Ich liege reglos im Bett und lausche mit geschlossenen Augen. Im Nebenzimmer stöhnt jemand. Leise dringen die Klänge der Akademie-Kapelle zu mir, sie üben einen langsamen Marsch. Jeder Ton klingt gefiltert, gedämpft im schwindenden Licht. Die Atmosphäre erinnert mich an die Nachmittage in unserem Haus auf dem Shigri Hill, wenn eine Pfütze aus hellem Licht auf einem Berggipfel glauben macht, es wäre noch eine Menge vom Tag übrig. Eben noch hängt die Sonne in saftigem Orange tief über dem Horizont und taucht die höchsten Bergspitzen in ihren strahlenden Glanz. Doch im nächsten Augenblick flackert als einziges Licht nur noch ein Feuer an einem fernen Hang. In den Bergen ist die Nacht wie ein schwarzes Tuch, das vom Himmel geworfen wird. Der Tag packt zusammen und verschwindet, ohne Ankündigung, ohne Abschiedsgruß.
Genau wie Baby O.
Ich versuche die Bilder von der Dämmerung im Gebirge aus meinem Kopf zu verbannen und mich auf meine gegenwärtige Misere zu konzentrieren. Es bedrückt mich, einen Tag verloren zu haben, doch auf der anderen Seite des Vorhangs steht ein Telefon, und Obaid ist nicht der Typ, der sinnlos Nummern auf sein Lieblingstaschentuch kritzelt.
Ich öffne die Augen und sehe, wie sich hinter dem Vorhang die Silhouette des Pflegers über eine Zeitung beugt. Ich gebe ein gedehntes Stöhnen von mir, um herauszufinden, ob er aufpasst. Er hebt den Kopf, schaut vage in meine Richtung und wendet sich dann wieder seiner Zeitung zu.
In seiner Yogi-Phase behauptete Obaid, man könne, wenn man regelmäßig meditiere, mit seiner Willenskraft Menschen zu bestimmten Tätigkeiten veranlassen – Kleinigkeiten für gewöhnlich. Man braucht einen Fremden nur lange genug von hinten anzustarren, und er wird sich wahrscheinlich irgendwann umdrehen. Obaid hatte mir dies mehrmals demonstriert, aber vielleicht waren das Zufallserfolge gewesen. Jemanden jedoch von A nach B zu schicken, bedeutet eine weit größere Herausforderung. Mir fehlt die Erfahrung, aber ich starre und starre, und nach einem halben Jahrhundert steht der Pfleger auf und geht.
Ich weiß nicht, ob er zum Gebet gegangen ist oder früh zu Abend isst. Vielleicht ist auch seine Schicht zu Ende. Ich weiß nur, dass dies auf absehbare Zeit meine einzige Gelegenheit ist.
Nachdem ich meine Gliedmaßen einmal in Gang gebracht habe, geschieht alles sehr schnell. Hemd, Stiefel, Gürtel, Säbel, Mütze finden ihren Platz an meinem Körper. Alles fügt sich zusammen wie die Teile eines Gewehrs in den Händen eines erfahrenen Soldaten. Der Rufton des Telefons ertönt laut und deutlich, und ich wähle hastig, als könnte Obaid am anderen Ende der Leitung abheben.
Bei den letzten beiden Zahlen nimmt meine Nase den leichten Geruch einer Dunhill wahr. Mein erster Gedanke ist, dass irgend so ein Flegel auf der Krankenstation raucht. Vielleicht kann ich eine bei ihm schnorren, wenn ich telefoniert habe. Meine Stimmung steigt.
Nach dem zweiten Klingeln wird abgehoben. Es meldet sich die routinierte Stimme eines Telefonisten, der zahllose Anrufe gewohnt ist. Was er mit mir anfängt, kann er erst entscheiden, wenn er meinen Rang identifiziert und meinen Status zugeordnet hat.
„Army House, asslam u alaikum“, sagt der Mann in der Telefonzentrale. Der Schrecken, der mit diesem Ort verbunden ist, wird durch die Erkenntnis gemildert, dass der Mann Zivilist zu sein scheint, und die sind für gewöhnlich leicht zu beeindrucken.
„Khan-Sahib“, beginne ich. „Ich bin ein Verwandter von General Zia. Ich weiß, Sie könnten mich durchstellen, aber könnten Sie ihm eine dringende Nachricht ausrichten?“
„Ihr Name, Sir?“
„Unteroffizier Ali Shigri. Sohn von Colonel Quli Shigri. Dem verstorbenen Colonel Shigri.“ Das zu sagen, fällt mir immer schwer, aber der Name tut seine Wirkung, und ich spüre plötzlich, dass er mir zuhört. Nicht, dass er wirklich glaubt, ich sei mit dem General verwandt, aber von dem verstorbenen Colonel Shigri hat er offenbar schon gehört. Wer im Army House kennt ihn nicht?
„Haben Sie Papier und Stift?“
„Ja, Sir.“
„Schreiben Sie: Colonel Shigris Sohn hat angerufen. Er lässt ihn grüßen. Er sendet ihm Salaam. Haben Sie das? Salaam.“
„Ja, Sir.“
„Shigris Sohn möchte ihm etwas sehr Wichtiges mitteilen, er hat wichtige Informationen über den verschwundenen Flieger. Es ist eine Angelegenheit … haben Sie das?“
Er bejaht, und ich grüble angestrengt über ein effektvolles Ende für meine Botschaft nach:
Mein einziger Freund auf der Welt ist in Gefahr. Wenn ihr ihn habt, seid nett zu ihm.
Ich habe eine Spitzeninfo vom CIA, die ich niemandem anvertrauen kann.
Retten Sie meinen Arsch.
„Es handelt sich um eine Nachricht von größter Bedeutung für die nationale Sicherheit“, sage ich. „Er darf dies nur direkt von Ihnen erfahren.“
Ich rieche die Dunhill im Raum, noch ehe ich die Stimme höre. Ich würde sie noch im Sarg erkennen.
„Unteroffizier Ali?“
Der Umstand, dass die Stimme mich beim Vornamen nennt, lässt mich abrupt auflegen.
Major Kiyani vom ISI steht in der Tür. Eine Hand hat er auf den Rahmen gelegt, in der anderen hält er in Brusthöhe seine Zigarette. Er ist in Zivil. Er ist immer in Zivil. Ein cremefarbener seidener Shalvar Kamiz, ordentlich gebügelt, das pomadige Haar glänzend im Licht der Glühbirne, eine sorgfältig arrangierte Locke in der Mitte seiner Stirn, genau dort, wo seine imposanten Augenbrauen zusammentreffen.
Ich habe ihn noch nie in Uniform gesehen. Ich bin nicht einmal sicher, ob er eine besitzt oder weiß, wie man sie trägt. Das erste Mal begegnete ich ihm auf der Beerdigung meines Vaters; seine Wangen waren leicht eingefallen und seine Augen schienen aufrichtig. Aber es waren so viele Menschen dort, und ich hatte angenommen, er sei nur einer von Dads Schülern, von denen es in unserem Haus wimmelte, die alles Mögliche erledigten und sich um seine Papiere kümmerten.
„Ich weiß, dass es sehr schmerzhaft für Sie ist, aber der Colonel hätte es so gewollt“, hatte er damals zu mir gesagt und sich die Augen mit einem weißen Taschentuch betupft. Wir hatten gerade auf Shigri Hill den in eine Flagge gehüllten Sarg unter dem Lieblingsapfelbaum meines Vaters bestattet.
Innerhalb von zehn Minuten entwarf er eine Erklärung, die er mich unterschreiben ließ. Darin stand, dass ich, als einziges männliches Familienmitglied, auf eine Autopsie verzichte, keine dunklen Machenschaften argwöhne und keinen Abschiedsbrief gefunden hätte.
„Rufen Sie mich an, wenn Sie etwas brauchen“, hatte er gesagt und war gegangen, ohne mir eine Telefonnummer zu hinterlassen. Ich brauchte nie etwas. Nicht von ihm.
„Ich sehe, Sie sind angezogen und fertig zum Ausgehen.“
Bei Leuten wie Major Kiyani gibt es keine Ausweise, keine Haftbefehle, keine Vortäuschung von Legalität oder Handeln zum eigenen Besten. Er hat eine grausame Ruhe an sich. Die Ruhe eines Mannes, der in einem Krankenzimmer auftaucht und sich nicht einmal nach etwas umschaut, das er als Aschenbecher benutzen könnte.
„Wohin gehen wir?“, frage ich.
„An einen Ort, wo wir reden können.“ Seine Zigarette beschreibt einen ziellosen Bogen. „Hier sind zu viele Kranke.“
„Bin ich verhaftet?“
„Seien Sie nicht so dramatisch.“
Draußen parkt ein Toyota Corolla ohne Nummernschild, weiß, ein 1988er Modell. Es ist noch nicht auf dem freien Markt erhältlich. Der Wagen glänzt makellos weiß, und seine Sitze sind passend dazu mit gestärkter Baumwolle überzogen. Als er den Wagen anlässt, wird mir klar, dass wir wegfahren, fort von hier, an keinen Ort in der Nähe, und an keinen angenehmen.
Ich vermisse meine Stube jetzt schon, mein Silent-Drill-Team, sogar die jämmerlich lahmen Sticheleien des 2. OIC.
Der Wagen wirkt sehr leer. Major Kiyani trägt keine Mappe, keine Akte, nicht einmal eine Waffe. Ich werfe einen hungrigen Blick auf die Schachtel Zigaretten und das goldene Feuerzeug vor ihm auf dem Armaturenbrett.
Er lehnt sich zurück, die Hände leicht auf das Lenkrad gelegt. Er beachtet mich nicht. Ich betrachte seine rosafarbenen, manikürten Finger, die Finger eines Mannes, der nie körperliche Arbeit verrichten musste. Ein Blick auf seine Haut, und man weiß, dass er sich von einer regelmäßigen Diät aus geschmuggeltem Whisky, Chicken Korma und dem endlosen Vorrat an sicheren Huren seiner Agentur ernährt. Man braucht ihm nur in die eingesunkenen kobaltblauen Augen zu sehen und weiß Bescheid. Männer wie er nehmen einen Telefonhörer in die Hand, führen ein Ferngespräch, und irgendwo in einem überfüllten Basar geht eine Bombe hoch. Oder er steht mitten in der Nacht mit seinem Corolla mit ausgeschalteten Scheinwerfern vor einem Haus, während seine Leute über die Mauer klettern und das Leben irgendwelcher unglückseliger Zivilisten über den Haufen werfen. Oder er taucht, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, still und leise nach tödlichen Unfällen und ungeklärten Selbstmorden auf der Beerdigung des Opfers auf, fasst alles in einer hübschen kleinen Rede zusammen, kümmert sich um die losen Enden, schützt die Hinterbliebenen vor Autopsien und den Spekulationen der ausländischen Presse, die sich für von Deckenventilatoren baumelnde, hochdekorierte Colonels interessieren könnte. Er ist der Mann, der die Welt mit einer Schachtel Dunhill, einem goldenen Feuerzeug und einem nicht registrierten Wagen lenkt.
Kiyani kramt im Handschuhfach nach einer Kassette.
„Asha oder Lata?“, fragt er.
Ich sehe ein etwa handgroßes Halfter und eine graue metallische Pistole mit Elfenbeingriff und bin plötzlich beruhigt. Das Vorhandensein einer Waffe im Handschuhfach rechtfertigt diese Reise. Er kann mich bringen, wohin er will.
Um die Wahrheit zu sagen, ich kann Asha und Lata nicht auseinanderhalten. Für mich sind sie dicke, alte, hässliche indische Schwestern, die wie rollige Kätzchen im Teenageralter singen. Eine klingt wahrscheinlich erotischer als die andere, ich kann es nie sagen. Dennoch ist das Land in zwei sich bekriegende Fraktionen gespalten: Asha- und Lata-Verehrer. Tee oder Kaffee? Cola oder Pepsi? Maoist oder Leninist? Shia oder Sunna?
Alles ganz einfach, pflegte Obaid zu sagen. Es hänge davon ab, wie einer sich fühlt und wie er sich gerne fühlen würde. Das war der größte Blödsinn, den ich je gehört hatte.
„Lata“, sage ich.
Ich hätte den guten Geschmack meines Vaters, sagt er, und legt eine Kassette ein. Ein männlicher Sänger singt ein Ghazal, irgendwas darüber, dass er eine Mauer in der Wüste errichten will, damit niemand die umherstreifenden Liebenden stören kann.
„Machen Sie sich keine Sorgen“, sagt Kiyani. „Wir wissen, dass Sie aus einer guten Familie stammen.“