Der Soldat, der mich aus der Folterkammer führt, befreit meine Hände, macht sich aber nicht die Mühe, die Augenbinde zu entfernen. Mit einer Hand packt er mich im Nacken, drückt mich nach unten und befördert mich mit einem Stiefeltritt in einen anderen Raum. Ich lande auf dem Gesicht, meine Zunge schmeckt Sand. Die Tür, die sich hinter mir schließt, ist klein. Ich bin erleichtert, dass ich mich nicht in der Toilette befinde, in der ich die Nacht zuvor verbracht habe. Ich versuche, den Knoten der Augenbinde zu öffnen, aber er sitzt zu fest. Also zerre ich sie herunter, und sie hängt mir um den Nacken wie die Halsbänder von Hunden armer Leute. Ich blinzle, blinzle immer wieder, sehe aber nichts. Ich reiße die Augen auf, kneife sie zusammen. Nichts. Bin ich blind geworden? Wie angewurzelt stehe ich da, habe Angst, Hände und Füße zu bewegen, Angst, mich in einem Grab zu befinden. Ich atme ein. Die Luft riecht wie eine Bettdecke, die im Monsun eine Nacht draußen gelegen hat – immerhin besser als der Gestank von gestern. Versuchsweise bewege ich meine rechte Hand, strecke den Arm aus. Kein Kontakt. Dasselbe mit der Linken. Leere. Ich bewege meine Arme nach vorn und nach hinten, dann drehe ich mich mit ausgestreckten Armen um 360 Grad, aber ich stoße nirgends an. Eine Hand vorgestreckt, gehe ich nach vorn und zähle dabei meine Schritte. Zehn, dann berührt meine Hand eine Backsteinwand. Ich ertaste die schmalen, flachen Backsteine, aus denen die Moguln diese Festung erbaut haben. Schlussfolgerung: Ich bin noch im Fort, aber in keinem der Anbauten der Armee. Ich bewege mich nach links. Zwölf Schritte, und ich stoße auf ein weiteres Beispiel mogulischen Mauerwerks. Ich klopfe dagegen, und wie zu erwarten, entlocken meine Knöchel diesem historischen Monument nur einen toten Laut.
Ich bin nicht in einem Grab. Ich habe viel Platz, ich kann atmen. Ich befinde mich in einem Verlies von luxuriösen Ausmaßen. Meine Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit, aber sehen kann ich noch immer nichts. Die Dunkelheit wird nur noch dunkler. Es ist eine steinalte Dunkelheit, geschaffen von der sadistischen Phantasie der Moguln. Die Typen haben zwar ihr Reich verloren, aber wie man Kerker baut, wussten sie. Ich gehe auf die Knie und krieche auf allen Vieren durch mein neues Domizil. Auf dem Boden ist echter Sand, darunter riesige kalte Steinplatten. Wer hier einen Tunnel graben will, müsste ein Bergbauunternehmen anheuern. Einziges Zugeständnis an die Moderne in diesem Monument architektonischer Werte aus dem 16. Jahrhundert ist der Plastikeimer, mit dem ich in einer Ecke zusammenstoße. Er ist offenbar schon lange nicht benutzt worden, aber der dumpfe Geruch, der von ihm ausgeht, macht unmissverständlich klar, dass ich keine Toilettengänge zu erwarten habe.
Ich setze mich und lehne den Rücken an die Wand. Schließe die Augen und hoffe, dass die Dunkelheit nachlässt, wie im Kino. Öffne sie wieder.
Das hier ist kein Kino. Ich kann nicht einmal imaginäre Schatten zum Appell antreten lassen.
Minuten vergehen, Stunden vergehen. Wie soll ich wissen, wie lange ich schon hier bin? Wenn ich mich nicht bewege, werde ich mein Augenlicht verlieren oder einen Teil meines Gehirns und wahrscheinlich die Beweglichkeit meiner Gliedmaßen. In Panik springe ich auf die Füße. Los geht’s, Mr. Shigri, an die Arbeit, befehle ich mir. Ich laufe eine Weile auf der Stelle, mein Körper erwärmt sich. Ich halte den Mund geschlossen und konzentriere mich darauf, durch die Nase zu atmen. Die Übung ist nicht gut gewählt. Ich merke, wie ich den Sand einatme, den ich beim Laufen vom Boden aufwirble. Ich lege die Hände in den Nacken und mache hektische Kniebeugen. Fünfhundert. Ohne Pause zu machen, springe ich in die Luft, lande mit den Händen im Sand, den Körper parallel zum Boden. Einhundert Liegestütze; ein Schweißfilm bedeckt meinen Körper und ein inneres Glühen bringt mich zum Lächeln. Als ich wieder mit dem Rücken an die Wand gelehnt dasitze, denke ich, dass Obaid wahrscheinlich einen Artikel über all das schreiben würde, ihn an Reader’s Digest schicken und damit seinen Traum, per Post einhundert Dollar zu bekommen, erfüllen würde: Aerobic für Einzelhäftlinge.
Meine kurze Laufbahn als Mann des Schwertes begann mit Übungen an einem Bettlaken. Ich hängte das Laken über die Vorhänge in meiner Stube und markierte die Stelle, an der sich in etwa der Kopf meines Gegners befinden würde, mit einem Kreis. Ich stellte mich mit dem Rücken dazu auf und versuchte ihn auf alle möglichen Arten zu treffen, über die Schulter, mit der Linken, mit Rückhandhieben. Nach einer Stunde war das Laken völlig zerfetzt und der Kreis mehr oder weniger intakt – der reinste Hohn für meine Säbelkünste.
Als sich Obaid am nächsten Tag – es war Wochenende – zum Ausgehen fertig machte, schützte ich Fieber vor. Obaid kam an mein Bett, legte mir die Hand auf die Stirn und nickte spöttisch besorgt. „Wahrscheinlich hast du bloß Kopfschmerzen“, sagte er mit enttäuschter Miene, weil er Die Kanonen von Navarone ohne mich anschauen musste.
„Ich bin kein Stadtkind wie du. Ich stamme aus den Bergen. Bei uns bekommen nur die Frauen Kopfschmerzen“, sagte ich, verärgert über meine eigene Lüge. Obaid war verblüfft. „Was weißt du denn von Frauen?“, zog er mich auf, während er seine Handgelenke mit einem kräftigen Schuss Poison besprühte. „Du weißt ja nicht einmal mehr, wie deine Mutter aussah.“ Ich zog mir das Laken über den Kopf und begann, mich nach und nach von mir selbst zu lösen.
Sobald er gegangen war, schloss ich das Zimmer ab und zog meine Ausgehuniform an: Stiefel, Schirmmütze, Säbelgurt, Scheide, das volle Programm. Von nun an würde ich jede Übung in Uniform durchführen. Keine Halbheiten, es wäre sinnlos, nicht die genauen Umstände zu simulieren. Ich nahm ein weißes Handtuch. Statt eines Kreises malte ich dieses Mal ein Oval, dann zwei kleine Kreise als Augen, eine auf den Kopf gestellte Sieben als Nase. Besonderes Vergnügen bereitete es mir, den buschigen Schnurrbart zu zeichnen. Ich hängte mein Werk über den Vorhang, legte die rechte Hand an den Griff meines Säbels und trat fünf Schritte zurück. Die Augen auf das schnurrbärtige Gesicht auf dem Handtuch gerichtet, nahm ich Haltung an. Ich zog den Säbel und zielte. Er verfehlte das Handtuch um wenige Zentimeter.
Fünf Schritte beträgt die vorgeschriebene Distanz zwischen dem Kommandanten und dem Ehrengast, der die Parade abnimmt. Daran kann niemand etwas ändern. Ich übte, den Säbel zu werfen. Ich traf und durchbohrte das Kinn, aber einen Säbel zu werfen, war einfach keine Option. Es funktioniert nicht bei einem lebenden Ziel. Wenn man es verfehlt, steht man mit leeren Händen da. Ich konnte es mir einfach nicht leisten, daneben zu werfen. Schließlich hatte ich nicht drei Würfe frei.
Ich wusste, was das Problem war. Nicht die Entfernung, nicht einmal der Umstand, dass mein Ziel sich bewegen würde. Die Schwierigkeit lag in der Säbelführung, in der Beziehung zwischen meiner Hand und dem Säbel. Sie waren zwei verschiedene Wesen. Durch Übung konnte ich zwar das Zusammenspiel von Auge und Hand verbessern, doch leider reichte das nicht aus. Mein Arm und die Waffe mussten eins werden. Meine Muskeln und Sehnen mussten mit den Molekülen verschmelzen, aus denen der Säbel bestand. Er musste zu einer Verlängerung meines Armes werden. Wie Bannon beim Messerwerfen immer gesagt hatte: Ich musste an meinem Sentiment du fer arbeiten.
Es war an der Zeit, das Gefühl für den Stahl in mir zu erwecken.
Ich nahm den Gurt ab und legte mich in Schuhen aufs Bett und begann zu starren. Starrte und starrte auf die beiden kleinen Kreise auf dem Handtuch und löste mich vollkommen. Ich hatte diese Übung selbst erfunden. Sie ist langwierig, und nur wenige besitzen die geistige Ausdauer dazu, denn sie beinhaltet einen vollständigen Verzicht auf Gedanken und eine völlige Beherrschung der Muskulatur. In jenen Ferien, als Colonel Shigri tagsüber im Koran nach Vergebung seiner Sünden suchte und abends beim Scotch seinen nächsten Einsatz in Afghanistan plante, war es mir gelungen, diese Übung zu meistern. Ich hatte damals sehr viel Zeit.
Die völlige Loslösung bahnt sich ihren Weg vom Schädel bis hinunter in meine Zehen. Ich spanne die Muskeln an, halte die Spannung und löse sie wieder, Knoten für Knoten, während der Rest meines Körpers nichts davon bemerkt. Gefühle wie Erwartung und Sehnsucht sind dabei kontraproduktiv.
Es liegt nicht an den Muskeln. Das Gefühl für den Stahl ist nur im Kopf. Der Säbel muss deinen Willen durch deine Fingerspitzen spüren.
Obaid war erstaunt, mich bei seiner Rückkehr in Uniform vorzufinden. Seinen Bericht über Die Kanonen von Navarone ignorierend, holte ich eine schwarze lederne Augenklappe aus meinen alten Exerzierstiefeln und bat ihn, sie anzulegen. Zumindest einmal stellte er keine Fragen und tat sich auch nicht mit Shigri-Witzen hervor. Selbst als ich die Vorhänge zuzog und alle Lampen bis auf eine ausschaltete, sagte er kein Wort. Erst als er die Schnalle meines Säbelgurts klappern hörte, meinte er: „Ich hoffe, du weißt, was du tust.“ Ich knipste die Tischlampe an, nahm eine Flasche weiße Stiefelwichse und tauchte meine Säbelspitze hinein. Obaid starrte mich an, als würden mir direkt vor seiner Nase Hörner wachsen, aber er war klug genug, nichts zu sagen. „Okay, Baby O. Du kannst dich bewegen, so viel du willst, aber wenn du beide Augen behalten willst, halte so still du kannst. Und ja, ich weiß, was ich tue. Heb dir deine Predigt für später auf.“
Ich knipste die Tischlampe aus, ging auf Obaid zu und stellte mich so dicht neben ihn, dass ich den Kardamom in seinem Atem riechen konnte. Er hielt das Kauen von Kardamom für gute Mundhygiene und trug immer ein paar von den grünen Kapseln bei sich. Ich trat einen, zwei, drei, vier, fünf Schritte zurück, umschloss den Säbelgriff mit der rechten Hand und hielt mit der linken die Scheide gerade und fest. Es blitzte kurz auf, als der Säbel das Mondlicht einfing, das durch einen Spalt im Vorhang fiel. So würde es auch an jenem Tag geschehen, wenn es keine Wolken gab, dachte ich. Doch was ich dachte, spielte keine Rolle. Der Befehl hatte sich von meinem Gehirn in die Sehnen meines Unterarms fortgepflanzt, die toten Moleküle des Metalls erwachten zum Leben, und mein Wille fuhr in die Spitze des Säbels, die genau in die Mitte der schwarzen ledernen Augenklappe traf. Ich steckte den Säbel zurück in die Scheide und bat Obaid, das Licht einzuschalten. Als er sich wieder zu mir umdrehte, sah ich den winzigen weißen Punkt in der Mitte der schwarzen Klappe auf seinem rechten Auge. Zufrieden entspannte ich meine Schultern. Obaid baute sich vor mir auf, hob die Augenklappe an, streckte die Zunge heraus und bot mir seine halb zerkaute Kardamomkapsel an. Eine grüne Fliege auf seiner samtig roten Zungenspitze. Ich nahm sie und steckte sie mir in den Mund, schmeckte ihren süßen Duft. Die bitteren Samen hatte er bereits gegessen. Er legte mir die Hand auf die Schulter. Ich erstarrte. Er legte seine Lippen an mein Ohr und fragte: „Wie kannst du so sicher sein?“
„Es liegt mir im Blut“, sagte ich und zog ein Taschentuch aus meiner Hose, um die Spitze meines Säbels abzuwischen. „Wenn du deinen Vater mit einem Bettlaken um den Hals an einem Deckenventilator gefunden hättest, dann wüsstest du das.“
„Wir kennen jemanden, der es herausfinden könnte“, sagte er, das Kinn auf meine Schulter gelegt. Ich spürte die Hitze seiner Wange.
„Ich traue ihm nicht. Und was sollte ich überhaupt sagen? ‚Leutnant Bannon, könnten Sie vielleicht Ihre Beziehungen spielen lassen, um Licht in den Fall des tragischen Todes von Colonel Shigri zu bringen, der vielleicht oder vielleicht auch nicht für den CIA gearbeitet hat, vielleicht oder vielleicht auch nicht Selbstmord begangen hat?‘“
„Irgendwo muss man anfangen.“
Energisch wienerte ich noch ein letztes Mal an der Säbelspitze herum, bevor ich die Waffe wieder in ihre Scheide steckte.
„Ich fange überhaupt nichts an. Ich suche hier nach einem Ende.“
Wieder legte er seine Lippen an mein Ohr. „Mitunter hat man einen toten Winkel genau in seinem Blickfeld“, flüsterte er. Sein Kardamom-Atem rauschte wie die Wellen einer süßen See in meinem Ohr.
Ich muss eingedöst sein, und als ich erwache, überfällt mich der Schreck über die völlige Dunkelheit aufs Neue. Ich spüre, wie jemand mit einem Backstein gegen meinen Hinterkopf stößt. Mein erster Gedanke ist, dass die verdammte Finsternis mir den Verstand raubt und ich mir die Gegenwart eines anderen Menschen einbilde. Ich schließe die Augen und lehne den Kopf an die gleiche Stelle an der Wand. Wieder bekomme ich einen kleinen Backsteinstoß. Ich wende mich um und fahre mit den Fingern die Fugen nach. Einer der Ziegel ragt einen Zentimeter aus der Wand. Als ich mit dem verzweifelten Wunsch, an ein Wunder zu glauben, seine Umrisse abtaste, bewegt er sich erneut. Jemand drückt von der anderen Seite dagegen. Ich lege meine Hand darauf und drückte sacht zurück. Wieder wird der Ziegel in meine Richtung gestoßen, diesmal mit mehr Kraft. Er ragt jetzt zur Hälfte aus der Wand. Ich ergreife ihn und ziehe ihn behutsam heraus, in der Hoffnung, dass jeden Augenblick Licht und Vogelgezwitscher meine Zelle durchfluten werden. Nichts geschieht. Es ist noch genauso finster, wie die Moguln es beabsichtigt haben. Ich quetsche meine Hand in die Lücke und meine Finger berühren einen weiteren Backstein. Ich stoße dagegen. Er bewegt sich. Ich versetze ihm einen kleinen Schubs, und er verschwindet. Noch immer kein Fünkchen Licht. Ich spüre, dass auf der anderen Seite jemand den Atem anhält und dann leise ausatmet. Ich höre ein Kichern, das eindeutige, vorsätzliche, kehlige Kichern eines Mannes.
Das Kichern verstummt und ein Flüstern dringt durch das Loch in der Wand; ein beiläufiges Flüstern, als wären wir zwei Höflinge in der Audienzhalle der Festung, die auf Akbar den Großen warten.
„Haben Sie Schmerzen?“, fragt mich die Stimme, als würde sie sich nach der Temperatur in meiner Zelle erkundigen.
„Nein“, sage ich. Ich weiß nicht, warum ich so emphatisch klinge, aber es ist so. „Gar keine. Und Sie?“
Das Kichern ist wieder da. Ein Irrer, den sie hier eingesperrt und vergessen haben.
„Verlegen Sie den Stein nicht. Sie müssen ihn zurückstecken, wenn ich es sage. Sie können denen alles über mich erzählen, nur das nicht.“
„Wer sind Sie?“, frage ich, ohne mir die Mühe zu machen, mein Gesicht an die Öffnung heranzubringen. Meine Stimme hallt durch den Kerker, und jäh wird die Dunkelheit lebendig, ein Schoß voller Möglichkeiten.
„Beruhigen Sie sich“, flüstert er inbrünstig zurück. „Sprechen Sie durch das Loch.“
„Warum sind Sie hier? Wie heißen Sie?“, flüstere ich, die Hälfte meines Gesichts in dem Loch.
„Ich bin nicht so dumm, Ihnen meinen Namen zu sagen. Hier wimmelt es von Spitzeln.“
Ich hoffe, dass er weiterspricht. Ich verändere meine Position und halte jetzt ein Ohr an die Öffnung. Ich warte. Nach einer langen Pause sagt er: „Aber ich kann Ihnen sagen, weshalb ich hier bin.“
Schweigend warte ich, dass er mir seine Anklage vorträgt, aber er bleibt stumm. Vielleicht muss ich ihn ermutigen.
„Ich höre“, sage ich.
„Für den Mord an General Zia“, sagt er.
Scheißzivilist, möchte ich ihm ins Gesicht schreien. Major Kiyani hat mich wohl mit Absicht in diese Luxusgruft geworfen und mir einen irren Zivilisten als Nachbarn gegeben und die Möglichkeit, mit ihm zu kommunizieren. So stellt er sich wahrscheinlich die Folter von Leuten aus guter Familie vor.
„Tatsächlich?“, zische ich in dem höhnischen Ton, für den wir Shigris berühmt sind. „Sie haben nicht gerade gute Arbeit geleistet. Vor zwei Tagen habe ich mit ihm gesprochen, und er klang sehr lebendig.“
Für einen Zivilisten ist seine Antwort ziemlich durchdacht.
„Also sind Sie sein persönlicher Gast? Was haben Sie getan, um diese Ehre zu verdienen?“
„Ich bin bei den Streitkräften. Es liegt offensichtlich ein Missverständnis vor.“
Aus seinem langen Schweigen zu schließen, ist er beeindruckt.
„Sie lügen mich auch nicht an?“, sagt er, halb fragend, halb erstaunt.
„Ich bin noch in Uniform“, erkläre ich. Das ist eine Feststellung, es klingt aber wie ein Versuch, mich selbst zu beruhigen.
„Legen Sie Ihr Gesicht an das Loch. Ich will Sie sehen.“
Ich gehorche und flüstere aufgeregt: „Haben Sie Licht?“ Wenn er ein Feuerzeug hat, hat er vielleicht auch eine Zigarette.
Ich bin wie betäubt, als der Speichel mich ins Auge trifft, zu verblüfft sogar, um zurückzuspucken. Als ich endlich „Was zum Teufel …?“ herausbringe, hat er den Backstein bereits wieder in die Öffnung gefügt, und ich bleibe, mein Auge reibend und mir wie ein Idiot vorkommend, zurück. Ich bin von jemandem angespuckt worden, von dem ich weder den Namen noch das Gesicht kenne.
Was habe ich gesagt? Wütend stehe ich auf und gehe in meiner Zelle auf und ab. Meine Füße wissen bereits, wann sie innehalten und kehrtmachen müssen. Ich versuche mich zu erinnern, was ich als Letztes zu ihm gesagt habe. Eigentlich doch nur, dass ich noch in Uniform bin. Ich dachte immer, Zivilisten mögen unsere Uniformen. Es gibt Lieder im Radio und Serien im Fernsehen und Sonderausgaben von Zeitungen, die diese Uniform feiern. Da draußen gibt es Hunderttausende von Frauen, die nur darauf warten, einem Mann in Uniform ihre Telefonnummer zu geben. Mein Nachbar, dieser Zivilist, leidet wahrscheinlich unter unbezähmbarer Eifersucht.
Woher zum Teufel soll ich mich mit Zivilisten auskennen und ahnen, was in ihren Köpfen vorgeht? Was ich über sie weiß, weiß ich aus dem Fernsehen und aus Zeitungen. Im staatlichen pakistanischen Fernsehen singen sie unentwegt unser Loblied. Die einzige Zeitung, die wir an der Akademie zu Gesicht bekommen, ist die Pakistan Times, die jeden Tag, den Gott werden lässt, ein Dutzend Bilder von General Zia bringt, und die einzigen Zivilisten, die darin auftauchen, sind die, die Schlange stehen, um ihm ihre Hochachtung zu erweisen. Von Irren, die Soldaten anspucken, schreiben sie nie etwas.
Ich höre die Backsteine gegeneinanderschaben, dann ein leises Pfeifen aus dem Loch in der Wand, und überlege, ob ich meinen Ziegel wieder einfügen und mein Alleinsein in Einsamkeit verwandeln soll, um es mit Obaids Worten zu sagen. Doch mein Nachbar ist in redseliger Stimmung. Ich lege mein Ohr an den Rand der Öffnung, achte aber darauf, dass kein Teil meines Gesichts in seiner Schusslinie ist.
„Wollen Sie sich entschuldigen?“, flüstert er. Offenbar will er mich auf den Arm nehmen.
„Für was?“, frage ich lässig, ohne mein Gesicht an das Loch in der Wand zu halten oder meine Stimme zu senken.
„Pscht! Sie bringen uns um Kopf und Kragen“, zischt er erbost. „Ihr habt mich hierhergebracht.“
„Wer ist ‚ihr‘?“
„Die Khakis. Die Armee.“
„Aber ich bin bei der Luftwaffe“, sage ich und treibe einen Keil zwischen die Vereinigten Streitkräfte der Nation.
„Was ist der Unterschied? Habt ihr vielleicht Flügel? Oder mehr Mut?“
Ich beschließe, seine Sticheleien zu ignorieren und mich um ein richtiges Gespräch mit ihm zu bemühen. Er soll die Gelegenheit haben, mir zu beweisen, dass er kein totaler Zivilistenidiot ist, bevor ich ihm den Ziegel vor der Nase zuknalle.
„Wann hat man Sie eingelocht?“
„Zwei Tage, bevor ihr Premierminister Bhutto aufgehängt habt.“
Ich ignoriere seinen Versuch, mich in ein Verbrechen hineinzuziehen, das ich eindeutig nicht begangen habe.
„Was haben Sie gemacht?“
„Haben Sie schon mal von der Vereinigten Pakistanischen Straßenfegergewerkschaft gehört?“ An dem Stolz in seiner Stimme erkenne ich, dass er denkt, jeder müsste davon gehört haben, aber ich habe keine Ahnung, denn ich interessiere mich nicht im Geringsten für die Belange seines Berufsstandes, wenn man das Reinigen von Rinnsteinen überhaupt einen Beruf nennen kann.
„Natürlich. Das ist die Gesellschaft, die auch die Pförtner und Hausmeister vertritt.“
„Ich bin ihr Generalsekretär“, sagt er in einem Brustton, als würde dies alles erklären – von der Mogularchitektur seines Verlieses bis hin zu seinem irrationalen Hass auf Landsleute in Uniform.
„Und was haben Sie wirklich verbrochen? Die Gosse nicht ordentlich gefegt?“
Er ignoriert meinen Scherz. „Man hat mich einer Verschwörung zur Ermordung General Zias angeklagt“, verkündet er feierlich.
Dann sind wir ja schon zu zweit, liegt es mir auf der Zunge, aber ich kann ihm nicht trauen. Was, wenn er ein Maulwurf von Major Kiyani ist, der den Auftrag hat, mein Vertrauen zu gewinnen? Andererseits hätte bestimmt keiner von Kiyanis Männern die Phantasie oder den Schneid, ein Mitglied der Straßenfegergewerkschaft zu spielen.
„Und? Sind Sie ein Verschwörer? Wie wollten Sie die Sache angehen?“
„Unser Zentralkomitee hatte General Zia dazu eingeladen, die Woche der Nationalen Sauberkeit zu eröffnen. Ich war gegen diese Einladung, weil sein Coup d’ État ein historischer Rückschlag für den Kampf der Arbeiter gegen die nationalistische Bourgeoisie war. Es steht alles in den Akten. Sie können meine Einwände bei der Versammlung auf die Minute genau nachlesen. Der Geheimdienst hat unsere Gewerkschaft infiltriert, und unsere maoistischen Genossen haben uns verraten. Sie haben ein paralleles Zentralkomitee gegründet und General Zia eingeladen. Seine Sicherheitsbeauftragten entdeckten eine Bombe in dem Rinnstein, den er kehren sollte, um die Nationale Sauberkeitswoche zu eröffnen. Sehen Sie, wie diese Militärgehirne arbeiten? Ich war dagegen, ihn einzuladen! Ich wollte nicht, dass er auch nur in die Nähe unserer Rinnsteine kommt! Und wer war der Erste, den Ihre Leute verhaftet haben? Ich.“
„Ihr habt also eine Bombe gelegt?“, frage ich.
„Jedes Mitglied der Straßenfegergewerkschaft glaubt an den politischen Kampf“, schließt er großspurig das Thema ab.
Eine Weile schweigen wir, und irgendwie kommt es mir jetzt noch dunkler vor.
„Aber warum sollte jemand ihn umbringen wollen?“, frage ich. „Ich glaube, er ist sehr beliebt. Ich habe sein Bild auf Lastwagen und Bussen gesehen.“
„Euer Problem ist, dass ihr angefangen habt, euren eigenen Quatsch zu glauben.“
Ich gebe ihm keine Antwort. Mir ist klar, dass er ein dämlicher Zivilist ist, aber einem wie ihm bin ich noch nie begegnet. Er kichert und sagt jetzt in wehmütigem Ton: „Wissen Sie, was die vor dem Schulterschluss mit den Maoisten versucht haben?“
„Nein.“ Ich habe es satt, so zu tun, als wüsste ich Dinge, von denen ich in Wahrheit keine Ahnung habe.
„Sie wollten Mullahs bei uns einschleusen, wie in alle anderen Gewerkschaften. Sie haben sogar probiert, die Sauberkeitswoche dafür zu missbrauchen. Mit dem Motto: Reinlichkeit ist schon der halbe Glaube.“ Er fängt an, verächtlich zu lachen.
„Na und?“ Wo soll da der Witz sein? Dieser Spruch steht in der Hälfte aller öffentlichen Toiletten in Pakistan. Interessiert doch keinen. Aber lustig findet es auch niemand.
„Alle Putzleute sind entweder Hindus oder Christen. Und ihr dachtet, ihr könntet eure gekauften Mullahs einschleusen und unsere Gewerkschaft stürzen.“
Nicht zu fassen, die Bärte haben versucht, die Reihen der nationalen Straßenfegergemeinschaft zu unterwandern! Zugegeben – wirklich keine sonderlich brillante Idee.
„Aber ich sage Ihnen, was ich niemals öffentlich sagen würde“, flüstert er nun eindringlich. „Die Maoisten sind wahrscheinlich schlimmer als die Mullahs.“
„Ich weiß, Sie sind der Generalsekretär, aber glauben Sie wirklich, dass Zia und seine Generäle rumsitzen und darüber nachdenken, wie sie die Macht der Straßenkehrer brechen können? Dafür sind Sie doch viel zu intelligent.“
Vielleicht ist es mein gönnerhafter Ton, der ihn zum Schweigen bringt. Dem folgt ein Wutausbruch.
„Sie sind ein Angehöriger der reaktionären Bourgeoisie, die die Dialektik unserer Geschichte nie verstanden hat. Ich war so nahe dran, die Regierung zu stürzen.“
Ich wünschte, ich könnte ihn sehen. Plötzlich erscheint er mir alt und verschroben, voll von Ideen, die ich nicht verstehe.
„Wir riefen einen Streik aus. Wissen Sie noch – der große Streik der Straßenfegergewerkschaft von 1979? Nein, natürlich nicht. Den Putzleuten in Ihrem Cantonment ist es nicht gestattet, in die Gewerkschaft einzutreten. Innerhalb von drei Tagen lag der Abfall bergeweise herum, die Gullis waren verstopft und Ihre bürgerlichen Verwandten mussten ihren Abfall selbst auf die Müllkippe bringen.“
Ich würde ihn gern unterbrechen und fragen, was denn so anders ist, wenn die Straßenkehrer nicht streiken, aber ich höre ein Geräusch an der Tür zu meinem Verlies.
Überraschend schnell und präzise füge ich den Ziegel wieder ein. Ich bereite mich darauf vor, dieses schwarze Loch zu verlassen, bin überzeugt, dass Major Kiyanis Spielchen beendet ist. Er mag General Akhtars persönlicher Liebling sein, aber so lang kann seine Leine doch nicht sein. Ich freue mich darauf, mir die Zähne putzen, eine frische Uniform anziehen und vor allem wieder in die Sonne schauen zu können.
Das einzige Licht, das ich zu sehen bekomme, ist der helle Strahl, der mich kurz blendet, als die Tür einen Spalt aufgeht. Das Einzige, was ich sonst noch sehe, ist eine Hand, die einen Teller aus rostfreiem Stahl in meine Zelle schiebt. Noch bevor ich aufstehen, die Person hinter der Tür grüßen und sie als Geisel nehmen oder um eine Zigarette anschnorren kann, ist die Tür wieder zu und der Raum dunkel. Es riecht nach einer heißen Mahlzeit.
Du sehnst dich nach Freiheit, und was geben sie dir?
Chicken Korma.