute an sich herunter.

Sie war noch in demselben Aufzug wie am Vorabend. Weil ihre Sachen völlig durchnässt waren, hatte Edith sich ein paar Sachen von Hanny geliehen. Etwas Passendes zu finden war eine Herausforderung gewesen, und letztendlich musste sie sich für eine Jogginghose entscheiden, die ihr bis zur Hälfte der Waden reichte, und für Hannys schlabbrigstes Sweatshirt. Sie sah aus wie Angela Merkel beim Versuch, in einem Skatepark nicht aufzufallen.

Äußerst besorgniserregend. Waren die beiden überhaupt im Bett gewesen?

»Und? Was steht heute auf dem Programm?« Annie sah mit zusammengekniffenen Augen auf die Schachtel in Hannys Händen.

»Die Kronjuwelen?« Annie grinste.

»Vielleicht so was wie eine Entschuldigung«, schlug Hanny vor.

Sofort richtete Annie den Blick auf sie und zog die Augenbrauen hoch.

»Eine Entschuldigung? Und wofür genau?«

»Dafür, dass er gestern früh Diebesgut vor meiner Haustür deponiert hat.«

»Vielleicht dachte er, er könnte mit einer kriminellen Handlung eine andere ausgleichen«, sinnierte Annie. Stirnrunzelnd sahen Hanny und Edith sie an.

»Na ja«, erklärte Annie. »Emma hat ihm mit krimineller Energie einen Kuss abgeluchst, und dafür hat er kriminelle Energie entwickelt und ein Gemälde für dich geklaut.«

»Abgeluchst?« Hanny wiederholte das Wort mit einem gewissen Spott in der Stimme.

»Ja, abgeluchst. Sie hat ihm einen winzigen Kuss abgeluchst und ein Riesendrama draus gemacht.«

»Abgeluchst?« Hanny konnte es immer noch nicht fassen. »Also, weißt du, Oma. Was erzählst du denn da für einen Quatsch? Ganz gleich, wie du es drehst und wendest und aus welchem Winkel du es beleuchtest, Tatsache ist doch, dass zu einem Kuss immer zwei gehören.«

»Jetzt erzählst du aber Quatsch. Oder meinst du etwa auch, Edith hat den Klappspaten gebeten, sie mit dem BH zu würgen? Das war ein Akt der Gewalt, der ihr aufgezwungen wurde. Auch ein Kuss kann einem schon mal aufgezwungen werden, meine Liebe.«

»Hör auf, Oma ...«

»Wieso? Weil ich die Wahrheit sage? Ich gehe jede Wette ein, dass es zu achtzig Prozent ihre Initiative war, vielleicht sogar mehr ...«

»Jetzt redest du schon genau wie Oliver!«

»Was für ein Oliver?«

»Der Klappspaten.« Hanny musste lächeln, als sie an den Vorabend mit Eddie dachte.

»Der Klappspaten?«

»Der Klappspaten, dem du gestern mit dem Schaufensterpuppenarm eins übergezogen hast.«

»Ach, der Klappspaten. Na ja, aber wenn er dasselbe sagt wie ich, kann er ja nicht komplett verblödet sein. Vielleicht hätte ich doch nicht so hart zuschlagen sollen ...« Annie drückte ihre Zigarette auf einer Scheibe Toast aus, als Hanny ihr mit einem strafenden Blick zu verstehen gab, dass Rauchen in der Küche nicht erwünscht war.

»Glaub mir. Er ist ein Klappspaten. Durch und durch.«

Demonstrativ nahm sie die ausgedrückte Kippe vom misshandelten Toast und beförderte sie in die Außenmülltonne, wobei sie die Tür offen ließ, um Zigarettenqualm hinaus- und frische, kalte Luft hereinzulassen.

»Hanny hat recht«, sagte Edith, »stell dich bloß nicht auf eine Stufe mit dem Kerl. Der ist der größte Scheißkerl unter der Sonne.«

»Und er hat versucht, dich mit einem BH zu erwürgen«, fügte Hanny hinzu, als sie wieder reinkam.

Die drei Frauen sahen einander kurz schweigend an, dann prusteten sie los vor Lachen.

Das Gelächter ging weiter, nachdem Hanny Geschenk Nummer einundzwanzig ausgepackt hatte: eine DVD.

Fight Club.

Auf dem Cover waren Brad Pitts und Ed Nortons Gesichter auf wundersame digitale Weise mit Ediths und Annies Gesichtern ausgetauscht worden. Annie war der rauchende Brad Pitt. Edith hatte einen BH auf dem Kopf.

Mit einem trockenen Lächeln reichte Hanny die Schachtel ihrer Großmutter.

»Dann hat er wohl davon gehört.«

»Und er fand es lustig. Was sagt uns das?«

»Keine Ahnung. Sag’s mir.«

»Also, wenn er Gefühle für sie hätte – meinst du nicht, dass er dann ein bisschen sauer darüber wäre, dass Edith versucht hat, sie abzumurksen?«

Da hatte Annie nicht ganz unrecht, das musste Hanny zugeben.

Annie glotzte immer noch auf das DVD-Cover.

»Clever«, sagte sie und nickte. »Er hat schon immer einen guten Sinn für Humor gehabt.«

»Ich weiß.«

Er hatte einen großartigen Sinn für Humor.

Aber was noch viel besser war: Er hatte Hannys etwas schrägen Sinn für Humor auch immer verstanden. Er wusste, was sie meinte, wenn die meisten anderen gar nichts blickten. Ein einziger Blickwechsel konnte sie beide zu hysterischem Lachen veranlassen – und keiner wusste, was los war. Keiner sonst bekam mit, weshalb sie den Mund so verzog, während er wusste, dass sie sich innerlich ausschüttete vor Lachen.

»Er muss dir doch fehlen.« Annie sagte das wie nebenbei, beobachtete aber sehr genau Hannys Miene.

Hannys Blick schoss zu ihrer Großmutter.

Die wartete darauf, einen Anpfiff zu bekommen, doch Hanny nickte.

»Ja. Ja, er fehlt mir.«

»Und warum hast du Midge dann angelogen und behauptet, du hättest dich mit ihm getroffen?«

Hanny verstummte.

Statt zu antworten, stand sie auf, nahm eine halb leere Flasche Wermut vom Tisch und warf sie mit einer geschmeidigen Bewegung aus dem Handgelenk in den Abfalleimer.

»Du trinkst zu viel, Oma. Das ist nicht gut für dich.« Und damit verließ sie die Küche. Nur um Sekunden später zurückzukehren und mit den Worten »Und die hier sind noch schlimmer!« Annies Zigaretten zu schnappen, die Schachtel zu zerdrücken, auf den Boden zu werfen, ein paarmal darauf herumzutrampeln und schließlich mit einem Nicken und einem zufriedenen »Hmpf!« in Annies Richtung wieder hinauszurauschen.

Edith saß mit offener Kinnlade da, und Annie blinzelte wie eine Eule, die soeben dem Licht von tausend Sonnen ausgesetzt worden war.

Sie brauchten beide eine Weile, um sich von dem Schrecken zu erholen. Als sie so weit waren, reichten hochgezogene Augenbrauen aus, um sich zu verständigen. Annie nickte, ging zum Kühlschrank, befreite einen Zettel mit einer Telefonnummer von seiner magnetischen Gefangenschaft, nahm das Telefon zur Hand und wählte.

»Hallo? Könnte ich bitte mit Joe sprechen?«

»Hallo, Joe, mein Lieber! Hier ist Annie. Ich kann mich täuschen, aber ich glaube wirklich, dass hinter dieser ganzen Sache mehr steckt, als wir vermuten ...«

Beim Abendessen war Hanny wie ausgewechselt, als hätte der Streit am Morgen nie stattgefunden. Edith war inzwischen nach Hause gegangen, und Annie hatte Abendessen gemacht: Shepherd’s Pie.

»Ach, übrigens, dein Freund hat auch angerufen«, erwähnte Annie ganz nebenbei, während sie es sich schmecken ließen.

»Welcher Freund?«

»Na, dieser Joe.«

»Du meinst Jai?«

»Ja, genau. Joe.«

»Jai, Oma.«

»Sag ich doch. Joe.«

»Okay.« Hanny musste lächeln. »Hat Joe gesagt, was er wollte?«

»Ja. Du sollst ihn zurückrufen.«

»Prima, Oma. Tausend Dank.«

Hanny rief ihn gleich nach dem Essen an, man sagte Hanny, er sei noch in einer Besprechung, er werde zurückrufen.

Bis dahin war sie gespannt wie ein Flitzebogen. Nicht, dass es etwas Ungewöhnliches war, dass Jai sie anrief, das tat er ja ständig, aber normalerweise lief das nach einem ganz bestimmten Muster ab. Er rief sie nämlich zum Beispiel nie aus dem Büro an, weil sie da nicht ungestört reden konnten. Und sie telefonierten, um ausführlich zu reden. Es war das bereits beschriebene Drei-Gänge-Menü.

Dieses Mal allerdings verstieß er gegen jede Regel und fing gleich mit dem Espresso an.

»Hanny, ich weiß ja, dass du erst am Vierundzwanzigsten mit mir rechnest, aber ich wollte fragen, ob ich vielleicht schon etwas früher kommen könnte?«

»Klar kannst du früher kommen, was für eine Frage, Jai!? Ich freu mich! Wann denn genau?«

»Morgen.«

Hanny hätte gerne das Telefon fallen lassen, damit sie vor Freude in die Hände klatschen konnte.

»Nichts dagegen?«

»Dagegen? Du wirst Leben retten! Meine Oma treibt mich zum Wahnsinn, ich bin kurz davor, sie zu erwürgen!«

»Ach, eine Sache noch ...«

»Hm?«

»Dürfte ich einen Freund mitbringen?«

»Einen Freund?«, wiederholte Hanny ehrfürchtig, als hätte er gerade gefragt, ob er den Messias, Mahatma Ghandi oder Martin Luther King mitbringen dürfte.

»Einen Freund«, wiederholte Jai, und Hanny konnte durch die Telefonleitung hindurch spüren, wie er in fünfhundert Kilometern Entfernung lächelte.