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An diesem Morgen wartete sie bereits auf ihn. Hinter dem Vorhang versteckt, sah sie nach draußen, seltsam entschlossen, sich heute seinem Anblick auszusetzen.

Auch wenn sie das eigentlich gar nicht wollte. Und es gleichzeitig mehr wollte als alles andere. Und es doch wieder nicht wollte. Die schwankenden Gefühle verursachten ihr Übelkeit – ja, ihr war richtig schlecht.

Jetzt würde er bestimmt gleich kommen. Ihre Füße waren Eisblöcke, und ihr Herz raste mit einer gefühlten Frequenz von hundert Schlägen pro Sekunde.

Dann hörte sie ein Auto in der Auffahrt. Es hielt, die Autotür wurde geöffnet und geschlossen, und Sekunden später tauchte er neben der Hecke auf.

Er machte ein so geheimnisvolles Gesicht, dass sie unter normalen Umständen darüber hätte lachen müssen. Doch sie war wie versteinert und unfähig, sich zu rühren.

Er ging den kleinen Weg auf das Haus zu, stellte das Päckchen vor der Tür ab, klopfte an und lief dann, so schnell er konnte, weg und verschwand hinter der Hecke aus Hannys Blickfeld.

Wenige Augenblicke später sah er hoffnungsvoll über die Hecke. Er wartete. Und wartete. Dann sank er enttäuscht in sich zusammen.

Hanny hörte, wie er verschwand.

Autotür auf, Autotür zu, Motor an, Gas geben, Reifen rollen.

Weg.

Hanny wandte den Blick vom Fenster ab, lehnte sich gegen die Wand und ließ die Luft aus den Lungen entweichen.

Sie schloss die Augen. Gerade hatte sie ihn zum ersten Mal seit jenem Abend gesehen. Natürlich hatte sie vorher überlegt, wie es ihr damit wohl gehen würde, aber auf das, was da jetzt mit ihr passierte, war sie nicht vorbereitet gewesen.

Ihr Magen fühlte sich an wie ein voll besetzter Aufzug, dessen Seile reißen und dessen Passagiere panisch kreischen, während er nach unten rast.

Mit dem Rücken an der Wand rutschte sie zu Boden. Er hatte schmaler ausgesehen, blasser, mit dunklen Ringen unter den Augen und einem verkniffenen Zug um den schönen Mund. Beim Friseur war er offenbar auch nicht gewesen in der Zwischenzeit. All das hatte sie in den wenigen Sekunden wahrgenommen, und das, obwohl es draußen noch nicht einmal richtig hell war.

Nun war sie völlig alle, fühlte sich schlaff wie ein Luftballon mehrere Tage nach einer Party. Sie konnte unmöglich hinuntergehen, um nachzusehen, was er ihr heute gebracht hatte.

Lieber wollte sie ein bisschen arbeiten, um die Sorgen zu vergessen. Mit Aquarellfarben, Gouache und Kreide konnte sie sich noch immer Erleichterung verschaffen.

Im Schlafanzug ging Hanny hinunter in ihr Atelier. Außer Hannys Staffelei und dem Hocker, auf den sie sich jetzt setzte, standen keine Möbel in dem Raum. Bis auf die obligatorischen Regale natürlich, die im ganzen Haus zu finden waren und mit Büchern, CDs, Arbeitsmaterial und mit Kunstobjekten, Gemälden oder Drucken ihrer Lieblingskünstler gefüllt waren.

Ein Kritiker hatte einmal geschrieben, Hannys Illustrationen vereinten den Charme eines Atwell, die Eleganz eines Lepape sowie die Prägnanz eines Brâncusi und würden durch die Farben Kandinskys zum Leben erweckt. Hanny war ein bescheidener Mensch und hoffte nur, dass all das heißen sollte, dass sie gute Arbeit leistete.

Jai wusste, dass man sie für brillant hielt. Sie könnte doppelt so viele, nein, drei oder gar viermal so viele Aufträge haben, wenn sie wollte. Die Hingabe, mit der sie sich jedem Projekt widmete, die Sorgfalt bis ins kleinste Detail, die Qualität der abgelieferten Arbeit und ihre unkomplizierte Art machten sie für Autoren und Verleger gleichermaßen zu einer beliebten und nachgefragten Illustratorin. Gleichzeitig sorgte sie selbst dafür, ihren eigenen Markt nicht zu übersättigen, indem sie nie mehr als zwei Buchprojekte pro Jahr annahm.

Für Hanny war das Illustrieren ein Lebenselixier. Sie brauchte es wie das Atmen, ohne konnte sie nicht leben. Es war für sie das reine Glück.

Aber heute konnte sie sich nicht konzentrieren. In den letzten vier Tagen hatte sie den Radiergummi so oft gebraucht wie in den letzten vier Jahren nicht mehr.

Seufzend legte sie den Stift ab, rollte auf dem Hocker zurück, weg von der Staffelei und der fehlerhaften Zeichnung. Sie betrachtete die Auslese an Radiergummis – ein weiterer von Hannys Sammlerspleens – im Regal und überlegte, welchen von ihnen sie nehmen sollte. Vielleicht den, der aussah wie ein Bethmännchen? Kaum hatte sie »Bethmännchen« gedacht, schoss ihr der Gedanke an »Frühstück« durch den Kopf.

Der Hunger war eine seltsam unberechenbare Größe, wenn es einem emotional schlecht ging. Entweder war er ein piepsendes Mäuschen oder ein brüllendes Monster, dazwischen gab es offenbar nichts. Vor zehn Sekunden noch hätte sie keinen Bissen herunterbekommen, und jetzt hatte sie das Gefühl, seit Wochen nichts gegessen zu haben und selbst von einem ganzen Brotlaib und einem Pfund Butter nicht satt werden zu können.

Auf dem Weg in die Küche konnte sich es sich einfach nicht verkneifen, die Haustür zu öffnen. Als sie es sah, begann ihre Unterlippe zu beben. Vergessen war der rumorende Magen.

Eine Weile stand sie einfach nur da und sah es sich an.

Genau wie gestern und vorgestern.

Eingepackt in dasselbe Goldpapier, gebunden mit dem gleichen Chiffonband.

An dem Band hing eine Karte. Schon bevor sie hinsah, wusste sie, dass die Zahl Vier darauf stehen würde.

Was heute wohl drin war?

Was kam nach Blumen, Pralinen und Parfum?

Schmuck vielleicht, wenn er sich an die üblichen Klischees hielt, die Schachtel war jedenfalls klein genug.

Aber Bastian und Schmuck – nein, das konnte nicht sein. Während all der Jahre, die sie zusammen waren, hatte er ihr keinen gekauft.

Generell war Schenken nicht gerade seine Stärke, er befürchtete immer, ihr ja doch nur das Falsche auszusuchen. Lieber schenkte er ihr Gutscheine oder gemeinsame Ausflüge. Im Gegensatz zu Hanny, die gerne zu Hause blieb, liebte Bastian das Reisen. Und er hatte es tatsächlich geschafft, ihr beizubringen, dass es seinen ganz eigenen Reiz hatte, wegzufahren und dann wiederzukommen. Aber das beste Geschenk in ihrer gemeinsamen Zeit war Sid gewesen. Sie hatte ihn sich selbst ausgesucht.

Auf einmal packte Hanny wieder traurige Verzweiflung.

Wenn Sid doch noch da wäre. Mit ihm war alles irgendwie erträglicher gewesen. Manchmal ging Hanny durch den Kopf, ob sie Sid wohl mehr vermisste als Bastian, aber das hing sicher damit zusammen, dass sie wusste, dass sie Sid nie wiedersehen würde. Jedenfalls nicht in diesem Leben. Wogegen Bastian, so wie es aussah, schon morgen wiederkommen würde. Und übermorgen. Und überübermorgen und immer so weiter, bis zum vierundzwanzigsten Dezember.

Bis dahin waren es noch drei Wochen.

Sie hatten dieses Jahr so viel vorgehabt.

Seltsamerweise fiel ihr erst jetzt das schöne Wetter auf.

Von Hannys Cottage hatte man einen phantastischen Blick über die verschneite kornische Landschaft, durch die sich eine von niedrigen Hecken flankierte, schmale Straße schlängelte. Hinter den landwirtschaftlich genutzten, sich ins Tal erstreckenden Feldern erhoben sich immer neue Hügel, gefolgt von einem weiteren Streifen Land und schließlich dem Meer. Manchmal, wenn es nachts vollkommen still war, konnte sie es hören, das sanfte Murmeln der Wellen. Jetzt gerade war der Blick so schön, dass es sich perfekt als Postkartenmotiv geeignet hätte. Oder vielleicht besser als Weihnachtskartenmotiv. Sogar ein Rotkehlchen saß auf dem gemauerten Torpfosten, neigte den Kopf zur Seite und sah sie aus schwarzen Knopfaugen forschend an. Mit seinen kleinen Füßen hinterließ es gabelähnliche Spuren im Schnee.

Früher hatte es in Cornwall nur selten Schnee gegeben.

Bis vor etwa drei Jahren hatte es, soweit Hanny sich erinnern konnte, nur immer etwa alle zwölf Jahre mal geschneit. Dann aber reichlich, und sie und Midge hatten sich seinerzeit wie die Kinder darüber gefreut. Mit Fäustlingen und Pudelmützen ausgerüstet, hatten sie sich vor dem Haus, in dem sie gemeinsam wohnten, eine Schneeballschlacht geliefert.

Und dann, vor drei Jahren, hatte es auf einmal angefangen, im angeblich wärmsten Landesteil Englands jeden Winter zu schneien.

Im ersten Jahr war es einfach nur klasse gewesen.

Bastian liebte Schnee.

Er hatte Hanny geweckt, bevor es hell war, und sie mit nach draußen geschleppt, um einen gigantischen Schneemann zu bauen. Den ganzen Vormittag waren sie auf zu Rodelschlitten umfunktionierten Tabletts die Hügel hinuntergeschlittert, auf der Hälfte der Strecke stecken geblieben und den Rest lachend heruntergekullert.

Am Abend war alles wieder weg gewesen.

Bastian hatte Glühwein gemacht. Mit dampfenden Bechern in den behandschuhten Händen standen sie in der Abendsonne auf der Terrasse und sahen dabei zu, wie der mühsam geformte Schneemann Pfützen bildete und schmolz.

Und als so gut wie nichts mehr von ihm übrig war, zog Bastian sie an sich, schob seine immer noch behandschuhte Hand unter ihre Kleidung und küsste sie. Hanny war dahingeschmolzen wie der Schneemann, wobei der zu allem Überfluss von Sid angepinkelt wurde, was den Schmelzvorgang rapide beschleunigte.

Sid.

Ach, Sid.

Auch Sid liebte den Schnee, er tanzte immer mit den Schneeflocken um die Wette. Und wenn ein Hund tanzte, dann war er doch restlos glücklich.

Oder? Na ja, vielleicht hatte er auch nur verdammt kalte Pfoten.

Da fiel Hanny auf, dass ihre nackten Füße schon fast genauso blau waren wie der Himmel. Ihre Zehen glichen gefrorenen Garnelen. Schnell schnappte sie sich das Geschenk und ging ins Haus.

Dieses Mal öffnete sie es gleich. Und es handelte sich keineswegs um Schmuck. Sondern um eine kleine, durchsichtige Plastiktüte voller Radiergummis ...