Drei

Ich will nicht, dass der Inter Services Intelligence seine Nase in meine Angelegenheiten steckt“, murrt der 2. OIC, als er mich vom Büro des Kommandanten zurück in meine Zelle führt. Amen, Sir, Amen, möchte ich sagen. Doch ein Blick auf ihn, und ich beschließe, den Mund zu halten. Er scheint in nachdenklicher Stimmung zu sein. Jeder Besuch im Büro des Kommandanten zehrt an den letzten Resten seines Ehrgeizes. Einen Moment lang tut er mir leid. Wegen seiner geduckten Haltung. Ich würde ihm gerne den Bauch tätscheln, der die Knöpfe seiner Uniform zu sprengen droht. Und die abgelaufenen Absätze seiner Schuhe reparieren.

Im Strategie-Unterricht hatten wir Die Kunst des Krieges durchgenommen, und einige Bruchstücke aus Sunzis Text sind mir noch ziemlich frisch im Gedächtnis. Heißt es da nicht: Wenn dein Feind die Tür offen lässt, zögere nicht und stürme hinein?

„Ich stimme Ihnen zu, Sir. Es wäre eine Blamage für die Akademie, wenn man den ISI hinzuziehen müsste“, sage ich in sehr besorgtem Ton.

„Und wer zum Teufel ist verantwortlich für diese Blamage? Wer kooperiert denn nicht bei der Befragung?“ Er hält mir die Ermittlungsakte vors Gesicht.

„Ich schwöre bei Gott, Sir …“, sage ich und verstumme, weil er mir in die Augen sieht, eine Kehrtwendung macht und statt zurück zur Zelle mit mir in Richtung Moschee marschiert. Die Falcons Road, die zur Moschee führt, schmilzt unter meinen Stiefeln. Meine Mitkadetten bilden entweder gerade ihren Charakter oder sind an die Sitze von Cockpit-Simulatoren geschnallt, um Notlandungen zu üben. Und ich werde in Allahs Wohnstatt abgeführt. Es ist nicht einmal Gebetszeit. Außerdem ist der 2. OIC nicht der Gebetstyp. Ich bin selbst nicht gottesfürchtig, aber da der Kommandant alle fünf Gebete für obligatorisch erklärt hat und einen Gebetsappell eingerichtet hat, habe ich Ihm schon ein paar Besuche abgestattet.

Obaid war mehrere Tage sehr fromm gewesen, hatte mir sogar ein Buch mit dem Titel Gesundheit, Wohlstand und Weisheit durch Beten aus der Bibliothek besorgt und zunehmend seine Freizeit in der Moschee verbracht. Seine Inbrunst endete an dem Tag, als ein diensthabender Kadett ihn dabei ertappte, wie er zwischen den Gebeten Yoga machte. Gerade hatte er noch im Lotossitz gesessen, Daumen und Zeigefinger aneinandergelegt auf den Knien ruhend, und versucht, seine Kundalini zu wecken, wurde aber im nächsten Moment schon beschuldigt, hinduistische Andachten in einer Moschee abzuhalten. Noch einmal davongekommen war er nur, weil ich dem Kadetten gedroht hatte, ihn nie wieder zu unseren Videoabenden einzuladen.

Ich kann mir nicht vorstellen, was der 2. OIC in der Moschee für seine Akte zu finden hofft.

Es sei denn, Allah erklärt sich freiwillig bereit, gegen mich auszusagen.

Die Moschee war ursprünglich eine alte Kaserne, die in eine Gebetshalle mit niedriger Decke und einem Sperrholzminarett umgewandelt wurde. Sie ist als vorübergehende Einrichtung gedacht. Ein Modell für Allahs neues Heim steht in einem Glaskasten am Eingang. Es hat eine grüne Kuppel mit goldenen Streifen, vier Minarette und kleine Plastikfiguren, die in ihrem Hof beten.

An der Tür zur Moschee machen wir Halt. Der 2. OIC setzt sich, um seine Schuhe auszuziehen. Ich bleibe stehen, unsicher, was von mir erwartet wird.

„Sie kommen mit mir hinein, Unteroffizier“, sagt er.

„Meine Kleidung ist nicht sauber, Sir.“ Ich leiere die gleiche Halbwahrheit herunter, mit der ich mich seit Monaten vor dem obligatorischen Beten drücke.

„Keine Sorge, wir müssen nur reden.“

Negative g-Kraft durchzuckt meinen Magen. Sunzi lehrt Methoden, den Gegner zu überraschen, aber er schreibt nicht, wie sich dieser dabei fühlt.

Abgesehen von ein paar Kadetten in weißen Shalvar Kamiz und Gebetskappen, allem Anschein nach in ein angeregtes Kartenspiel vertieft, ist die Moschee um diese Zeit leer. Ich kann ihre Gesichter nicht erkennen, aber an ihrer Kleidung sehe ich, dass sie die jüngsten Opfer des andauernden Wäschestärkekriegs sind. Unser Kommandant will, dass alle doppelt gestärkte Uniformen tragen, sogar im Juni, was regelmäßig zu Hautausschlägen und hässlichen Infektionen führt. Vor der Krankenstation stehen stets lange Schlangen von breitbeinigen Kadetten, bemüht, die messerscharfen Falten ihrer Hosen von ihren Beinen fernzuhalten, während sie versuchen, sich an den unmöglichsten Stellen zu kratzen. Die Sanitätsstaffel beurteilt die Stärke als Gesundheitsrisiko und hat mit der Maßnahme beim Ausbruch einer Epidemie zurückgeschlagen. Wer wegen seiner gestärkten Uniform unter einer Erkrankung der Haut leidet, erhält ein Attest mit der Anweisung „keine gestärkten Uniformen“. Der Kommandant gestattet jedoch keine ungestärkten Uniformen im Dienst, aber er kann den Erkrankten auch nicht erlauben, in ihrer Stube zu bleiben. Er hat daher angeordnet, dass sie sich tagsüber in der Moschee aufhalten.

„Soll das jetzt eine Strafe oder eine Belohnung sein?“, pflegte Obaid zu fragen. Der einzige eindeutige Gewinner in diesem Wettstreit zwischen der medizinischen Abteilung und unserem Kommandanten ist Gott. In diesen Tagen suchen mehr Gläubige die Moschee auf als je zuvor.

Als unsere Jungs in Weiß sehen, dass sich der 2. OIC nähert, raffen sie überstürzt ihre Karten und Münzen zusammen und verwandeln sich von einer Bande Rupien-Zocker in gottesfürchtige junge Männer. Der 2. OIC wirft ihnen einen anerkennenden Blick zu, als erhielten sie in seinen und in Allahs Augen allein schon durch ein vorgetäuschtes Gebet die Absolution. Ich kapiere immer noch nicht, worum es geht, auch als er mir in der Haupthalle aus den Buchständern an der Wand einen Koran reicht und mir in die Augen sieht. Ich warte auf seinen nächsten Befehl.

„Jetzt legen Sie Ihre rechte Hand auf den Koran und sagen, dass Sie nicht wissen, warum Obaid sich unerlaubt von der Truppe entfernt hat. Schwören Sie bei Allah, dass Sie keine Kenntnis von seinem Verbleib haben.“

Wären wir nicht in der Moschee gewesen, hätte ich ihm gesagt, was er mich kann.

„Ich kann nicht schwören, Sir, nicht auf den Koran.“

„Demnach wissen Sie also Bescheid“, sagt er. „Und gestehen mit Ihrer Weigerung Ihre Schuld ein? Schauen Sie, nur Sie und ich und unser Allah sind hier.“ Er legt seine eigene Rechte auf den Koran. „Sagen Sie mir die Wahrheit, und ich schwöre, dass ich Sie aus diesem Schlamassel raushole.“

„Ich musste meinem Vater versprechen, niemals auf den Koran zu schwören, auch wenn ich die Wahrheit sage. Ganz besonders nicht, wenn ich die Wahrheit sage“, erkläre ich müde. Meine Finger fühlen sich taub an auf dem Samteinband des Koran.

„Ihr Vater hat in seinem ganzen Leben nie gebetet.“

„Das stimmt, Sir, aber er war ein sehr spiritueller Mensch. Er achtete den Heiligen Koran und zog ihn nie in weltliche Angelegenheiten hinein“, sage ich, während ich mich frage, wie es Colonel Shigri gefallen hätte, als spiritueller Mensch beschrieben zu werden.

Der Colonel hatte eine hektische spirituelle Phase durchgemacht, in der er seine Whiskysitzungen aufgab und stattdessen die Nächte damit verbrachte, im Koran zu lesen. Und er hatte mir wirklich verboten, jemals auf das Heilige Buch zu schwören. Doch sein Ausflug in die Spiritualität dauerte nicht lange genug, um zu klären, ob es sich – mit seinen eigenen Worten – um einen „Wandel oder nur eine Abwechslung“ handelte. An dem Morgen, als man ihn an seinem eigenen Bettlaken am Ventilator erhängt auffand, lag sein Koran aufgeschlagen auf dem Schreibtisch in seinem Arbeitzimmer.

Deckenventilator.

Bettlaken.

Aus den Höhlen hervorquellende Augen.

Der Colonel wog eine verdammte Tonne. Was war mit den physikalischen Gesetzen?

„Manche Menschen bestehen darauf, sich ihr eigenes Grab zu schaufeln.“ Der 2. OIC nimmt mir den Koran aus der Hand und legt ihn zurück auf den Ständer.

„Ich weiß es wirklich nicht, Sir, aber das heißt ja nicht, dass ich Ihnen nicht helfen könnte, es herauszufinden“, sage ich in dem verzweifelten Versuch, ein eigenes Überraschungselement ins Spiel zu bringen.

„Verd …“, hebt er an, bevor ihm einfällt, dass er in einer Moschee ist.

„Raus mit euch und vor der Moschee antreten!“, schreit er die Stärkeopfer an.

„Ich weiß nicht, warum der Kommandant den ISI hinzuziehen will“, sage ich. „Wie Sie wissen, Sir, ist Obaid mein Freund, und ich will ebenso sehr wie Sie herausfinden, wieso und wohin er verschwunden ist“, sage ich und stampfe über alles hinweg, was Sunzi einen angehenden Krieger lehrt.

„Halten Sie die Klappe!“, bellt er. „Ich bin an Ihren Gefühlen nicht interessiert.“

Er tritt ins Freie und nimmt sich die Kadetten in Weiß vor.

„Ihr macht das Haus Gottes zu einer verdammten Spielhölle …“

Ein Gutes haben Besuche in der Moschee. Sie vermögen sogar hartgesottene Sünder wie mich zu beruhigen. Alles liegt nun in Seiner Hand, wie Colonel Shigri in seiner religiösen Phase zu sagen pflegte.

Die zweite Nacht in der Zelle, und ich fühle mich schon ganz wie zu Hause. Das Abendessen wird serviert. Ich stecke dem Erstsemester einen Fünf-Rupien-Schein zu und mache mich über Hühnchencurry, Reis und Gurkensalat her. Als ich fertig bin, ist der Kadett auch schon mit einer Flasche Cola und zwei Gold-Leaf-Zigaretten zurück. Ich leere die Flasche in zwei langen Zügen und stecke mir eine Gold Leaf an. Die andere hebe ich mir für später auf.

„Haben Sie irgendwelche Zeitschriften hier?“, frage ich den diensthabenden Kadetten.

Er verschwindet und kommt mit einem ein Jahr alten Reader’s Digest zurück. Ich hatte auf etwas weniger Intellektuelles gehofft. Allerdings geht es natürlich auch nicht, dass Gefangene ihre eigenen Unterhaltungsmedien auswählen. Der Kadett vom Dienst bringt mein Essenstablett weg und vergisst, mir die Streichhölzer abzunehmen. Dieser Trottel wird sicher eines Tages vor dem Kriegsgericht enden.

Ich drücke die Gold Leaf aus, lege Schuhe, Gürtel und Hemd ab und richte mich für die Nacht ein. Als Erstes lese ich Humor in Uniform. Nichts besonders Lustiges dabei. Die einzige abgebildete Frau findet sich in einer schwarzweißen Fotoreportage über Nancy und Ronald Reagan mit der Überschrift Als sie jung waren. Ihr Gesicht sah schon mit achtundzwanzig aus wie der Hintern einer alten Katze. Die Zensoren der Akademie haben ganze Arbeit geleistet, indem sie ihre inexistenten Brüste mit schwarzem Filzstift übermalt haben. Selbst in schweren Zeiten wie diesen überspringe ich die Fotos und beginne eine gekürzte Fassung der BBC-Dokumentation Flucht aus Colditz zu lesen.

Zwischendurch unterbreche ich, um meine Situation mit der von Leutnant Anthony Rolt zu vergleichen. Ganz offensichtlich bin ich schlechter dran. Selbst wenn ich aus der verdammten Schaumgummimatratze und ein paar Streichhölzern einen Drachen baue, fehlt mir jede Möglichkeit zum Absprung.

In der Hoffnung auf Inspiration überfliege ich die letzten Seiten. In Wie das Leben so spielt steht eine fünfzeilige Anekdote über eine gewisse Sherry Sullivan, die mit einem Overall bekleidet ihr Auto wusch und von einem Nachbarn für ihren Mann gehalten wurde. Der Name löst etwas in mir aus, und plötzlich erheben sich meine Armeen. Ich meide das Loch in der Matratze. Diese Löcher sind wie Landstraßen-Huren, schmutzig und ausgeleiert.

Meine Begegnung mit Sherry Sullivan endet in einem derart heftigen Ausbruch von Leidenschaft, dass ich die zweite Gold Leaf vergesse, in einen wonnigen Schlaf falle und in Technicolor träume, wie mir der 2. OIC die Stiefel putzt, der Kommandant meinen Säbel mit der Zungenspitze poliert und Anthony Rolts Drachen sicher auf dem Trafalgar Square landet.

Der Morgen ist sogar noch herrlicher. Ich werde von einem Hauch Old Spice geweckt. Loot Bannon steht in der Tür. „Aufgewacht, lieber Insasse.“

Es gibt ungefähr eintausendundfünfzig Fragen, die ich ihm stellen muss. Aber seine Stimmung ist zu aufgeräumt.

„Hübsche Matratze hast du da“, sagt er.

„Sie ist nicht so übel, wie sie aussieht“, sage ich. „Hast du schon einen neuen Kommandeur für den Silent Drill gefunden?“ Er übergeht meinen Versuch, sarkastisch zu sein. Ich stecke mir meine zweite Gold Leaf an.

„Wie ich sehe, ist dein Nachschub gesichert.“ Jetzt ist er an der Reihe, witzig zu sein.

„Hat Obaid dir was gesagt?“, frage ich. Die Sachlichkeit meiner Stimme überrascht mich selbst. Eine Gold Leaf auf nüchternen Magen verwandelt mich in einen abgehobenen Denker.

Ich weiß, wie sie Obaid und mich hinter unserem Rücken nennen: Fort-Bragg-Schlampen.

Nur weil wir mit Bannon befreundet sind. Obwohl Bannon bloß ein Ausbilder aus Fort Bragg ist – nur ein Leutnant –, steht er in der Nahrungskette der Akademie irgendwo zwischen einem Hai und einem Leoparden.

„Baby O ist abgehauen“, sagt er, als wäre das eine verdammte Neuigkeit.

Ich nehme einen langen letzten Zug von der Zigarette, inhaliere dabei den Rauch des schwelenden Filters und muss husten.

„Ich treffe El Comandante heute Nachmittag wegen meines Programms. Bis dahin müsste ich ein paar Spitzeninfos für dich haben.“ Er ist plötzlich der kühle Yankee.

„Und übrigens: Der Kommandant möchte, dass du deine Arbeit mit dem Silent-Drill-Team fortsetzt“, sagt er.

Erleichtert beschließe ich, bei der Philosophie zu bleiben.

„Weißt du, was Sunzi gesagt hat? Lerne zu warten, und du hast die Hälfte der Schlacht schon gewonnen.“

„Hat das alte Schlitzauge das wirklich gesagt?“

„Wenn er eine Nacht in dieser Zelle mit Reader’s Digest als Wichsvorlage verbracht hätte, wäre er ganz sicher zu diesem Schluss gelangt.“

Als ich die Stufen vom Wachlokal hinuntergehe und die Welt betrachte, wie es nur ein Gefangener auf Bewährung kann, erkenne ich die Grenzen meiner Freiheit. Ein Militärpolizist in mittlerem Alter mit einem uralten Gewehr, einer Enfield 303, erwartet mich.

„Ich habe Befehl, Sie unter strikter Bewachung zu halten“, sagt er.

Ich hätte damit rechnen können, dass sie mich nicht frei herumlaufen lassen würden. Die einzige Überraschung ist, dass Bannon praktischerweise vergessen hat, mir etwas davon zu sagen. Bannons Gedächtnis hat mehr Löcher als eine zu oft benutzte Short-Range-Zielscheibe.

Mal sehen, wie schnell mein Aufpasser rennen kann.

Es ist noch genug Zeit, um pünktlich auf dem Exerzierplatz zu sein. Ich könnte wahrscheinlich im Trauermarsch in meine Kaserne gehen, gemütlich ein Bad nehmen und immer noch rechtzeitig kommen, doch ich verspüre einen plötzlichen Energieschub und falle in Laufschritt. Mein Bewacher und seine 303 bemühen sich verzweifelt, mitzuhalten. Die Morgenbrise heißt mich willkommen und ich fliege dahin. Der Abstand zwischen mir und meinem Bewacher vergrößert sich. Eine Kompanie neuer Rekruten marschiert vorbei und salutiert in Lautstärke 5 mit der Begeisterung jener, die ein neues Leben beginnen. „Frisch ans Werk, Jungs. Euer Land braucht euch“, rufe ich zurück.

Ich stoße einen Pfiff in Richtung eines Krähenpaares aus, das auf einem Telefonmast schnäbelt. Der alte Wäscher, der mit unserer Wäsche auf einem Eselskarren vorüberzockelt, schreckt bei meinem lauten Gruß aus seinem Schlummer hoch. „Morgen, Onkel Starchy, sei vorsichtig mit dem weißen Zeug!“

Die Jungs aus meiner Staffel haben sich bereits zur morgendlichen Uniforminspektion aufgestellt. Sechsundachtzig gähnende Gesichter schauen, als wären sie einem Gespenst begegnet, als sie mich so früh am Morgen rennen sehen. Sie nehmen Habachtstellung ein wie quietschende Räder eines Flugzeugs, das zu lange auf der Rollbahn gestanden hat.

Ich trete vor sie und fange an, auf der Stelle zu hüpfen.

„Los! Aufwachen!“, rufe ich. „Einen Tag bin ich nicht da, und schon habe ich einen Haufen Memmen vor mir. Wo ist der Geist der Fury-Staffel geblieben?“

Ohne weiteren Befehl schließen sie sich an, zuerst zaghaft, dann passen sie sich meinem Rhythmus an, bis alle auf der Stelle zu laufen beginnen. Ich schreite die Reihen ab, halte vor den Kadetten meine Hand jeweils in Brusthöhe, damit sie sie mit ihren Knien berühren.

Sie freuen sich, dass ich wieder da bin.

Die Blödmänner, als ob sie eine Wahl hätten.

Mein Wächter steht am Rand, außer Atem vom Rennen und voller Verblüffung über den begeisterten Empfang seines Gefangenen.

„Rechts um, marsch, marsch!“, kommandiere ich. „Bis gleich auf dem Platz, Jungs.“

Ich renne auf meine Stube zu, ohne mich nach dem Polizisten umzudrehen. Ich will sehen, ob er so duldsam ist, wie er aussieht. Wovon genau soll er mich eigentlich abhalten?

Er folgt mir. Der arme Irre folgt mir den ganzen Weg bis auf die Stube. Inzwischen wirkt er ziemlich alarmiert. Ich öffne meinen Spind und werfe dabei einen unauffälligen Seitenblick auf Obaids Bett. Ein frisches weißes Laken ist über die graue Decke gespannt. Wieder denke ich an die trauernde Hinduwitwe. Ich hole tief Luft und sondiere meinen Spind. Vor mir liegt geordnet und gestapelt mein ganzes Leben. Uniformhemden links, Hosen rechts, meine goldenen Unteroffiziersschulterklappen im rechten Winkel zur Schirmmütze, Zahnbürste in einer Linie mit der Zahnpastatube, die Rasiercreme auf ihrer Kappe stehend, parallel zum Rasierpinsel; alle Exponate meines täglichen Lebens sind entsprechend den Richtlinien der Spindvorschrift angeordnet. Ich öffne die Schublade, um zu überprüfen, was ich schon weiß. Sie wurde durchsucht. Ich nehme meinen Säbel, der an der Innenseite der Spindtür hängt, in Augenschein. Ein grüner Seidenfaden von der Quaste am Griff ist wie zufällig um den oberen Teil der Scheide gewunden; genauso wie ich es hinterlassen hatte. Ich überlege, ob ich zu Obaids Bett hinübergehen soll. Auch der Blick meines Wächters ist auf das Bett gerichtet. Ich beginne mich auszuziehen.

Meine Hände bewegen sich an meinem Hemd hinunter; während ich es aufknöpfe, gehe ich rasch meine Möglichkeiten durch. Ohne mich umzuschauen, werfe ich mir das Hemd über die Schulter und ziehe mein Unterhemd aus der Hose. Der Wächter scharrt mit den Füßen, seine Finger betasten die uralte Mündung seines Gewehrs. Der Trottel hat nicht vor, sich zu bewegen. Ich wende mich ihm zu und öffne mit einem Ruck den Reißverschluss meiner Hose. Dann gehe ich auf ihn zu, während ich mit den Fingern den Bund meiner Unterhose herunterziehe.

„Na, Onkel 303, wollen Sie das wirklich sehen?“

Verlegen flüchtet er rückwärts aus dem Raum.

Ich verriegle die Tür und stürze mich auf Obaids Bett. Es hat keinen Sinn, in den Nachttisch zu schauen. Sie haben alles mitgenommen. Ich drehe die Matratze herum. Offensichtlich haben sie nicht daran gedacht, dass es außer dem obligatorischen Loch noch andere Verstecke in der Matratze geben könnte. An der Seite ist ein Reißverschluss, ich öffne ihn, fahre mit der Hand unter dem Bezug hin und her und untersuche die tote schwammartige Oberfläche des Schaumgummis. Ich ertaste eine Öffnung und gleite mit der Hand in den Schaumtunnel. Meine Finger berühren ein glattes Stück Seide, und ich ziehe es hervor.

Obaids Taschentuch mit Rosenmuster. Es duftet nach Poison und Obaid, und eine fünfstellige Zahl steht darauf. In Obaids elegant geschwungener Handschrift.

Als ob man mich auch nur in die Nähe eines Telefons lassen würde. Der einzige Apparat, auf dem man nach draußen telefonieren kann, befindet sich auf der Krankenstation. Und gerade klopft mein Bewacher ungeduldig an die Tür.

Obaid war zwei Tage nach Ausbildungsbeginn eingetroffen und behielt das Auftreten eines Menschen bei, der im Leben immer einen Schritt hinterherhinkt. Als ich ihn das erste Mal sah, trug er gefälschte Levi’s, ein Paar sehr glänzende Oxfordschuhe und ein schwarzes Seidenhemd mit dem Logo „Avanti“ auf der Brusttasche. Seine pechschwarze Fönfrisur ging ihm bis über die Ohren. Und als würde ihn diese Aufmachung als City Boy nicht genug aus einer Kompanie Kommissköpfe in Khaki herausheben, hatte er sich ein sorgfältig gefaltetes rosengemustertes Tuch in den Kragen gesteckt. Hin und wieder zog er es hervor, um sich unsichtbare Schweißtröpfchen von der Stirn zu tupfen. Sein ganzes Gewicht auf einem Bein, eine Hüfte herausgestreckt, den rechten Daumen in die Tasche seiner Jeans gehängt, der linke Arm lässig baumelnd, blickte Obaid in die Ferne über die Bäume, als erwarte er den Start eines Fliegers.

Er hätte die Tür im Auge behalten sollen, aus der zwecks Uniforminspektion der hinausgetrommelte Sir Tony trat. Sein gestärktes Khakihemd stand bis zum Nabel offen, während er mit den Händen an seiner Gürtelschnalle herumnestelte. Ich dachte, er sei dabei, sie zu schließen, doch stattdessen riss er den Gürtel aus den Schlaufen und brüllte: „Achtung!“ Ich knallte die Hacken zusammen, streckte die Brust raus, straffte die Schultern, presste die Arme an die Seiten und schielte zu Obaid hinüber. Er verlagerte sein Gewicht auf das andere Bein und hängte auch den linken Daumen in seine Jeans ein, als posiere er für eine Levi’s-Reklame. Sir Tony gehörte zu den Männern, die glauben, Autorität bestünde zur Hälfte aus halb fertigen Sätzen und abgehackten Wörtern.

„Stillgestanden, ihr Bastarde, stillgestanden“, kläffte er, während er auf die Staffel zustürmte.

Mein Rückgrat wurde noch steifer. Sein Gürtel peitschte vor meinen Augen durch die Luft, und ich musste blinzeln. Ich hörte, wie er Obaids Hintern traf. Der Angriff kam so unerwartet, dass Obaid nur wimmern konnte. Seine Knie gaben nach, und er stürzte zu Boden, während er mit einer Hand den Fall bremste und mit der anderen kraftlos versuchte, sein Hinterteil vor einer weiteren Attacke zu schützen. Es kam keine.

Sir Tony unterzog ihn einer vollständigen Kleiderinspektion. Als Erstes nahm er Obaid sein rosengemustertes Taschentuch ab, wickelte es um den Finger und roch daran. „Ach du Scheiße, falsches Poison“, sagte er. Offenbar bildete er sich etwas auf seine Kenntnisse im Parfümhandel ein. Er stopfte Obaid das Taschentuch in den Mund, hob das rechte Bein und hielt Obaid den Schuh unter die Nase. Obaid verstand die Bedeutung dieser Geste, aber ihr ganzes Ausmaß war ihm offenkundig entgangen.

Er ging auf die Knie, nahm das Taschentuch aus dem Mund und wischte damit an Sir Tonys rechtem Schuh herum, der sich etwa in Höhe seiner Nase befand. Sir Tony stand da, die Hände in die Hüften gestemmt, und ließ seinen Blick über die übrige Staffel wandern. Da wir seinen Launen bereits seit zwei Tagen ausgeliefert waren, wussten wir, dass jeder, dessen Augen versehentlich den seinen begegneten, das nächste Opfer sein würde. Also standen wir da und starrten, starrten und standen. Sir Tony versetzte Obaid einen leichten Kick unter das Kinn, und dieser verstand die Botschaft. Er steckte das Taschentuch wieder in den Mund und putzte weiter den Schuh, indem sein Gesicht Sir Tonys Schuhspitze umkreiste.

Nachdem beide Schuhe zu seiner Zufriedenheit poliert waren, widmete Sir Tony sich Obaids übriger Aufmachung. Er verbrachte ziemlich viel Zeit mit dem Versuch, die Tasche mit dem Avanti-Logo von Obaids Hemd zu entfernen. Aber es war aus Seide und widerstandsfähig. Also rupfte er stattdessen alle Knöpfe ab und riss es Obaid herunter. Er trug kein Unterhemd. Als Sir Tony auf seine Hose deutete, zögerte er, aber Sir Tony brauchte nur mit seiner Gürtelschnalle zu klappern, und Obaid stand in Sekundenschnelle in Unterhose, weißen Socken und glänzenden Oxfordschuhen da, das Rosentaschentuch noch immer im Mund. Sir Tony zog es heraus und band es ihm mit einer gewissen Zärtlichkeit um den Hals. Obaid nahm Haltung an, stand leicht zitternd, aber gerade und stramm da, beide Arme an die Seiten gepresst.

„Übernehmen Sie das Kommando.“ Sir Tony tätschelte Obaids Wange und schnallte im Gehen seinen Gürtel um. Wir traten hinter Obaid an, und er führte zurück zur Kaserne. Erst als er, nackt bis auf die Unterhose und die Oxfords, zu seiner ersten Nacht in der Kaserne vor uns hermarschierte, fiel mir auf, dass seine etwas zu kleine und enge Unterhose ebenfalls aus Seide war. Ihr Bund war mit kleinen Herzen bestickt.

Tolle Jeans“, flüsterte ich, als wir nach dem Signal zum Lichtlöschen in unseren Betten lagen. Obaid hatte das Bett neben mir, und seine Decke leuchtete von der kleinen Taschenlampe, die sich darunter bewegte. Es ließ sich nicht sagen, ob er ein Buch las oder seine Geschlechtsteile auf eventuelle Schäden untersuchte.

„Mein Vater stellt sie her.“ Er machte die Taschenlampe aus und steckte den Kopf unter der Decke hervor. Aus dem Tonfall, in dem er „mein Vater“ sagte, schloss ich, dass er nicht allzu viel für ihn übrighatte.

„Deinem Vater gehört Levi’s?“

„Nein, nur eine Fabrik. Export. Hongkong. Bangkok.“

„Er verdient sicher eine Menge Geld. Warum arbeitest du nicht in eurem Betrieb?“

„Ich will meine Träume verwirklichen.“

Du meine Güte. Keiner dieser verrückten Zivilisten, die sich auf der Suche nach dem Märtyrertod verlaufen hatten?

„Was für Träume? Anderen Leuten die Stiefel zu lecken?“

„Ich möchte fliegen.“

Der Junge hatte wahrscheinlich zu viel Zeit in den Lagerhäusern seines Vaters mit dem Korrekturlesen von Fake-Labels verbracht. Ich schwieg eine Weile. In der Nachbarstube schluchzte jemand, vermutlich setzten ihm die Schimpfwörter für seine Mutter zu, die sie ihm ins Ohr gebrüllt hatten. Vor allem, weil er sie sicherlich vermisste.

Ich? Ich habe meinen sechsten Geburtstag in einem Schlafsaal wie diesem verbracht. Solche Probleme hatte ich nie.

„Und was macht dein Dad?“ Er knipste seine Taschenlampe an und richtete sie auf mich.

„Mach das Ding aus. Du bringst uns in Schwierigkeiten“, sagte ich. „Er war bei der Armee.“

„Pensioniert?“

„Nein, er ist tot.“

Obaid setzte sich in seinem Bett auf und zog sich die Decke an die Brust.

„Tut mir leid. Was ist passiert?“

„Er war auf einer Mission. Geheim.“

Obaid schwieg für einen Moment.

„Dein Vater war also ein Shahid. Es ist mir eine Ehre, mit dir die Stube zu teilen.“

Ich überlegte, ob ich lieber einen Mann zum Vater hätte, der lebte und gefälschte amerikanische Marken produzierte, oder eine Legende, die an einem Deckenventilator hing.

„Und es war wirklich dein Traum, zum Militär zu gehen?“

„Nein, nicht direkt. Ich mag Bücher. Ich lese gern.“

„Stellt dein Vater auch Bücher her?“

„Nein. Er hasst Bücher. Aber sie sind mein Hobby.“

Das Schluchzen auf der nächsten Stube ging in ein leises Wimmern über.

„Hast du ein Hobby?“

„Jedenfalls bin ich nicht zum Militär gegangen, um Briefmarken zu sammeln“, sagte ich und zog mir die Decke über den Kopf.

Ich schnüre meine Stiefel auf, rolle meine Socken herunter, nehme ein Paar khakifarbene gestärkte Baumwollhosen und ein Hemd vom Bügel. Die Hosenbeine haften aneinander wie zwei zusammengeklebte Pappdeckel. Es gibt ein ratschendes Geräusch, als meine Beine sie trennen. Mit einer Hand stopfe ich mir das steife Hemd in die Hose, mit der anderen öffne ich die Tür.

„Herzlichen Glückwunsch, Onkel 303, Ihr Gefangener ist nicht entflohen.“

Ich schaue in den Spiegel. Drei Tage ohne Rasur und trotzdem nur ein paar vereinzelte Borsten an meinem Kinn. Wie Kaktusstacheln, hat Obaid immer gesagt, spärlich, aber pieksig.

Ich nehme den Rasierer aus der Schublade. Ein paar trockene Striche entfernen die Stacheln.

Ich habe nie ein Haar auf Colonel Shigris Gesicht gesehen. Sogar als sie ihn vom Deckenventilator abhängten, war er frisch rasiert.

Mein Wächter steht hinter mir. Im Spiegel sehe ich, dass er lächelt.

Mein Silent-Drill-Team nimmt Haltung an, als ich auf dem Exerzierplatz eintreffe. Bannon ist nicht da. Ich weiß, er hat seine coole Phase, die für gewöhnlich darin besteht, dass er sich zu seiner ersten Tasse Nescafé einen Joint anzündet. Ich brauche nicht auf ihn zu warten. Meine Jungs stehen in drei Reihen. Alle achtzehn haben die rechte Hand auf die Mündung ihrer G3-Gewehre gelegt, die nackten Bajonette ragen gen Himmel.

Ich beginne mit der Kleiderinspektion. Die linke Hand am Griff meines Säbels, schreite ich langsam und bedächtig die Reihen ab. Ein Zerrbild meines Gesichts spiegelt sich in ihren Stiefelspitzen. Es sind achtzehn der besten Männer. Ein verschmierter Schuh, eine ungerade Falte oder ein zu lockerer Gürtel steht bei ihnen nicht zu erwarten, aber eine Inspektion zu beenden, ohne auf jemandem herumzuhacken, ist nicht vorgesehen. Während ich mich dem Vorletzten in der dritten Reihe nähere, wähle ich mir mein Opfer aus. Mit der Rechten ziehe ich den Säbel, wirble herum, und ehe der Mann sich versieht, richtet sich die Spitze knapp über dem Gürtel auf seinen Bauch, den er nach meinem zustimmenden Nicken entspannt hatte. Er zieht ihn wieder ein. Und nicht nur er – um mich herum findet ein allgemeines unhörbares Baucheinziehen statt, und bereits gerade Rücken werden bis zum Äußersten gestreckt. Mein Säbel beschreibt einen Bogen durch die Luft, seine Spitze findet die Öffnung der Scheide und wird in das samtene Innere gestoßen. Mein Marsch beginnt, als der Säbelgriff mit leisem Klicken einrastet. Kein Wort wird gewechselt. Meine Augen wandern die Reihen der stummen, ernsten Gesichter und starren Blicke ab.

Es sind gute Jungs.

Es kann losgehen.

Der ganze Quatsch vom Klang der Stille ist genau das – nämlich Quatsch. Stille ist Stille, das hat unser Silent-Drill-Team inzwischen gelernt. Wir exerzieren seit einhundertzehn Tagen, sieben Tage in der Woche. Alle diejenigen mit schlecht funktionierenden inneren Uhren, mit der Angewohnheit, beim Nebenmann zu spicken, stumm mitzuzählen, um ihre Bewegungen zu koordinieren, oder die in ihren Stiefeln mit den Zehen wackeln, um den Blutkreislauf in Gang zu halten, sind ausgemustert worden.

Mein Wunsch ist ihnen Befehl.

Bannon, der sich ohne Aufhebens während der Inspektion eingefunden hat, nimmt mit übertriebenem Stampfen auf dem Beton Haltung an, das Signal zum Beginn. Ich übersehe seine blutunterlaufenen hängenden Augenlider und mache kehrt. Ich ziehe meinen Säbel, halte ihn vor der Brust, hebe den Griff auf Lippenhöhe. Nach einem Salut mache ich nochmals kehrt und marschiere vier Schritte auf das Silent-Drill-Team zu. Sobald mein Absatz beim vierten Schritt auf den Boden trifft, erstarrt die Staffel wie ein Mann in Habachtstellung.

Ein perfekter Anfang.

Mein Säbel fährt zurück in die Scheide, und als der Griff einrastet, erhebt sich ein kurzes Rauschen in der Luft. Mit nach oben gerichteten Bajonetten verlassen die Gewehre die linke Hand der Soldaten und vollziehen eine Drehung über ihren Köpfen, um sicher wieder in der rechten zu landen. Beide Hände umschließen die Gewehre, halten sie vor der Brust und schlagen dreimal gegen die Magazine. Mein Gewehrorchester spielt fünf Minuten lang, die Gewehre schwanken und wirbeln durch die Luft. Das Timing der Hände, die auf die Magazine klatschen, ist perfekt. Zehn Pfund Metall und Holz formieren sich nach meinem stummen Befehl.

Meine innere Stimme herrscht.

Die Staffel teilt sich, beide Flügel marschieren zehn Schritte in entgegengesetzte Richtungen, halten, machen kehrt und verschmelzen mit müheloser Eleganz wieder zu einer Reihe.

Zeit, den Idioten zu zeigen, wie’s gemacht wird.

Ich stehe einen Meter vom Anführer der Reihe entfernt. Auge in Auge. Jedes Blinzeln oder jeder Seitenblick kann sich als fatal erweisen. Der Mann bringt sein Gewehr auf Brusthöhe und wirft es mir zu. Das Gewehr vollzieht einen Halbkreis, und meine geübte Rechte fängt es auf. Eins. Zwei. Drei. Meine rechte Hand wirft es in einer Schraubbewegung nach oben, und es landet in meiner linken. In den nächsten sechzig Sekunden tanzt und wirbelt die G3 über meinem Kopf und um meine Schultern. Für Zuschauer ist sie ein verschwommener Fleck aus Metall und Holz, eins mit mir, ehe sie nach einem dreifachen Looping in der Hand des die Reihe anführenden Soldaten landet.

Beim Finale teilt sich die Staffel wieder in zwei Reihen und ich trete einen langsamen Marsch durch die Mitte an, während ich meinen Säbel gerade vor meiner Brust halte. Jeder meiner Schritte ist der Befehl an die Soldaten beider Reihen, ein Gewehr nach dem anderen dem jeweiligen Gegenüber zuzuwerfen. Es ist, als würde ich durch einen fein abgestimmten Angriff fliegender Schwerter gehen. Werfen. Fangen. Verpasst einer den Einsatz, könnte sich sein Bajonett in das Auge seines Partners bohren. Ich durchschreite eine zwanzig Meter lange Spirale durch die Luft wirbelnder Gewehre. Es sieht sensationell aus, ist aber durch ein dreimonatiges Training leicht zu schaffen.

Als ich das letzte Paar erreiche, werfe ich aus dem Augenwinkel einen Blick auf den Typ zu meiner Rechten. Meine Augen schweifen nur ganz leicht zur Seite. Seine Hand zittert, als er das Gewehr auffängt, das gerade an meiner Nase vorbeigehuscht ist. Er wirft es eine Nanosekunde zu spät, das Gewehr vollzieht die halbe Drehung in der Luft und sein Kolben trifft mich an der Schläfe.

Perfekt.

Blackout.

Hätte der Idiot sich um einen weiteren Takt verspätet, hätte mich statt des Kolbens das Bajonett getroffen.

Die Krankenpfleger ziehen mir die Stiefel aus, schnallen mir den Säbel ab und lösen meinen Gürtel. Im Krankenwagen ist es still. Jemand legt mir eine Sauerstoffmaske aufs Gesicht. Ich überlasse mich der Bequemlichkeit der Bahre und atme tief ein und aus. Ich wünschte, ich könnte mir den Luxus erlauben, ohnmächtig zu werden, aber es ist wichtig, dass mein Zustand sich schnell stabilisiert. Sonst verfällt womöglich noch irgendein übereifriger Spinner auf die Idee, mir den Schädel zu öffnen.

Als ich auf den weißen Laken im Behandlungszimmer der Krankenstation hinter einem zugezogenen Vorhang auf dem Rücken liege, sticht mir ein Pfleger eine Nadel in den Arm. Das Telefon befindet sich auf der anderen Seite des Vorhangs. Ich fühle mich ruhig, zu ruhig sogar, um einen vorsorglichen Blick darauf zu werfen.

Benommen wache ich auf und weiß sofort, dass die Infusion ein Sedativum enthält.

Bannon sitzt auf einem Hocker neben meinem Bett.

„Es geht gar nicht so sehr um Obaid“, sagt er. „Ein Flugzeug fehlt. Ein ganzer verdammter Vogel. Einfach verschwunden.“

Einen Moment lang hege ich die Hoffnung, dass es sich um eine durch das Beruhigungsmittel hervorgerufene Halluzination handelt, aber Bannons Hand auf meiner Schulter macht sie zunichte. Außerdem ist er der Einzige in der ganzen Akademie, der ein Flugzeug einen Vogel nennt.

„Eine MF-17 ist weg, und sie glauben, dass Obaid sie hat.“

„Und was glaubst du?“, frage ich und fühle mich dumm und schläfrig zugleich.

Baby O ist ganz allein mit einem Flugzeug davongeflogen?

Notfallanweisung für Mushshak, MF-17, Zweisitzer, duale Steuerung, Propellerflugzeug, 200 PS Saab-Motor.

Motorbrand:

Gas wegnehmen.

30 Grad Sinkflug einleiten.

Klappen ausfahren.

Nach einem Landeplatz Ausschau halten.

Bei anhaltendem Feuer:

Sicherheitsgurt öffnen.

Kabinendach abwerfen.

Kopf unten halten.

Auf den rechten Flügel klettern.

Abspringen.

„Warum auf den rechten Flügel?“, hatte ich mich bei der Notfallübung zu Wort gemeldet.

„Damit Sie schneller tot sind“, war die Antwort.

An Bord der MF-17 gibt es keine Fallschirme.

„Der Vogel wird noch immer vermisst“, sagt Bannon.

„Wen zum Teufel interessiert der beschissene Flieger? Achtundvierzig Stunden nach dem Start kann er sowieso nicht mehr in der Luft sein. Du hast ihm diese Scheißidee erst in den Kopf gesetzt. Sitz nicht rum, mach was!“, schreie ich ihn mit erstickter Stimme an. Das müssen die Beruhigungsmittel sein, sage ich mir.

„Er ist zehn Minuten nach dem Start vom Radar verschwunden“, flüstert Bannon mit tiefer Stimme.

„Haben sie Jäger ausgeschickt?“

„Nein, sie haben den Flug für eine reguläre Übung gehalten“, sagt er. „Obaid hat dein Sendesignal benutzt.“