Vierzehn

General Zia ul-Haq nahm die Kopie eines Ausschnitts aus der New York Times vom Stapel seiner Morgenzeitungen und seufzte. Da war sie wieder: die Blinde Zainab, Kopf und Gesicht von einem weißen Dupatta umhüllt, die Augen hinter einer billigen Plastiksonnenbrille verborgen. Er wusste, dass sie es war, noch bevor er die Schlagzeile las: Blinde Justizia im Land der Reinen.

Jeder Morgen war unerträglich, seit die First Lady ihm nicht mehr das Frühstück servierte. Zuvor hatte er wenigstens seiner Verdrossenheit über die täglichen Schlagzeilen Luft machen können, indem er sie anschrie. Doch wenn er dieser Tage ganz allein an dem Esstisch für vierundzwanzig Personen saß, kam er sich vor wie ein Bibliothekar in der Hölle.

Er nahm eine Zeitung zur Hand, unterstrich die schlechten Nachrichten, kreiste die guten ein, stach mit dem Stift in die Fotos der Oppositionsführer und warf die Zeitung dann einem Diener zu, der furchtsam in der Ecke lauerte und verzweifelt hoffte, dass zumindest einige der Nachrichten gut wären.

Was war mit der westlichen Presse los? Warum waren diese Leute so besessen von Sex und Frauen? Dies war nun der dritte Artikel über die Blinde Zainab in der internationalen Presse. Ein simpler Fall von illegalem Geschlechtsverkehr war zu einem internationalen Problem geworden. General Zia fragte sich warum. Vielleicht weil die Frau blind war, denn besonders ansehnlich war sie nicht. Typisch Amerika. Unzucht mit blinden Frauen kam bei denen natürlich in die Schlagzeilen. Diese Perverslinge.

General Zia erinnerte sich noch gut an den Reporter von der New York Times, der ihn interviewt hatte. Er hatte ihm geschmeichelt: In der gesamten muslimischen Welt sei er noch nie einem so gebildeten Staatsmann begegnet. General Zia hatte zwei Stunden mit ihm gesprochen, ihm einen kleinen persischen Teppich geschenkt und ihn anschließend bis auf die Veranda hinausbegleitet. Der Reporter hatte sich nach der Blinden erkundigt. General Zia hatte ihm seine Standardantwort gegeben: „Die Sache liegt beim Gericht. Würden Sie den Präsidenten der Vereinigten Staaten nach einem Kriminalfall fragen, der vor einem amerikanischen Gericht verhandelt wird?“

Er sah sich das Bild noch einmal an. Er hatte nie so recht geglaubt, dass die Frau wirklich blind war. Wie sollte eine Blinde es schaffen, ihr Foto auf die erste Seite einer amerikanischen Zeitschrift zu bringen? Er schob seine Lesebrille zurecht und las den Artikel gründlich durch. Er war nicht nur negativ. Er beschrieb General Zia als „lächelnden Diktator“, „einen Mann mit tadellosen Manieren“, „einen Mann, der sich über sich selbst lustig macht“, „einen Mann, der sich offen und ehrlich in fließendem Englisch äußerte, sich jedoch weigerte, über den Fall der Blinden zu sprechen“. Seine Erleichterung hielt indessen nicht lange an. Kaum hatte er den Artikel beiseitegelegt, stieß er auf einen weiteren Ausschnitt aus der New York Times: zwei Spalten, die die Überschrift Blinde Justiz trugen. Negative Leitartikel in amerikanischen Zeitungen bedeuteten, dass ihre Besitzer – vermutlich auf Geheiß der Regierung in Washington – hinter dir her waren. Er unterstrich die Worte barbarisch, verschlagener Diktator, der fundamentalistische Freund unserer Regierung, der sein Land schonungslos in die Vergangenheit zurückkatapultiert. Mit jedem Wort, das er unterstrich, stieg sein Blutdruck. Sein linkes Auge zuckte. Er suchte im Impressum nach dem Herausgeber und unterstrich den Namen Arthur Sulzberger. Dann hob er den Telefonhörer ab und rief seinen Informationsminister an, der das Interview organisiert und nach dem Witwenfiasko damit seinen Posten gerettet hatte.

„Was ist Sulzberger für ein Name?“, fragte Zia, ohne die übliche Begrüßung (Wie geht es Ihnen? Und Ihrer Frau und den Kindern?).

Der Informationsminister war überrumpelt. „Entschuldigen Sie meine Unwissenheit, Sir, aber ich habe diesen Namen noch nie gehört.“

„Habe ich Sie gefragt, ob Sie den Mann kennen? Alles, was ich wissen will, ist, was das für ein Name ist. Ist der Mann Christ, Jude oder Hindu?“

„Ich weiß nicht genau, Sir. Er klingt deutsch.“

„Es heißt, einige Zeitungen nennen Sie den Desinformationsminister. Sie sollten diesen Titel weniger ernst nehmen. Finden Sie es heraus und setzen Sie mich noch vor dem Abendgebet in Kenntnis.“ Er knallte den Hörer auf.

Die erste Anlaufstelle des Informationsministers war sein eigenes Überwachungsbüro, das Dateien über alle Korrespondenten, Redakteure und Verleger führte. Doch auch seine Leute hatten den Namen noch nie gehört. Als Nächstes rief er einen Lokalreporter an, der ihm viele Male seine Visitenkarte der New York Times gezeigt hatte. Es stellte sich jedoch heraus, dass der Mann als freier Mitarbeiter für den regionalen freien Mitarbeiter der NYT tätig war und den Namen ebenfalls noch nie gehört hatte.

Zögernd, sehr zögernd, leitete der Informationsminister die Frage an die Nachrichtenzelle des Inter Services Intelligence weiter. Er wusste, der Vorgang würde General Zia hinterbracht werden, der ihn fragen würde, wieso das Land einen Informationsminister brauche, wenn die Geheimdienste seine ganze Schmutzarbeit machen müssten.

Als der ISI ihm am Nachmittag höflich mitteilte, dass man nichts über Arthur Sulzberger habe, machte der Informationsminister seiner Enttäuschung Luft, indem er zwei lokalen Filmzeitschriften die Veröffentlichungsgenehmigung entzog. Dann hatte er einen Geistesblitz: Die New York Times war in New York. Er schlug sich gegen die Stirn und rief den pakistanischen Presseattaché in New York an, der ihm zwar direkt keine Antwort geben konnte, aber zuversichtlich war, in einer halben Stunde etwas herausfinden zu können, da er über ausgezeichnete Kontakte zur Lokalredaktion der New York Times verfüge. Der Presseattaché rief einen hilfsbereiten pakistanischen Taxifahrer an, von dem er wusste, dass er jedes Wort in allen Zeitungen las, und der ihn stets über alle Ereignisse in Pakistan auf dem Laufenden hielt.

„Sulzberger?“, schrie der Mann in Manhattan in sein Taxitelefon und überfuhr eine rote Ampel. „Sulzberger … dieser Jude!“

Die Information nahm ihren Weg von seinem Taxi zum pakistanischen Konsulat in New York, erreichte von dort über einen sicheren Fernschreiber das Informationsministerium in Islamabad, und fünf Minuten vor Ablauf des Ultimatums erhielt der Minister eine Notiz mit dem Vermerk „geheim“.

Der Besitzer der New York Times war Jude.

General Zia vernahm es mit einer gewissen Erleichterung. Er fühlte es im Gedärm, wenn er recht hatte. „Worauf warten Sie noch?“, schrie er den Informationsminister an. „Geben Sie eine Pressemitteilung heraus, dass das ganze Theater um diese Blinde jüdische Propaganda ist. Und bei unserem nächsten Amerikabesuch laden Sie diesen Sulzberger zum Lunch ein und nehmen einen großen persischen Teppich für ihn mit.“

Nach all der Aufregung hatte der Informationsminister nicht mehr die Kraft, General Zia zu sagen, dass er die Pressemitteilung über die jüdische Propaganda bereits am Morgen herausgegeben hatte. Negative Berichterstattung über General Zia wurde von seinem Büro routinemäßig zurückgewiesen. Hierfür gab es zwei Kategorien: jüdische und hinduistische Propaganda. Und da die Artikel aus der New York Times stammten, hatte man sie schwerlich unter hinduistischer Propaganda ablegen können.

General Zia wusste, dass Arnold Raphel ihm nicht helfen würde, aber er rief ihn dennoch an. Der Botschafter hatte das Interview natürlich gelesen.

„Ein paar nette Zitate“, sagte er, bemüht, General Zia aufzumuntern.

„Der Leitartikel“, sagte der General und machte eine Pause. „Der Leitartikel ist sehr unglücklich. Persönliche Beleidigungen machen mir nichts aus, aber jemand will unsere Freundschaft untergraben. Die gute Arbeit schlechtmachen, die wir gemeinsam geleistet haben.“

„Das liegt wahrscheinlich nur an ein paar liberalen Kolumnisten und einem Nachrichtenloch, Herr Präsident. Ich würde mir nicht allzu große Sorgen machen.“

„Aber so etwas könnte unsere Chancen auf den Nobelpreis gefährden. Wissen Sie, ich hatte gehofft, wir würden ihn gemeinsam erhalten.“ Sprachlose Stille am anderen Ende der Leitung. „Für unsere Befreiung Afghanistans“, fügte er hinzu und fand, dass dieser Arnie tatsächlich nicht besonders helle war.

„Wir können auf der Party darüber sprechen, Herr Präsident. Ich hoffe, Sie können kommen?“

Als am nächsten Tag schon wieder eine Gruppe junger Frauen in Islamabad gegen die Verhaftung der Blinden Zainab demonstrierte, begriff General Zia, dass er das Problem nicht lösen würde, indem er die jüdische Presse beschuldigte und mit dem US-Botschafter sprach. „Alles reiche Begams“, erklärte ihm der Informationsminister. „Mehr Chauffeure als Demonstrantinnen.“

Sooft General Zia ein juristisches Problem hatte, griff er zum Telefon und rief einen neunzigjährigen Qadi in Mekka an, der vor dreißig Jahren als Richter des saudischen Scharia-Gerichtshofs in den Ruhestand gegangen war und seither kein Gebet in der Khana Kaaba versäumt hatte. Der Mann lebte praktisch im Haus Gottes.

Der Anruf begann wie immer damit, dass der General die Sehnsucht äußerte, auf einer Pilgerreise nach Mekka zu sterben und zu Füßen des Qadi begraben zu werden. Der alte Qadi versicherte, dass Allah ihm seinen Wunsch gewähren würde, und fragte ihn nach dem Grund seines Anrufs.

„Mit Ihrem Segen habe ich die neuen Gesetze in Pakistan eingeführt, und durch die Gnade Allahs wurden bereits Hunderte von Sündern verurteilt: Wir haben zweihundert Diebe, die darauf warten, dass man ihnen die Hände abhackt, und Tausende von Trunkenbolden wurden bereits öffentlich ausgepeitscht.“

„Allah sei mit Ihnen, Allah sei mit Ihnen“, murmelte der Qadi.

„Wir haben gerade ein Steinigungsurteil gefällt, und deshalb rufe ich an.“ General Zia wollte Zainabs Namen nicht nennen.

„Wahrlich eine Prüfung, mein Bruder, eine wahrhafte Prüfung.“ Die Stimme des neunzigjährigen Qadi dröhnte plötzlich durch das Telefon. „Unsere Herrscher hier im Saudi-Königreich, möge ihre Herrschaft bis zum Tag des Jüngsten Gerichts andauern, haben nicht den Mut dazu. Sie machen es leicht für die Augen aller. Hacken, hacken nach dem Freitagsgebet, und alle gehen fröhlich nach Hause. Sie schlagen nicht nur den Verbrechern den Kopf ab, sie töten auch den Geist des Gesetzes. Ehebruch ist ein Verbrechen gegen die Gesellschaft, und daher muss das Volk die Bestrafung selbst ausführen. Man kann seine Pflicht nicht an einen bezahlten Henker weitergeben und glauben, Allahs Werk getan zu haben.“

„Ja, Qadi, ich brauche Ihren Rat in folgender Angelegenheit: Was geschieht, wenn die Angeklagte sagt, man habe sie zur Unzucht gezwungen? Wie können wir feststellen, ob sie die Wahrheit sagt? Mitunter kann man es einer Frau ansehen, ob sie unzüchtig ist, aber in diesem Fall brauchen wir eine vor dem Gesetz gültige Vorgehensweise, um es festzustellen.“

Der Qadi sprach, als hätte er über dieses Problem bereits länger nachgedacht. „Frauen, die man der Unzucht überführt hat, gebrauchen häufig diese Ausrede, aber wie wir alle wissen, ist eine Vergewaltigung nicht leicht zu vollziehen. Der Täter braucht mindestens vier Komplizen. Zwei Männer müssen ihre Arme festhalten, zwei ihre Beine, damit der fünfte zwischen selbigen die Tat begehen kann. Mithin lautet die Antwort: Ja, eine Frau kann vergewaltigt werden, und das ist ein schweres Verbrechen.“

„Das heißt, es wird von der Frau verlangt, dass sie die fünf Schuldigen vor Gericht identifiziert?“, fragte Zia.

„Unser Gesetz ist nicht in Stein gemeißelt, es regt uns dazu an, unseren Verstand zu benutzen. Möglicherweise kann die Frau die beiden Männer, die ihre Arme festhalten, nicht erkennen, und der Richter vermag hier eine Ausnahme zu machen.“

„Und wenn sie keinen der Täter gesehen hat? Was, wenn sie Masken getragen haben?“

General Zia merkte, dass der alte Mann ärgerlich wurde.

„Warum sollte ein Vergewaltiger eine Maske tragen? Ist er ein Bankräuber? Bankräuber tragen Masken. Entführer tragen Masken. In meinen vierzig Jahren als Richter habe ich noch nie von einem Vergewaltiger mit einer Maske gehört.“

General Zia kam sich dumm vor, während der Qadi nun kalt und in tadelndem, schulmeisterlichem Ton fortfuhr: „Vergewaltiger wollen ihr Spiegelbild in den Augen der Frau sehen. Aus diesem Grund tragen sie nie Masken“, erklärte er.

„Und wenn die betreffende Frau blind ist?“

Der Qadi verstand offensichtlich nicht, worauf General Zia hinauswollte. „Meinen Sie moralisch blind oder eine Person, der Allah die physische Fähigkeit des Sehens nicht gewährt hat?“

„Blind. Eine Frau, die nicht sehen kann.“

„Das Gesetz unterscheidet nicht zwischen denen, die sehen können, und jenen, die es nicht können. Lassen Sie uns um des juristischen Disputes willen annehmen, in diesem Fall sei der Vergewaltiger blind. Stünde ihm etwa eine Sonderbehandlung zu? Ebenso hat auch das Opfer, blind oder nicht, Anspruch auf die gleiche Untersuchung, die gleichen Rechte.“

„Wie kann sie den Vergewaltiger und die Leute, die sie festhielten, benennen?“

„Das kann auf zweierlei Arten geschehen: Ist sie verheiratet, muss ihr Ehemann vor Gericht bestätigen, dass sie einen guten Charakter hat, und dann brauchen wir vier Muslime von standfestem Charakter, die Zeugen des Verbrechens geworden sind. Da eine Vergewaltigung ein schweres Verbrechen ist, reichen Indizien nicht aus. ‚Wir hörten Schreie, sahen Blut und wir hörten, wie der Mann sie schlug‘ reicht als Beweis nicht aus. Von den Zeugen wird verlangt, dass sie die tatsächliche Penetration mit angesehen haben. Falls aber die Frau nicht verheiratet ist, muss sie beweisen, dass sie Jungfrau war, bevor das schreckliche Verbrechen verübt wurde.“

Gegen Abend fühlte General Zia sich bereits viel besser. Er hatte den Rat des Qadi bereits an seinen Obersten Richter weitergegeben und verfasste nun im Geiste eine Ansprache, die die First Lady auf dem alljährlichen Wohltätigkeitsbasar des Vereinigten Verbandes der Berufstätigen Frauen Pakistans halten sollte. Nachdem er sie an ihr Versprechen, ihre öffentlichen Pflichten wahrzunehmen, erinnert hatte, probierte er einige seiner Argumente an ihr aus. Die First Lady hörte ihm zuerst schweigend zu, aber als er erklärte, dass das Opfer seine Jungfräulichkeit nachzuweisen habe, unterbrach sie ihn: „Sprichst du vom Fall der Blinden Zainab?“

„Im Grunde ja, aber eigentlich wollen wir einen juristischen Präzedenzfall schaffen, der die Ehre der Frauen schützt. Die Ehre aller Frauen.“

„Ich verstehe nichts von Gesetzen und ich halte diese Ansprache, wenn das Gesetz so lautet.“ Die First Lady schob ihren Teller von sich. „Aber wie soll die Frau beweisen, dass sie Jungfrau ist, nachdem ein Haufen Männer drei Tage und drei Nächte über sie hergefallen ist?“