Elf

Der Mann, der mir die Augen verbindet, scheint Experte in solchen Dingen zu sein. Die halbmondförmige Narbe auf seiner frisch rasierten linken Wange, sein bleistiftdünner Schnurrbart und der sauber gebügelte Shalvar Kamiz geben ihm das Aussehen eines geläuterten Kriminellen. Geschickt und mit sanftem Griff verknotet er das Tuch an meinem Hinterkopf. Dann nimmt er mich bei der Hand und führt mich nach draußen. Die Binde hat so viel Spiel, dass ich die Augen öffnen kann, doch ohne dass der geringste Lichtstrahl hindurchdringt. Ich überlege, ob man die Augen unter einer Binde offen oder geschlossen halten sollte. Sobald wir die Toilette verlassen haben, hole ich mehrmals tief Luft, in der Hoffnung, den Gestank aus meinem Körper zu bekommen, doch ich schmecke ihn noch immer an meinem Gaumen. Nicht einmal Obaids gesamte Parfümsammlung würde ausreichen, ihn zu vertreiben.

Der Korridor scheint breit, die Decke hoch, und der Boden ist mit unebenen Steinplatten gepflastert. Unsere Stiefelschritte – zunächst unsicher, dann fallen wir in Marschrhythmus – hallen laut durch den Gang. Wir bleiben stehen. Er salutiert. Ich stehe nur da, halb stramm, halb bequem. Vor jemandem, den man nicht sieht, sollte man lieber nicht salutieren. Es riecht nach Luftverbesserer mit Rosenduft und Dunhills. Papier raschelt, ein Feuerzeug wird angezündet, eine Akte schlittert über den Tisch.

„Machen Sie mit ihm, was Sie wollen, aber hinterlassen Sie keine Spuren.“ Major Kiyanis Stimme klingt heiser, als würde seine Kehle zögern, diese Anweisung zu geben. Die Akte wird aufgehoben.

„Ich bin keiner von Ihren Metzgern“, flüstert eine ungehaltene Stimme.

„Seien wir mal nicht so empfindlich“, sagt Major Kiyani. Ein Stuhl wird über den Boden gezogen. „Mit Ihnen habe ich auch gar nicht geredet.“

Hör nicht auf das, was er sagt, ermahne ich mich. Es ist das alte Spiel – guter Bulle, böser Bulle. Alles Söhne derselben Hure.

Schritte nähern sich durch den Raum. Das brennende Ende von Major Kiyanis Zigarette streift fast mein Gesicht, dann ist er fort.

„Nehmen Sie bitte Platz.“ Die Stimme gehört dem guten Bullen, aber er blickt offenbar nicht in meine Richtung. Ich schlurfe vorwärts und bleibe stehen.

„Wir müssen das Ding abnehmen.“

Ich rühre mich nicht. Soll ich mir die beschissene Augenbinde auch noch selbst abnehmen?

„Bitte entfernen Sie die Binde, Mr. Shigri.“

Der Major, der vor mir sitzt, trägt auf der rechten Schulter seiner Uniform das runde Abzeichen des Sanitätskorps: zwei schwarze Schlangen auf rotem Samt, die einander mit halb geöffneten Mäulern wie zu einem zensierten Kuss umschlingen. Die langen grauen Koteletten des Majors verstoßen gegen jede Militärvorschrift. Langsam blättert er in einem gelb-grünen Aktenordner, die Zungenspitze zwischen den Zähnen, als hätte er soeben entdeckt, dass ich unter einer seltenen Krankheit leide, die er noch nie behandelt hat.

„Ich arbeite nicht hier“, sagt er und deutet auf das Büro, das mit Ledersesseln, einem mit grünem Leder bezogenen Tisch und einem Samtsofa ausgestattet ist. Ein offizielles Porträt von General Zia ziert die Wand. Das Bild ist großzügig retuschiert. Rosa Lippen leuchten unter einem pechschwarzen Schnurrbart hervor. Hinge dort nicht auch eine Uniform mit Major Kiyanis Namensschild, würde ich mich im Büro eines Bankdirektors wähnen.

Ich setze mich auf die Stuhlkante.

„Wir müssen ein paar Tests durchführen. Sie sind ganz leicht. Der erste ist ein Multiple-Choice-Test. Kreuzen Sie einfach die Antworten an, die Ihnen richtig erscheinen. Ohne lange nachzudenken. Im zweiten Teil zeige ich Ihnen dann einige Bilder, und Sie beschreiben in wenigen Worten, was sie Ihrer Ansicht nach darstellen.“

„Dürfte ich fragen, Sir …“

„Sie dürfen fragen, was Sie wollen, junger Mann, allerdings handelt es sich hier um eine reine Routineuntersuchung. Man hat mich aus Islamabad hierher beordert, damit ich die Ergebnisse gleich wieder mitnehmen kann. Für Sie wird es wohl besser sein, Ihre Zeit mit mir und diesen Tests zu verbringen, als mit den Leuten, die keine Spuren an Ihnen hinterlassen sollen.“

Wie alle guten Bullen hat er recht.

Er schiebt mir einen Stapel Papier hin, legt einen Bleistift darauf und nimmt seine Armbanduhr ab.

„Es gibt keine richtigen oder falschen Antworten“, beruhigt er mich. „Was zählt, ist die Zeit. Sie müssen alle sechzig Fragen in fünfundzwanzig Minuten beantworten. Der Trick dabei ist, möglichst nicht nachzudenken.“

Das kannst du laut sagen. Hätte ich nicht so viel nachgedacht, würde ich noch immer als geachteter Kadett auf dem Exerzierplatz auf- und abmarschieren, statt hier vor einem Idiotentest zu sitzen. Ich werfe einen Blick auf das erste Blatt: „MDRS P8039“. Mehr steht da nicht. Es gibt keinen Anhaltspunkt, was sich dahinter verbirgt.

„Fertig?“, fragt er und schenkt mir ein leicht ermutigendes Lächeln.

Ich nicke.

„Dann los.“ Er legt seine Uhr auf den Tisch.

Frage 1: Wie würden Sie Ihren momentanen seelischen Zustand beschreiben? Als …

a. deprimiert

b. etwas deprimiert

c. fröhlich

d. nichts von dem Genannten

Mein Vater wurde erhängt an einem Deckenventilator aufgefunden. Baby O ist mit einem verdammten Flieger verschwunden. Ich war zwei Nächte lang in einem Scheißhaus für Zivilisten eingesperrt. Der ISI verhört mich zu Verbrechen, die ich nicht begangen habe. Und eben musste ich mir eigenhändig eine Augenbinde abnehmen. Was glauben Sie?

Es gibt keinen Platz zum Schreiben, nur kleine Kästchen.

Also kreuze ich „etwas deprimiert“ an.

Dann eine Frage zu meinem geistigen Zustand – leicht spirituell. Selbstmordgedanken – keine. Sexualleben – gelegentlich feuchte Träume. Ob ich an Gott glaube?

Die Option „Ich wünschte, es wäre so“ gibt es nicht.

Also kreuze ich „stark gläubig“ an.

Als ich zu den Fragen komme, ob ich in einen Fluss springen würde, um das Kätzchen meines besten Freundes zu retten, oder mir sagen, dass Katzen schwimmen können, beginnt die Sache mir Spaß zu machen, und ich markiere die Kästchen mit dem Schwung eines Menschen, der sich bester geistiger Gesundheit erfreut.

Der gute Bulle nimmt seine Uhr vom Tisch und lächelt mir zu. Ihm liegt daran, dass ich meine Sache gut mache.

Dann die unvermeidliche Frage nach Drogen. Die Option „nur einmal probiert“ wird nicht angeboten. Auch ob man die Erfahrung genossen hat, wird nicht gefragt.

„Nie“, kreuze ich an.

Statt die Allee der Märtyrer entlangzulaufen, sprang ich auf meinem Rückweg von Bannons Zimmer über eine Hecke und durchquerte das Gebüsch, das den Exerzierplatz umgab. Ein einsames Glühwürmchen tauchte aus dem Nichts auf, wie um mir den Weg zu weisen. Die Hecke um den Exerzierplatz sah aus wie eine echte Mauer mit scharfen Kanten. Das Gras unter meinen Stiefeln war feucht vom frühabendlichen Tau. Ich dachte angestrengt nach, so wie man nachdenkt, wenn man das Blut voll Chitrali-Haschisch hat, das einem mit dringenden Botschaften aus dem Jenseits zu Kopf steigt, alle Zweifel ausräumt und Schnapsideen in unfehlbare Pläne verwandelt. Die Botschaft, die ich erhielt, war so laut und deutlich, dass ich gegen die Hecke trat, um mich zu vergewissern, dass sie real war. Die Hecke leuchtete auf, als Tausende von Glühwürmchen aus ihrem Schlummer aufstoben und einen fatalistischen Leuchtangriff auf die Nacht flogen. Verdammt gut, sagte ich, es wird Zeit, aufzuwachen und Licht in die Sache zu bringen.

Laut eines Sonderberichts in Reader’s Digest über den Drogenkrieg ist kein Wissenschaftler je in der Lage gewesen, die Wirkung von Gras auf den menschlichen Verstand zu analysieren. Chitrali-Haschisch sollte man nicht mal in einem Raum mit Laborratten aufbewahren.

Auf einmal sah ich einen Schatten, der um das Podest mit dem Flaggenmast am Rande des Exerzierplatzes herumhuschte. Der Mann stieg auf das Podest, blickte nach links und nach rechts und nahm dann bedächtig die pakistanische Flagge ab, die man zur Nacht heruntergelassen hatte.

Was mir nun durch den Sinn flatterte, war die Flagge, die man um den Sarg meines Vaters drapiert hatte. In meinem Kopf dröhnten die Totengebete, lauter und lauter. Der Sarg öffnete sich, und durch die Mondsichel und den Stern auf der Flagge schnitt mein Vater mir eine Grimasse.

Was hat ein Shigri zu tun?

Diesem Befehl gehorchend, ging ich auf die Ellbogen und Knie und nahm mein Ziel ins Visier. Die Jahre, in denen ich verbotene Abkürzungen genommen und über die Mauer der Akademie geklettert war, um mir verbotene Spätfilme anzusehen, hatten mich auf diesen Augenblick vorbereitet. Ich drückte mich an die Hecke und wartete.

Irgendein geisteskranker Spinner wollte unsere Flagge klauen. Das Grab meines Vaters schänden. Meine Gedanken waren von einer Klarheit, die nur Chitrali-Haschisch hervorrufen kann. Ich robbte mich mit der Entschlossenheit eines Mannes vorwärts, der die Ehre seines Landes und die Orden seines Vaters zu verteidigen hat. Glühwürmchen wirbelten um meinen Kopf. Feuchtes Blattwerk drang in meine Stiefel und in mein Uniformhemd, aber ich ließ den Dieb nicht aus den Augen, der nun auf dem Podest kauerte und versuchte, die Flagge von der Schnur zu trennen, an der sie immer gehisst wurde. Er schien es nicht eilig zu haben, aber ich kroch schneller, um ihn auf frischer Tat zu ertappen. Ein zwischen den Blättern verborgener Dorn bohrte sich mir am Ellbogen in die Haut. Es brannte ein wenig, mein Ärmel wurde nass. Dennoch drosselte ich mein Kriechtempo nicht.

Kurz vor dem Podest übersprang ich die Hecke, und ehe der Dieb mich entdecken konnte, warf ich mich auf ihn und presste ihn zu Boden.

„Warum fallen Sie über einen alten Mann her?“, fragte Onkel Starchy ruhig. Er leistete keinerlei Widerstand.

Es war, als hätte man mich dabei erwischt, wie ich ein Loch in meine Matratze pulte. Nie mehr würde ich etwas von diesem Zeug rauchen, das schwor ich mir.

„Ich dachte, jemand macht sich an der Flagge zu schaffen“, sagte ich, während ich mich aufrappelte.

„Die ist bereits geschafft. Ich wollte sie gerade zum Waschen abnehmen.“ Onkel Starchy sah sich suchend um, als hätte er etwas verloren. Eine Hand verschwand unter seinem Hemd, tastete dort herum. Er zog einen leeren Jutesack hervor.

„Sei nicht albern, Söhnchen. Wo willst du denn hin?“, sagte er und blickte sich panisch um.

Zuerst dachte ich, er würde mit mir reden. Ich kam mir blöd vor, aber einfach davonmachen wollte ich mich auch nicht. Also blieb ich stehen und folgte seinem Blick. Onkel Starchy ging auf die Knie, näherte sein Gesicht dem Podest und kroch suchend herum, als wäre sein „Söhnchen“ ein dämlicher Wurm.

Onkel Starchy besaß die lässige Anmut eines lebenslangen Drogensüchtigen. Er bewegte sich so geschmeidig und zielstrebig, dass ich mich seiner Suche anschloss, ohne zu wissen, wonach wir eigentlich suchten. Schließlich schien er auf dem kleinen Rasenstück zwischen dem Podest und dem Rand des Exerzierplatzes etwas entdeckt zu haben und schoss, die Flagge um den Arm gewickelt, darauf zu. Ich sah es nur für den Bruchteil einer Sekunde. Es wand sich und hob den jadegrünen Kopf, so dass die Bänder auf seinem länglichen Leib sich bewegten. Dann rollte es sich zu einer Spirale zusammen. Onkel Starchy hatte es am Schwanz gepackt und streichelte den Kopf mit dem Zeigefinger, als würde er ein kostbares Juwel liebkosen, und die Schlange, ein Krait, senkte ihn nun von selbst. Onkel Starchy packte sie in die Flagge und hielt sie von seinem Körper fort.

Ich hätte an eine Halluzination geglaubt, wenn Onkel Starchy nicht freiwillig mit einer Erklärung begonnen hätte. „Nichts in diesem Land ist rein, kein Haschisch, kein Heroin, nicht mal gemahlene Chilis.“

Ich fragte mich, was Onkel Starchy heute genommen hatte.

„Das hier ist der Nektar der Natur.“ Er schwenkte das Bündel vor meinem Gesicht. Die Schlange schien eingeschlafen zu sein. Nichts rührte sich unter dem zerknitterten Mond und dem Stern auf der Flagge.

„Du musst zum Arzt, Onkel.“ Ich deutete mit dem Finger auf meine Stirn und machte eine kreisförmige Bewegung. „Du hast wieder Benzin getrunken.“

„Das stinkt fürchterlich, und die Zunge fühlt sich danach an wie ein Stück Aas, ekelhaft.“ Angewidert spuckte er aus.

„Und das da?“ Ich wies auf das Bündel in seiner Hand. „Ist das nicht ziemlich riskant? Sie könnte dich umbringen.“

Onkel Starchy lächelte milde, befühlte das Bündel und griff mit zwei Fingern hinein. Behutsam zog er die Schlange hervor, und ich konnte den hübschen Kopf des Tieres genau betrachten. Seine Augen waren wie winzige Smaragde, und sein geöffneter Rachen gab eine glänzende, gemaserte Innenseite preis. Die gespaltene Zunge peitschte mit kleinen wütenden Stößen.

Noch ehe ich begriff, was Onkel Starchy vorhatte, knöpfte er sein Hemd auf und brachte die Schlange in Angriffsweite. Ihr Kopf schnellte an Onkel Starchys entblößte Schulter. Seine Hand zuckte zurück, sein Kopf neigte sich wie in Zeitlupe zur Linken, bis er ihm fast auf die Schulter fiel. Er schloss die Augen und gab ein Wimmern von sich. Dann schlug er sie langsam wieder auf. Sie waren hellwach, wie zwei Soldaten, die gerade ihren Posten beziehen. Seine gewöhnlich von einem Netz aus Falten überzogene Stirn war glatt. Sogar sein Schatten schien sich ausgedehnt zu haben und erstreckte sich in imposanter Länge über den Exerzierplatz.

Er verknotete die Flagge, stopfte sie in den Jutesack. Nachdem er seinen Gefangenen verstaut hatte, sah er mich an, als erwarte er einen Kommentar zu seinem Auftritt.

„Sie könnte dich töten“, sagte ich ehrlich besorgt.

„Ihr Gift tötet nur, wenn man zu gierig ist“, sagte er. „Oder wenn man es spritzt“, fügte er noch hinzu.

„Was?“

„Es ist Medizin, wenn man es rein verabreicht. In Verbindung mit Metall wird es giftig. Eine Weile fühlt man sich vielleicht nur etwas betäubt, aber am Ende stirbt man. Probieren Sie’s aus. Sie müssen nur eine Messerspitze hineintauchen und damit die Haut eines Elefanten ritzen. Der Elefant fällt tot um. Vielleicht tanzt er vorher, denkt, er hat Flügel, torkelt rum. Aber am Ende stirbt er.“

Der Mond schien durch die Wolken, und Onkels Schatten schrumpfte auf seine gewöhnliche Länge – wie zu einem handlichen Format zusammengefaltet.

„Wie viel willst du für einen Schuss?“, fragte ich und fuhr mit der Hand in die Hosentasche, wohl wissend, dass Onkel Starchy nie etwas für seine Ware nahm.

„Für wen halten Sie mich, Sir? Für einen Drogendealer?“ Er war wieder sein altes unwirsches Selbst. Das Feuer in seinen Augen erlosch allmählich.

„Ich muss mich um gewisse Familienangelegenheiten kümmern“, rechtfertigte ich mich.

„Jetzt ist sie ausgelaugt.“ Onkel Starchy klopfte auf den Jutesack. „Es dauert ungefähr eine Woche, bis sie die Menge produziert hat, die Sie brauchen.“

Sieben Tage später rollte aus dem Stapel frisch gestärkter Uniformen, die Onkel Starchy auf mein Bett gelegt hatte, ein fingergroßes Glasröhrchen, in dem ein paar Tropfen einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit klebten.

Man bietet mir Tee an, vermutlich zur Belohnung dafür, dass ich den ersten Test zwei Minuten vor den vorgesehenen fünfundzwanzig vollendet habe. Ich hasse Tee, aber die heiße süße Flüssigkeit, die mir fast die Kehle verbrüht, brennt auch für einen Moment den Geruch aus, der sich an meinem Gaumen festgesetzt hat.

Beim zweiten Test gibt es keine Fragen, nur Bilder. Keine richtigen Bilder, nur mehr oder weniger abstrakte Vorstellungen, wie sie irgendein verrückter Spinner vom Leben hat. Man kann nie sagen, ob es sich um eine Amöbe oder eine Karte mit Indiens strategischen Verteidigungspunkten handelt.

Ich ermahne mich zur Vorsicht und lasse mir Zeit mit meinem Tee. Mit so was können sie vielleicht wirklich die Irren von Genies wie mir unterscheiden.

Das erste Bild zeigt, ich schwöre es, den abgetrennten Kopf eines Fuchses.

„Ein See. Oder vielleicht das Bermuda-Dreieck“, sage ich.

Alle drei Monate erscheint in Reader’s Digest ein Artikel über Flugzeuge, die über dem Bermuda-Dreieck verschwinden. Das ist bestimmt die gesündeste Antwort. Der Arzt schreibt meine Antworten mit; eigentlich schreibt er sogar viel mehr, als ich sage.

Das zweite Bild zeigt eine riesige hängende Fledermaus.

„Schleife“, sage ich.

„Fällt Ihnen noch etwas anderes dazu ein?“, fragt er.

„Eine rosa-weiße Fliege. Eine sehr große Fliege.“

Man zeigt mir zwei kämpfende Penisse.

„Stiefel“, sage ich. „Militärstiefel, die bequem stehen.“

Ein in einem Atompilz kauernder Mann.

„Ein Hurrikan. Oder vielleicht ein U-Boot.“

Blutrünstige Hexen im Ringkampf.

„Hufeisen.“

Zwei Ferkel, die mich anstarren.

„Meister Yoda im Spiegel.“

Das letzte Bild ist so klar, wie es der Maler dieser kranken Bilder nur zeichnen konnte: ein Paar Hoden auf einem rosa Eisblock.

„Mangos“, sage ich. „Oder eine andere Frucht. Vielleicht auf Eis.“

Ich starre in meine leere Teetasse, während der Arzt hastig seine letzten Bemerkungen auf seinen Block kritzelt.

Auf alle Fälle hat er es sehr eilig. Er wirft Bilder, Papiere und Stift in seine Mappe – „Viel Glück, junger Mann“ – und steht schon an der Tür und rückt sein Barett zurecht, auf dessen Abzeichen ein weiteres Paar züngelnder Schlangen prangt.

„Sir, warum hat man Sie geschickt …?“

„Merken Sie sich unsere Devise, junger Mann: Handeln oder Sterben. Ohne Fragen zu stellen …“

„Aber Sir. Das Motto des Sanitätskorps’ lautet doch: Den Menschen dienen, ohne …“

„Hören Sie zu, junger Mann, ich muss meinen Flug nach Islamabad erwischen. Man braucht die Ergebnisse dort sofort. Wahrscheinlich will man herausfinden, ob Sie wissen, was Sie getan haben. Wissen Sie es?“

„Ich habe nichts getan.“

„Diese Antwort ist nicht vorgesehen, also kann ich sie meiner Bewertung nicht beifügen. Das können Sie ihm sagen.“

Er gibt dem Soldaten, der mich aus der Toilette hergeführt und plötzlich in der Tür aufgetaucht ist, ein Zeichen.

„Viel Glück. Sie scheinen aus gutem Hause zu sein.“

Der Soldat verbindet mir nicht die Augen. Er bringt mich in einen Raum, der den ziemlich bemühten Anschein einer Folterkammer erweckt. Ein Friseurstuhl mit Gummigurten an den Armlehnen ist mit laienhaft wirkenden elektrischen Vorrichtungen verbunden. Auf einem Tisch liegt eine Auswahl von Stöcken, Lederpeitschen und Sicheln, dort steht auch ein Glas mit gemahlenen Chilis. An einem Haken in der Wand hängen Nylonseile und von der Decke baumeln zwei alte Reifen an Metallketten, die vermutlich dazu dienen, Häftlinge an den Füßen aufzuhängen. Der einzige neue Gegenstand ist ein nicht angeschlossenes weißes Bügeleisen von Philips. Ob diese Folterkammer eine Doppelfunktion hat und gleichzeitig als Wäscherei dient? Alles wirkt dekorativ, ein wenig wie eine verlassene Theaterkulisse. Doch an der Decke klebt getrocknetes Blut, und als ich mich noch einmal umschaue, wird mir klar, dass all diese Gerätschaften in Funktion sind. Dennoch frage ich mich, wie sie es geschafft haben, die Decke derart mit Blut zu bespritzen.

„Ziehen Sie bitte Ihre Uniform aus, Sir“, sagt der Soldat ehrerbietig.

Anscheinend bin ich kurz davor, es herauszufinden.

„Warum?“, frage ich unter Aufbietung meiner gesamten Offizierswürde.

„Ich möchte mich vergewissern, dass Sie keine Verletzungen am Körper haben.“

Langsam ziehe ich mein Hemd aus. Er nimmt es mir ab und hängt es auf einen Bügel. Meine Stiefel stellt er daneben. Die Hosen faltet er sorgfältig zusammen. Ich breite die Arme aus und fordere ihn auf, zu tun, was er tun muss. Er deutet auf meine Unterhose.

Ich gehorche.

Er geht um mich herum. Ich stehe aufrecht, die Hände auf den Rücken gelegt, zucke mit keiner Wimper, kratze mich nicht. Wenn er mich schon nackt sehen muss, werde ich ihm nicht die Genugtuung verschaffen, mich schüchtern und zimperlich zu zeigen.

Ich warte, dass das Verhör beginnt, aber er scheint keine Fragen zu haben.

„Stellen Sie sich bitte in die Ecke, Sir, und fassen Sie nichts an.“ Er verbindet das Bügeleisen mit einer Steckdose, ehe er den Raum verlässt.

Ich sage mir, dass selbst professionelle Folterer manchmal einen Termin verschieben müssen. Oder es handelt sich um eine Art Do-it-yourself-Folter: Man steht da und starrt auf die Instrumente und stellt sich vor, wie die verschiedenen Körperteile auf sie reagieren würden. Ich versuche, möglichst nicht an das bernsteinfarbene Lämpchen am Bügeleisen zu denken. Keine Spuren, hat Major Kiyani immerhin gesagt.

Der Soldat kommt mit dem gelb-grünen Ordner und einem neu entdeckten Interesse an meiner Familie zurück.

„Sie sind mit dem verstorbenen Colonel Shigri verwandt?“

Ich hole tief Luft und nicke.

„Ich war auf seiner Beerdigung. Sie erinnern sich wahrscheinlich nicht an mich.“

Ich forsche in seinem Gesicht nach Hinweisen auf das, was er vorhat.

„Ich hoffe, Sie werden mir verzeihen, Sir. Ich tue nur meine Pflicht.“

Ich nicke wieder, als hätte ich ihm bereits vergeben. Er scheint ein Mann zu sein, der helfen, aber nicht missverstanden werden will.

„Sie wissen sicher, dass er diesen Kasten hier hochgezogen hat. Innerhalb von zwei Wochen. Ich war der Bauleiter.“

„Ich dachte, das wären die Moguln gewesen.“

Eine Folterkammer ist nicht gerade der ideale Ort, um die Leistungen seiner Vorfahren zu erörtern.

„Nein, Sir, ich meine die Anbauten, die Büros, die Kasernen und das unterirdische Zeug. Er hat den Bau angeordnet.“

Gute Arbeit, Dad.

Die Akte in seiner Hand ist als vertraulich gekennzeichnet und trägt meine Luftwaffennummer. Ich frage mich, was darin steht. Über mich. Über Obaid. Über uns.

„Hat er das hier auch angeordnet? Und benutzt?“ Ich deute auf den Barbierstuhl und die Ketten, die von der Decke hängen.

„Der Colonel hat nur seine Pflicht getan.“ Er klappt den Ordner zu und drückt ihn mit verschränkten Armen an die Brust. Ich habe gewusst, dass mein Vater im Auftrag General Zias die strategischen Operationen der Guerilla in Afghanistan geleitet hat. Dass er zwischen den Amerikanern und dem ISI vermittelte, der für die Verteilung der Gelder an die Mudschaheddin verantwortlich war. Aber dass der Bau und die Leitung von Einrichtungen wie dieser zu seinen Pflichten gehörte, hatte er mir nie erzählt.

„Wir tun alle unsere Pflicht“, flüstere ich und stürze mich auf den Tisch neben dem Barbierstuhl. Ich reiße eine Sichel an mich und halte sie mir an den Hals. Das Metall fühlt sich sehr kalt an, aber nicht so, als könnte man damit etwas schneiden.

„Rühren Sie sich nicht von der Stelle. Sonst werden Sie eine Menge Spuren an meinem Körper finden.“

Er löst seine Hände, noch immer unsicher, was ich von ihm haben will.

„Geben Sie mir die Akte.“

Er packt den Ordner mit einer Hand und streckt mir den anderen Arm entgegen. „Machen Sie bitte keine Dummheiten, Sir.“

„Nur fünf Minuten. Niemand wird etwas davon erfahren.“ Im beruhigenden Tonfall meiner Stimme schwingt eine unterschwellige Drohung mit.

Die Akte an die Seite gepresst, bewegt er sich zaghaft auf mich zu. Offenbar wird er zum ersten Mal von einem nackten Häftling bedroht.

„Das ist das Mindeste, das Sie tun können, nach allem, was mein Vater für Sie getan hat“, dränge ich.

Ich habe nicht die geringste Ahnung, was mein Vater für ihn getan haben könnte. Aber auf der Beerdigung ist er immerhin gewesen.

„Fünf Minuten.“ Er schaut zur Tür und kratzt sich die halbmondförmige, plötzlich sehr rote Narbe auf seiner Wange.

Nachdrücklich nickend strecke ich die Hand aus, biete ihm die Sichel als Zeichen meiner friedlichen Absichten.

Er nimmt sie und reicht mir die Akte. Seine Hand zittert.

Vorbericht, eingereicht von Major Kiyani …

Ich schlage das Deckblatt auf. Das erste Dokument ist meine eigene Aussage. Als ich weiterblättere, fällt etwas heraus. Ich hebe ein verwackeltes Polaroidfoto vom Boden auf, das einen übel zugerichteten Propeller, ein zertrümmertes Kabinendach und eine abgerissene Tragfläche zeigt. Allem Anschein nach eine abgestürzte MF-17. Unter dem Bild steht ein Datum, der Tag, an dem Obaid sich unerlaubt entfernt hat. Einen Moment lang flimmert es vor meinen Augen. Ich lege das Bild zurück in den Ordner. Ein weiteres Formular, ein Protokoll mit Bannons Unterschrift. Profil: Unteroffizier Shigri. Worte wie aufgeweckt, persönlicher Verlust, verschlossenes Verhalten fallen mir ins Auge, dann höre ich, wie Schritte sich nähern.

„Später“, sagt der Soldat und reißt mir den Ordner aus der Hand. Ehe ich seine nächste Bewegung erahnen kann, hat er mich um die Mitte gepackt, hochgehoben und in den Reifen geschoben. Er zieht an einer Metallkette, und ich hänge zwischen Decke und Boden in der Luft.

Major Kiyanis Stimme ist heiser, und der Anblick meines friedlich an dem Reifen durch den Raum schwingenden Oberkörpers scheint ihn zu verstimmen.

„Keine Spuren, hatte ich gesagt.“ Major Kiyani geht unter mir im Kreis. Dunhill-Schwaden steigen mir in die Nase, und ich inhaliere gierig. „Von einem Picknick war nicht die Rede.“

Er nimmt das Philips-Bügeleisen und stellt sich neben meinen Kopf, sein pomadiges Haar und die buschigen Augenbrauen in einer Höhe mit meinem Gesicht. Er nähert die Spitze des Eisens meiner linken Braue. In Panik kneife ich die Augen zu. Ich rieche versengtes Haar und reiße den Kopf zurück.

„Die Leute fragen schon nach dir, Tarzan. Du solltest reden, ehe ihnen die Geduld ausgeht. Ich könnte die Wahrheit in weniger als einer Minute aus dir herausbügeln, aber dann würdest du dich nie mehr vor jemandem ausziehen wollen. Und damit könntest nicht einmal du leben.“

Er wendet sich einem anderen Soldaten zu, der ihm in den Raum gefolgt ist.

„Zieht ihm Klamotten an und bringt ihn in den VIP-Raum.“